Hans-Christian Andersen

In der ganzen Welt gibt es niemand, der so viele Geschichten weiß, wie der Sandmann. Er versteht das Erzählen!

Gegen Abend, wenn die Kinder noch hübsch artig am Tisch oder auf ihrer Hutsche sitzen, kommt der Sandmann. Er kommt leise die Treppe herauf, denn er geht auf Socken; ganz leise öffnet er die Türe und husch! wirft er den Kindern feinen Sand in die Augen, so fein, so fein, aber doch immer genug, dass sie nicht länger die Augen aufzuhalten vermögen. Deshalb sind sie auch nicht im Stande, ihn zu sehen. Er schlüpft gerade hinter sie, bläst ihnen sanft in den Nacken und dann wird ihnen das Köpfchen schwer. O ja, aber es tut ihnen nicht weh, denn der Sandmann meint es mit den Kindern gut. Er verlangt nur, dass sie ruhig sein sollen, und das sind sie am besten, wenn man sie zu Bett bringt. Sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Sobald die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann zu ihnen auf das Bett. Er geht stattlich einher, sein Frack ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich, dessen Farben zu bestimmen, denn er schillert grün, rot und blau, je nach welcher Richtung er sich dreht. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm, einen mit Bildern darauf, den er über die Kinder aufspannt, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten, und einen ohne irgendeine Zeichnung. Diesen stellt er über die unartigen Kinder, damit sie ganz bewusstlos schlafen. Wenn sie am Morgen aufwachen, haben sie dann nicht das Allermindeste geträumt.
Nun wollen wir hören, wie der Sandmann eine ganze Woche lang je den Abend zu einem kleinen Knaben, der Hjalmar hieß, kam und was er ihm erzählte! Es sind im ganzen sieben Geschichten, weil es sieben Wochentage gibt.

Montag

„Hör einmal!“ sagte der Sandmann am Abend, als er Hjalmar zu Bett gebracht hatte, „nun will ich dir meinen ganzen Staat zeigen!“ Da verwandelten sich alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, die ihre langen Zweige unter der Decke hin und die Wände entlang streckten, so dass die ganze Stube wie das herrlichste Lusthaus aussah. Alle Zweige waren voll Blumen und jede Blume war schöner als eine Rose, duftete balsamisch und wollte man sie essen, war sie süßer als Eingemachtes. Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Wecken waren da, die vor lauter Rosinen platzten – es war unvergleichlich schön. Plötzlich aber ließ sich in dem Tischkasten, wo Hjalmars Schulbücher lagen, ein entsetzliches Jammern vernehmen.
„Was ist das nur?“ fragte der Sandmann und ging nach dem Tisch und zog den Kasten aus. Es war die Tafel, in der es zerrte und zupfte, denn es hatte sich eine falsche Zahl in das Rechenexempel eingeschlichen, so dass die Zahlen auseinander laufen wollten. Der Griffel hüpfte und sprang an seiner Schnur, als stellte er einen kleinen Hund vor, der dem Rechenexempel helfen möchte, aber er war es nicht im Stande. Und dann jammerte es auch in Hjalmars Schreibebuch, dass es ordentlich hässlich mit anzuhören war. Auf jeder Seite standen der Länge nach von oben nach unten sämtliche große Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite einer hinter dem andern. Das bildete die Vorschrift, und neben dieser standen wieder einige Buchstaben, die sich einbildeten ebenso auszusehen, weil sie aus Hjalmars eigener Feder herrührten. Aber 0 weh! sie sahen fast aus, als ob sie über die Linien, auf denen sie doch stehen sollten, gestolpert wären.
„Seht, so solltet ihr euch halten!“ sagte die Vorschrift. „Seht, etwas schräg, aber mit kräftigem Schwung!“
„Oh, wir wollen gern“, sagten Hjalmars Buchstaben, „aber wir können nicht, wir sind so klein und unwissend!“
„Dann sollt ihr Kinderpulver bekommen!“ sagte der Sandmann.
„O nein!“ riefen sie, und dann standen sie mit einem Mal kerzengerade, dass es eine Lust war.
„Heute werden keine Geschichten erzählt!“ sagte der Sandmann. „Jetzt müssen sie üben! Eins, zwei! Eins, zwei!“ Nun übte er mit den Buchstaben, und sie standen so gerade und gesund da, wie nur eine Vorschrift immer stehen kann. Als aber der Sandmann ging, und Hjalmar am Morgen nachlas, da waren sie ebenso jämmerlich wie zuvor.

