Marion Wolf
Ein Vater hatte drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Alle waren ihm gleich ans Herz gewachsen, doch nur einem konnte er das Beste hinterlassen, das er besaß: Ein Pferd, das alle Hürden überwand. Um festzustellen, welches Kind am ehesten geeignet sei, in seinem Sattel zu sitzen, stellte er sie auf die Probe.
Als erstes rief er den Ältesten zum Tor des Gatters und sprach: „Siehe, das wunderbare Pferd steht am anderen Ende der Koppel, dreimal so weit, wie Dein Schatten reicht. Besteigst Du es, obwohl Du nicht über Deinen Schatten springen kannst, ist es Dein.“
Der Älteste hielt sich für besonders gerissen, holte ein Trampolin, nahm hektisch Anlauf und versuchte einen Salto mortale über den eigenen Schatten. Das Pferd sprang erschrocken zur Seite, der Möchtegernreiter landete auf der steinigen Erde und brach sich die Gebeine. „Dieser Sohn hat sich der Fähigkeit beraubt, aufrecht im Sattel zu sitzen“, dachte der Vater, schickte nach einem Arzt und richtete ihm eine Schreibstube ein.
Als nächstes rief er den zweiten Sohn zur Koppel. Der war ein träger Feigling und wollte des Pferdes mit List habhaft werden. Nach und nach ließ er Granatäpfel über die Wiese rollen, um das Tier heranzulocken. Das Tier fraß die unerwarteten Leckereien und näherte sich langsam. Als es in den Schatten des Verführers trat, spurtete jener gierig drauflos. Das Pferd erschrak, fühlte sich angegriffen und scheute im selben Moment, da sich der Jüngling in den Sattel schwingen wollte. Prompt fiel auch er auf die Nase. Gleich darauf gab ihm das Pferd einen Tritt mit den Hinterläufen und preschte davon. Aus der Traum es jemals zu reiten!
Wie nun der Vater auch seinen zweiten Sohn verbeult im Staube liegen sah, rief er seufzend seine Tochter. Das Mädchen wunderte sich über die Aufgabenstellung: „Was soll denn daran schwierig sein?“ fragte sie. „Mein Schatten wandert doch mit mir, während ich dem Pferd entgegen gehe…“
Gelassen und freundlich schritt sie auf das stolze Pferd zu, ließ es an ihrer Hand schnuppern und streichelte es liebevoll am Hals. Der Hengst spürte ihre Offenheit und ihr Wohlwollen, hielt inne und ließ sie aufsitzen. So wurde die Tochter rechtmäßige Erbin des Wunderpferdes und brachte es damit noch weit…
In seiner letzten Stunde überlegte der Vater: „Wie kommt es, dass meine Söhne zu verblendet waren, um den geraden Weg zu gehen?“
Dieses Märchen wurde mir von Marion Wolf zur Verfügung gestellt.
Das Copyright dieses Märchens liegt bei der Autorin: http://dichterseele.beepworld.de
Comments are closed