Hans Christian Andersen

Nun kam seine Mutter, die fortgewesen war, heim und nahm ihm die kleine Gustave ab. Tuk lief ans Fenster und las, dass er sich fast die Augen ausgelesen hätte; denn es war schon am Dunkelwerden und die Nacht rückte näher und näher. Aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.

„Dort geht die alte Waschfrau aus der Gasse drüben“ sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster sah. „Sie kann sich kaum selbst schleppen und muss doch den Eimer vom Brunnen tragen. Spring Du hinaus, kleiner Tuk, sei ein braver Junge und hilf der alten Frau!“

Tuk sprang gleich hinaus und half. Als er jedoch wieder nachhause kam, war es ganz dunkel geworden; von Licht war keine Rede und er sollte ins Bett. Das war eine alte Schlafbank. Darauf lag er nun und dachte an seine Geographieaufgabe, an Seeland und an alles, was der Lehrer erzählt hatte. Er hätte es freilich lernen müssen, aber das konnte er ja nun nicht. Da steckte er das Geographiebuch unter das Kopfkissen, denn er hatte gehört, dass dies das Behalten seiner Aufgabe bedeutend erleichtern solle. Doch darauf ist kein Verlass.

Da lag er nun und dachte und dachte, und da war es ihm auf einmal, als ob jemand ihn auf Augen und Mund küsse. Er schlief und schlief doch wieder nicht. Ihm war, als sehe er der alten Waschfrau freundliche Augen auf sich niederschauen, und sie sagte: „Es wäre eine große Schande, wenn Du Deine Aufgabe nicht könntest. Du hast mir geholfen, nun werde ich Dir helfen, und der liebe Gott wird es immer tun.“

Und auf einmal kribbelte und krabbelte das Buch unter dem Kopfe des kleinen Tuk.

„Kikeriki put, put.“ Das war ein Huhn, das hereinspazierte; es kam aus der Stadt Kjöge. „Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge.“ Und dann nannte es die Anzahl der Einwohner und sprach von der Schlacht, die dort geschlagen worden sei, aber das wäre nichts besonderes.

„Kribbel, krabbe!, bums“ da fiel einer. Es war ein Vogel aus Holz, der nun heranmarschierte. Das war der Papagei vom Vogelschießen in Praestö. Er sagte, es wären dort so viele Einwohner, wie er Nägel im Leibe habe; und dann war er auch etwas stolz darauf, dass Torwaldsen an der Ecke bei ihm gewohnt habe. „Bums, ich liege herrlich!“

Aber der kleine Tuk lag nicht. Er saß auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit leuchtendem Helm und wehendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde. Sie ritten durch den Wald zu der alten Stadt Vordingborg. Das war eine große Stadt voller Leben. Hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter glänzten weit durch die Fenster hinaus. Drinnen war Gesang und Tanz. König Waldemar schritt zum Tanze und mit ihm die geputzten jungen Hofdamen. – Es wurde Morgen, und sobald die Sonne aufging, versank die Stadt und des Königs Schloss; ein Turm nach dem anderen verschwand, zuletzt stand nur noch ein einziger auf der Höhe, wo das Schloss gestanden hatte, und die Stadt war klein und ärmlich geworden. Und es kamen Schuljungen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: „Zweitausend Einwohner.“ Aber das stimmte nicht, so viele waren es nicht.

Und der kleine Tuk lag in seinem Bett; ihm war, als ob er träumte und doch nicht träumte. Aber jemand stand ganz dicht bei ihm.

„Kleiner Tuk! Kleiner Tuk!“ sagte es. Es war ein Seemann, eine ganz kleine Person, als sei er nur ein Kadett; aber es war kein Kadett. „Ich soll Dich vielmals grüßen von Korsör; das ist eine Stadt, die im Aufblühen ist, eine lebhafte Stadt, die Dampfschiffe und Postwagen hat. Früher hatte sie den Ruf, hässlich zu sein, aber das ist eine veraltete Meinung. – Ich liege am Meere, sagt Korsör; ich habe Landstraßen und Lusthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der lustig ist; das sind nicht alle. Ich habe ein Schiff rings um die Welt fahren lassen wollen; ich tat es dann zwar nicht, hätte es aber tun können. Und dann rieche ich so herrlich; dicht am Tore blühen die schönsten Rosen!“