Dienstag

Sobald Hjalmar im Bett war, benetzte der Sandmann mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube, und sofort begannen sie zu plaudern und plauderten sämtlich von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, der schweigend dastand und sich darüber ärgerte, dass sie so eitel sein konnten, nur von sich zu reden, nur an sich zu denken und sich auch nicht mit einem einzigen Gedanken an den zu erinnern, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespeien ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem reich vergoldeten Rahmen, das eine Landschaft darstellte. Man sah hohe alte Bäume, Blumen im Gras und ein großes Wasser, durch das ein Fluss hin durchströmte, der sich um den Wald an vielen Schlössern vorüberschlängelte und sich fernab in das wilde Meer ergoss.
Der Sandmann benetzte mit seiner Zauberspritze das Gemälde, und dann begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich, und die Wolken flogen so natürlich, dass man ihren Schatten über die Landschaft konnte dahinschweben sehen.
Nun hob der Sandmann den kleinen Hjalmar so hoch, dass er seine Füße in den Rahmen hineinstellen konnte und zwar gerade in das hohe Gras. Da stand er nun. Die Sonne schien durch die Zweige auf ihn hernieder. Er lief hin an das Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, das da lag. Es war rot und weiß angestrichen, die Segel leuchteten wie Silber und sechs Schwäne, alle mit goldenen Kronen, die vom Halse herniederhingen, und einem strahlenden blauen Sterne auf dem Kopfe, zogen das Boot an dem grünen Walde vorüber, wo die Bäume von Räubern und Hexen und die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem erzählten, was ihnen die Schmetterlinge zugeflüstert hatten.
Die prächtigsten Fische mit silbernen und goldenen Schuppen schwammen hinter dem Boot her; bisweilen schnellten sie sich über das Wasser empor, dass es plätscherte, und Vögel, rote und blaue, kleine und große, flogen in zwei langen Reihen hinten nach, die Mücken tanzten und die Maikäfer brummten. Alle wollten Hjalmar folgen und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen.
Das war allerdings eine Segelfahrt, wie sie sein musste! Bald waren die Wälder dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Park mit Sonnenschein und Blumen, und große Schlösser aus Gras und Marmor lagen darin. Auf den Altanen standen Prinzessinnen, und alle waren kleine Mädchen, die Hjalmar recht wohl kannte, denn er hatte schon früher mit ihnen gespielt. Sie streckten die Hand aus und jede hielt ihm das reizendste Zuckerwerk hin, das nur je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Hjalmar ergriff beim Vorübersegeln das eine Ende des Stücks Zuckerwerk und die Prinzessin hielt recht fest, so dass jedes seinen Teil erhielt, sie den kleinsten, Hjalmar den allergrößten. Bei jedem Schloss standen kleine Prinzen Schildwache. Sie schulterten goldene Säbel und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren wirkliche Prinzen!
Bald segelte Hjalmar durch Wälder, bald gerade durch große Säle oder mitten durch eine Stadt. Er kam auch durch diejenige, in der sein Kindermädchen wohnte, das gute Mädchen, das ihn getragen hatte, als er ein ganz kleiner Knabe war, und das ihn so lieb gehabt. Es nickte und winkte und sang den niedlichen Vers, den es selbst gedichtet und Hjal mar gesandt hatte:

Ich denke dein in mancher Stund‘,
Du süßes Kind, du Liebling mein!
Ich hab‘ geküsst dir deinen Mund,
Die Stirne, Wangen, rot und fein!
Dein erstes Wort vernahm mein Ohr!
Doch musst‘ ich fort, vergiß mein nicht!
Gott segne dich, den ich verlor,
Du Engel aus des Herren Licht!

Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf ihren Stengeln und die alten Bäume nickten, als ob der Sandmann auch ihnen Geschichten erzählte.