Der kleine Tuk sah sie, es wurde ihm rot und grün vor Augen; aber als wieder Ruhe in das Farbengewirr kam, war es ein waldbewachsener Abhang dicht am klaren Meerbusen. Oben darüber lag eine prächtige, alte Kirche mit zwei hohen, spitzen Kirchtürmen. Von dem Abhange sprudelten Quellen in dicken Wasserstrahlen herab und plätscherten lustig. Dicht dabei saß ein alter König mit einer goldenen Krone auf dem langen Haar; das war König Hroar bei den Quellen. Es war die Stadt Roselinde, wie man sie nun heißt. Und über den Abhang hin in die alte Kirche hinein schritten alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit ihren goldenen Kronen auf dem Kopfe, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah alles und hörte alles. „Vergiss nicht die Stände!“ sagte König Hroar.

Mit einem Male war alles wieder verschwunden; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt im Buche umwendet. Und nun stand eine alte Frau da; das war eine Jäterin, die aus Sorö kam, wo das Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Linnen Schürze über Kopf und Rücken hängen, die war so nass; es musste geregnet haben. „Ja, das hat es“ sagte sie, und dann erzählte sie allerlei Lustiges aus Holbergs Komödien und wusste auch etwas über Waldemar und Absalon. Plötzlich aber schrumpfte sie zusammen, wackelte mit dem Kopfe und tat, als ob sie springen wolle: „Koax!“ sagte sie; „es ist nass, es ist nass, man schläft gut und still wie im Grabe in Sorö!“ Mit einem Male war sie ein Frosch, „koax“ und dann war sie wieder die alte Frau. „Man muss sich nach dem Wetter kleiden!“ sagte sie. „Es ist nass, es ist nass. Meine Stadt ist grade wie eine Flasche; man muss beim Pfropfen hinein, und da muss man auch wieder heraus! Früher habe ich Fische im Grund meiner Flasche gehabt; jetzt habe ich rotbäckige Knaben da. Bei mir lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Hebräisch! Koax!“ Es klang gerade wie Froschgequak, oder wenn man mit großen Stiefeln in einem Sumpf geht. Es war immer derselbe Ton, so einförmig, so langweilig, so furchtbar langweilig, dass der kleine Tuk in einen tiefen Schlaf fiel, und der tat ihm not.

Aber auch in diesen Schlaf schlich sich ein Traum, oder was es sonst war. Seine kleine Schwester Gustave mit den blauen Augen und dem blonden, lockigen Haar war auf einmal ein erwachsenes, schönes Mädchen und konnte, ohne Schwingen zu haben, fliegen. Und sie flogen über das ganze Seeland, über die grünen Wälder und das blaue Wasser dahin.

Hörst Du den Hahnenschrei, kleiner Tuk? Kikeriki. Die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf. Du bekommst einen Hühnerhof, so groß, so groß! Du wirst nicht Hunger, nicht Not leiden! Den Vogel sollst Du abschießen, wie man so sagt. Du wirst ein reicher und glücklicher Mann. Dein Haus soll prangen wie König Waldemars Turm, und reich wird er gebaut werden, mit Statuen aus Marmor, wie die von der Ecke in Prästö, Du verstehst mich wohl. Dein Name wird voller Ruhm durch die Welt fliegen, wie das Schiff, das von Korsör hätte ausgehen sollen, und in Roselinde – „Denk an die Stände!“ sagte König Hroar – da wirst Du gut und klug reden, kleiner Tuk! Und wenn Du dann einmal in Dein Grab kommst, dann wirst Du so stille schlafen“, „als läge ich in Sorö!“ sagte Tuk, und dann erwachte er. Es war heller Morgen, und er konnte sich nicht im mindesten mehr auf seinen Traum besinnen; aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was die Zukunft bringen wird.

Und er sprang aus dem Bette und las in seinem Buche, da konnte er seine Aufgabe sogleich. Und die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Türe herein, nickte ihm zu und sagte:

„Schönen Dank für Deine Hilfe gestern, du gutes Kind. Der liebe Gott lasse Deinen schönsten Traum in Erfüllung gehen!“

Der kleine Tuk wusste gar nicht mehr, was er geträumt hatte, aber sieh, der liebe Gott wusste es.

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