Mittwoch

Nein, wie der Regen herniederströmte! Hjalmar konnte es im Schlaf hören, und als der Sandmann ein Fenster öffnete, stand das Wasser gerade bis an das Fenster hinauf. Ein ganzer See wälzte sich schon da draußen, und das prächtigste Schiff lag hart vor dem Haus.
„Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar?“ fragte der Sandmann, „dann kannst du heute Nacht nach fremden Ländern reisen und morgen doch wieder hier sein!“
Im Nu stand da Hjalmar in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigsten Schiff, und sofort heiterte sich das Wetter auf, und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große, wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu er blicken war. Sie bemerkten auch eine Schar Störche, die gleichfalls die Heimat verlassen hatten und nach den warmen Ländern wollten. Ein Storch flog dicht hinter dem anderen und sie waren schon weit, weit geflogen. Einer war so müde, dass ihn seine Flügel kaum noch länger zu tragen vermochten. Er war der allerletzte in der Reihe und bald blieb er eine große Strecke zurück, endlich sank er mit ausgebreiteten Schwingen niedriger und niedriger, machte noch ein paar Flügelschläge, aber es half nichts. Jetzt berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, glitt das Segel hinunter und bums! da stand er auf dem Verdekke.
Da nahm ihn der Schiffsjunge und sperrte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen. Der arme Storch stand ganz ein geschüchtert mitten unter ihnen.
„Seht ihr den nicht?“ gackerten alle Hühner.
Der kalekutische Hahn blies sich aus Leibeskräften auf und fragte ihn, wer er wäre? Die Enten gingen rückwärts und stießen einander an:
„Spute dich, spute dich!“
Der Storch erzählte von dem warmen Afrika, von den Pyramiden und dem Strauß, der wie ein wildes Pferd durch die Wüste dahinstürmte, aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und darum stießen sie einander an: „Wir sind wohl einig darüber, dass er dumm ist?“
„Ja, er ist sicherlich dumm!“ sagte der kalekutische Hahn und kollerte dann. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein Afrika.
„Für dünne Beine sind die Eurigen ganz hübsch!“ spottete der kalekutische Hahn. „Was kostet die Elle von ihnen?“
„Ha, ha, ha, ha!“ grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht hörte.
„Ihr dürft dreist mitlachen!“ sagte der kalekutische Hahn, „denn es steckt in Wahrheit viel Witz in meinen Worten; oder kamen sie Euch vielleicht zu seicht vor? Ja, ja, er ist nicht vielseitig. Wir wollen unsere Scherze für uns allein behalten!“ Und dann gluckten die Hühner, und die Enten schnatterten: „Gikgak! Gikgak!“ Es war schrecklich, wie lustig sie ihre eigenen Späße fanden.
Aber Hjalmar ging hin zum Hühnerhaus, öffnete die Tür, rief den Storch und dieser hüpfte auf das Verdeck zu ihm hinaus. Nun hatte er sich ausgeruht, und es war gerade, als ob er Hjalmar zunickte, um sich bei ihm zu bedanken. Darauf breitete er seine Schwingen aus und flog nach den warmen Ländern, aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten und der kalekutische Hahn wurde ganz rot am Kopf.
,,Morgen wollen wir Suppe von euch kochen!“ sagte Hjalmar‘ und da erwachte er und lag in seinem Bettchen. Es war doch eine merkwürdige Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen lassen.

Donnerstag

„Weißt du was?“ sagte der Sandmann‘ „fürchte dich nur nicht; hier wirst du eine kleine Maus gewahren!“ und dabei hielt er ihm seine Hand mit dem leichten, niedlichen Tierchen hin. „Sie ist gekommen, dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind zwei Mäuschen, die heute Nacht in den Ehestand treten wollen. Sie wohnen unter dem Fußboden in deiner Mutter Speisekammer.“
„Aber wie kann ich mich durch das kleine Mäuseloch im Fußboden hindurchdrängen?“ fragte Hjalmar.
„Lass mich nur machen!“ versetzte der Sandmann. „Ich will dich schon klein genug bekommen!“ Darauf benetzte er Hjalmar mit seitier Zauberspritze, der nun sofort kleiner und kleiner wurde, bis er zuletzt nur fingergroß war. „Nun kannst du dir vom Zinnsoldaten die Kleider borgen, ich denke, sie werden dir jetzt schon passen, und es nimmt sich gut aus, sich in Gesellschaft in Uniform zu zeigen.“
„Jawohl!“ sagte Hjalmar‘ und dann war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat angekleidet.
„Wollen Sie nicht so freundlich sein, sich in Ihrer Frau Mutter Fingerhut zu setzen?“ sagte die kleine Maus, „dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!“
„0 Himmel! Will sich das Fräulein vielleicht selbst bemühen!“ sagte Hjalmar, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.
Zuerst gelangten sie in einen weitläufigen Gang unter dem Fußboden, der nicht höher war, als dass sie ohne anzustoßen mit dem Fingerhut darin fahren konnten, und der ganze Gang war mit faulem Holz er leuchtet.
„Riecht es hier nicht prächtig?“ sagte die Maus, die ihn zog, „der ganze Gang ist mit Speckschwarten eingerieben! Es kann nichts Vortrefflicheres geben!“
Nun kamen sie in den Brautsaal hinein; hier standen zur Rechten alle die kleinen Mäusefräulein, und die zischelten und tuschelten, als ob sie sich über einander lustig machten. Zur Linken standen alle jungen Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart; aber mitten im Kreis erblickte man das Brautpaar. Sie standen in einer aus gehöhlten Käserinde und küssten sich vor aller Augen ganz erschrecklich viel, denn sie waren ja nun Verlobte und sollten gleich Hochzeit halten.
Immer mehr und mehr Fremde erschienen; es fehlte nicht viel, so hätten die Mäuse einander totgetreten; dazu hatte sich das Brautpaar mitten in die Tür gestellt, so dass man weder hinein noch hinaus gelangen konnte. Wie der Gang, so war auch das ganze Zimmer mit Speck schwarten eingerieben; das war die ganze Bewirtung; indes wurde zum Nachtisch eine Erbse vorgewiesen, in die eine kleine Maus aus der Familie die Namen des Brautpaares hineingebissen, d.h. die ersten Buchstaben. Es war etwas ganz Außerordentliches.
Alle Mäuse versicherten, es wäre eine ausgezeichnete Hochzeit und die Unterhaltung wäre sehr angeregt gewesen.
Dann fuhr Hjalmar wieder nach Hause. Er war zwar in vornehmer Gesellschaft gewesen, hatte aber auch gehörig zusammenkriechen, sich klein machen und in Zinnsoldaten-Uniform erscheinen müssen.

Freitag

„Es ist unglaublich, wie viele ältere Leute es gibt, die mich gernhaben und festhalten möchten!“ sagte der Sandmann. „Es sind vorzüglich diejenigen, die etwas Böses getan haben. „Guter, lieber Schlaf!“‚ sagen sie zu mir, „kein Schlaf kommt in unsere Augen, und so liegen wir denn die ganze Nacht und sehen alle unsere schlechten Taten, die, wie kleine Kobolde, auf der Kante der Bettstelle sitzen und uns über und über mit heißem Wasser bespritzen. Komm doch und verjage sie, damit wir ein mal recht fest schlafen können.‘ Dann setzen sie tief aufseufzend hinzu:
Wir wollen es gewiss gern bezahlen. Gute Nacht! Das Geld für dich liegt im Fenster!‘ Aber für Geld tue ich es nicht!“ sagte der Sandmann.
„Was werden wir denn diese Nacht unternehmen?“ fragte Hjalmar.
„Ich weiß nicht, ob du heute Nacht wieder Lust hast eine Hochzeit mitzumachen. Sie ist freilich anderer Art als die gestrige. Deiner Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann heißt, soll sich mit der Puppe Berta verheiraten, und da außerdem deren Geburtstag ist, wird es an Geschenken nicht fehlen.“
„Ja, das kenne ich schon!“ sagte Hjalmar, „sobald die Puppen neue Kleider gebrauchen, lässt sie meine Schwester ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten. Das ist gewiss schon hundert Mal geschehen!“
„Ja, aber heute Nacht ist die hundert und erste Hochzeit, und wenn die hundert und erste aus ist, dann ist alles vorüber. Deshalb wird sie auch so unvergleichlich schön. Sieh einmal!“
Hjalmar sah nach dem Tische. Auf ihm stand das kleine Puppenhaus mit dem Licht in den Fenstern, und alle Zinnsoldaten präsentierten vor der Tür das Gewehr. Das Brautpaar saß, gegen einen Tischfuß gelehnt, ganz gedankenvoll da, und dazu hatte es auch Grund genug. Aber der Sandmann angetan mit der Großmutter schwarzem Rock, vollzog die Trauung. Nach deren Beendigung stimmten alle Möbel in der Stube folgendes Lied an, das der Bleistift gedichtet hatte. Es ging nach der Melodie des Zapfenstreichs:

Es brause unser Lied empor
Für’s teure Paar in hellem Chor.
Sie stehen beide wie ein Pflock‘
Denn Handschuhleder ist ihr Rock!
Hurrah! Hurrah! dem steifen Paar,
Das unsrer Stube Stolz stets war!:,:

Und nun überreichte man ihnen Geschenke, doch hatten sie sich alle Esswaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.
„Wollen wir nun das Landleben genießen, oder eine Hochzeitsreise antreten?“ fragte der Bräutigam. Darauf wurde die Schwalbe, die sich in vielen Ländern umgesehen, und die alte Hofhenne, die fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, zu Rate gezogen. Die Schwalbe erzählte von den schönen, warmen Ländern, wo die Weintrauben groß und schwer an den Stöcken hängen, wo die Luft so mild wäre und die Berge Farben hätten, wie man sie hier zu Lande niemals sieht.
„Es fehlt ihnen aber doch unser Grünkohl!“ sagte die Henne. „Ich brachte einen Sommer mit allen meinen Küchlein auf dem Lande zu. Dort war eine Sandgrube, in der wir umhergehen und scharren konnten. Auch hatten wir Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl! 0 wie grün der war! Ich kann mir nichts Schöneres denken!“
„Aber ein Kohlkopf sieht wie der andere aus“, sagte die Schwalbe, „und dann herrscht hier oft so unangenehme Witterung!“
„Oh, daran hat man sich schon gewöhnt!“ sagte die Henne.
„Aber hier ist es kalt, es friert!“
„Das ist für den Kohl gerade dienlich!“ sagte die Henne. „Übrigens kann es auch bei uns sehr warm sein. Hatten wir nicht vor vier Jahren einen Sommer, wo fünf Wochen lang eine solche Hitze war, dass man kaum atmen konnte? Dann leben aber bei uns auch keine giftigen Tiere, wie in jenen Ländern, und wir sind frei von Räubern! Ein Bösewicht muss der sein, der unser Land nicht für das schönste hält! Er verdiente wahrlich nicht, hier zu weilen!“ Weinend unterbrach sich die Henne und setzte dann schluchzend hinzu: „Auch ich bin gereist! Ich bin ein mal in einem Korbe über zwölf Meilen weit gefahren! Das Reisen gewährt schlechterdings kein Vergnügen!“
„Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!“ sagte die Puppe Berta. „Ich halte nichts davon, eine Gebirgsreise zu unternehmen, denn kaum ist man oben, so geht es gleich wieder hinunter! Nein, wir wollen hübsch nach der Sandgrube hinausziehen und uns im Kohlgarten ergehen!“
Und dabei blieb es!

Sonnabend

„Erzählst du mir nun Geschichten?“ fragte der kleine Hjalmar‘ sobald ihn der Sandmann zu Bett gebracht hatte.
„Heute Abend haben wir nicht Zeit dazu“, sagte der Sandmann und spannte seinen schönen Regenschirm über ihn auf. „Sieh nur diese Chinesen an!“ Der ganze Schirm glich einer großen chinesischen Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. „Wir müssen bis morgen die ganze Welt schön aufgeputzt haben“, sagte der Sandmann‘ „es ist dann ja ein heiliger Tag, es ist Sonntag. Ich will auf den Kirchturm steigen, um nachzusehen, ob die kleinen Kirchengeister die Glocken putzen, da mit ihr Geläute schön klingt. Auch will ich auf das Feld hinaus und untersuchen, ob die Winde den Staub von den Gräsern und Blättern blasen, und was die allerschwierigste Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie aufzupolieren. Ich nehme sie in meine Schürze, aber erst müssen sie nummeriert werden und ebenso die Löcher, in denen sie da oben sitzen, damit sie ihren rechten Platz wieder erhalten können, sonst würden sie nicht festsitzen und wir bekämen zu viele Sternschnuppen, wenn einer nach dem andern herabpurzelte!“
„Hören Sie, wissen Sie was, Herr Sandmann!“ begann ein altes Porträt, das an der Wand hing, an der Hjalmar schlief, „ich bin Hjalmars Urgroßvater. Ich danke Ihnen zwar, dass Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber sie dürfen doch seine Begriffe nicht verwirren. Die Sterne können nicht heruntergeholt und geputzt werden! Die Sterne sind Weltkörper, gerade so wie unsere Erde, und das ist eben das Gute an ihnen.
„Besten Dank, du alter Urgroßvater!“ sagte der Sandmann, „besten Dank! Du bist ja das Haupt der Familie, du bist das Urhaupt! Aber ich bin älter als du. Ich bin ein alter Heide. Die Römer und Griechen nannten mich den Traumgott. Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch hinein. Ich verstehe mit Niedrigen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst du statt meiner erzählen!“ Nach diesen Worten verließ der Sandmann das Zimmer und nahm seinen Schirm mit.
„Nun darf man wohl seine Meinung nicht mehr sagen!“ sagte das alte Porträt.
Und da erwachte Hjalmar.

Sonntag

„Guten Abend!“ sagte der Sandmann, und Hjalmar nickte, sprang aber dann schnell hin und wandte des Urgroßvaters Porträt gegen die Wand um, damit er nicht wie gestern mitplaudern könnte.
„Nun musst du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, von Hahnenfuß, der Hennenfuß den Hof machte, und von der Stopfnadel, deren Spitze so fein war, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!“
„Man kann auch des Guten zu viel bekommen!“ sagte der Sandmann. „Ich zeige dir am liebsten etwas, wie du weißt! Ich will dir meinen Bruder zeigen, der auch Schlaf bringt, aber er kommt zu niemand öfter als ein Mal. Tritt er zu jemand heran, so nimmt er ihn mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er weiß nur zwei, die eine ist so unvergleichlich schön, wie sich niemand in der Welt vorstellen kann; und die andere ist über alle Beschreibung hässlich und abscheulich!“ Darauf hob der Sandmann den kleinen Hjalmar zum Fenster empor und sagte:
„Dort wirst du meinen Bruder sehen, den sie auch den Tod nennen. Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm wie in den Bilderbüchern aus, wo man ihn immer als Knochengerippe malt! Nein, sein Rock ist mit Silberstickerei verziert, er trägt eine stattliche Husarenuniform; ein Mantel von schwarzem Samt flattert bis über das Pferd hinaus! Sieh, wie er im Galopp dahinjagt!“
Und Hjalmar sah, wie der Tod vorwärtseilte und junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm; einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: „Wie steht es mit dem Zensurbuch?“ – „Gut!“ sagten sie alle. „Ja, lass mich nur selbst sehen!“ erwiderte er, und dann mussten sie ihm das Buch zeigen. Alle nun, die „Sehr gut“ und „Ausgezeichnet“ hatten, kamen vorn auf das Pferd und ihnen erzählte er die herrliche Geschichte; doch diejenigen, die „Ziemlich gut“ und „Mittelmäßig“ hatten, mussten hinten auf und die hässliche Geschichte mit anhören. Sie schauderten und weinten, sie wollten vom Pferd springen, vermochten es aber nicht, denn sie waren sofort fest an demselben angewachsen.
„Aber der Tod ist ja der herrlichste Sandmann!“ sagte Hjalmar‘ „vor ihm fürchte ich mich gar nicht!“
„Das sollst du auch nicht!“ sagte der Sandmann, „siehe nur zu, dass du ein gutes Sittenzeugnis erhältst!“
„Ja, das ist lehrreich!“ murmelte des Urgroßvaters Porträt. „Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!“ und dann freute er sich.
Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er dir selbst heute Abend mehr erzählen.

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