Von Rudyard Kipling

Es gab einmal eine Zeit – aber das ist schon sehr lange her – da hatte der Elefant noch keinen Rüssel. Er hatte nur eine schwarze, knollige Nase, die war so groß wie ein Stiefel und ließ sich hin und her schwenken; doch er konnte mit dem kurzen Ding nichts vom Erdboden aufheben. Nun lebte da einmal ein Elefant, ein ganz besonderer Elefant, ein Elefantenkind.

Das platzte beinahe vor unersättlicher Neugierde, das heißt, es hatte immerfort Fragen zu stellen. Es lebte in Afrika, und Afrika war bis zum Platzen mit seinen unersättlichen neugierigen Fragen gefüllt. Es fragte seinen langbeinigen Onkel, den Vogel Strauß, warum seine Schwanzfedern gerade so und nicht anders gewachsen seien; und sein langbeiniger Onkel Strauß zog ihm eins über mit seinen langen Beinen. Es fragte seine schlanke Tante, die Giraffe, warum sie so viele Flecken auf der Haut hätte; und seine schlanke Tante, die Giraffe, zog ihm eins über mit ihrem harten Huf. Aber trotzdem blieb seine Neugierde unersättlich! Es fragte seinen fetten Onkel, das Nilpferd, warum seine Augen so rot wären; und sein fetter Onkel, das Nilpferd, zog ihm eins über mit seinem fetten Fuß. Dann fragte es seinen wolligen Onkel, den Pavian, warum die Melonen nicht anders schmeckten; und sein wolliger Onkel, der  Pavian, zog ihm eins über mit seiner wolligen Pfote.

Aber trotzdem und immer noch blieb die Neugierde des Elefantenkindes unersättlich! Es stellte Fragen über alles, was es sah und hörte, roch oder spürte oder anfasste, und alle seine Onkel und Tanten zogen ihm eins über.

Eines schönen Morgens, als gerade Tag- und. Nachtgleiche war, stellte das neugierige Elefantenkind eine schöne neue Frage, die es noch niemals gestellt hatte. Es fragte: „Was speist das Krokodil zu Mittag?“ Da riefen alle laut und erschreckt: „Pst! pst!“ und zogen ihm auf der Stelle eins über. Und es dauerte sogar ziemlich lange, bis sie alle mit dieser Beschäftigung fertig waren. Als alles vorüber war, ging das Elefantenkind zu dem Kolokolo Vogel; der saß mitten in einem Dornbusch, den er „zur guten Stube“ getauft hatte. Das Elefantenkind sagte: „Mein Vater und meine Mutter, meine Tanten und meine Onkel, alle haben mir eins übergezogen, weil ich so unersättlich neugierig bin; aber trotzdem möchte ich wissen, was ein Krokodil zu Mittag speist!“

Da krächzte der Kolokolo Vogel betrübt: „Geh zum großen graugrün-schlammigen Limpopostrom; an dessen Ufern stehen hohe Fieberbäume. Dort such dir die Antwort auf deine Frage selbst!“

Am nächsten Morgen, als von der Tag- und Nachtgleiche nichts mehr übriggeblieben war, weil der Tag schon nicht mehr gleich war – an diesem Morgen packte sich das unersättliche Elefantenkind fünfzig Kilogramm Bananen und Zuckerrohr und siebzehn Wassermelonen auf und sagte zu all seinen lieben Verwandten: „Lebt wohl! Ich gehe jetzt zum großen graugrün-schlammigen Limpopostrom, an dessen Ufer hohe Fieberbäume stehen, denn ich muss herausfinden, was das Krokodil zu Mittag speist!“ Und so zogen ihm alle noch eins über und wünschten ihm dabei „Glückliche Reise“, obwohl das Elefantenkind sie sehr höflich bar, lieber aufzuhören.

Darauf ging das Elefantenkind eilig davon, mit etwas brennender Haut, aber durchaus nicht verstimmt. Es aß seine Melonen und warf die Schalen beiseite, denn wie hätte es sie ohne Rüssel sammeln können?

Es marschierte von Südafrika nach Südostafrika, von Südostafrika nach Mittelafrika und von Mittelafrika immer weiter nordöstlich. Es aß die ganze Zeit über Melonen, bis es schließlich zum großen graugrün-schlammigen Limpopostrom kam, an dessen Ufern hohe Fieberbäume wachsen, genau wie der Kolokolo Vogel gesagt hatte. Bis zu jener Woche, jenem Tag, jener Stunde und Minute hatte das unersättliche Elefantenkind noch niemals ein Krokodil gesehen, und es wusste auch nicht, wie eins aussieht. Aber seine Neugier war eben unersättlich.

Das erste, was ihm zu Gesicht kam, war eine doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange, die sich um einen Felsen geringelt hatte. „Entschuldigung“, sagte das Elefantenkind sehr höflich, „hast du nicht etwas wie ein Krokodil in dieser fremden Gegend gesehen?“

„Ob ich ein Krokodil gesehen habe?“ fragte die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange mit fürchterlich wütender Stimme, „was wirst du mich noch alles fragen?“
„Entschuldigung“, bat das Elefantenkind, „aber könntest du so freundlich sein und mir mitteilen, was es zu Mittag speist?“ Da ringelte sich die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange wie der Blitz von ihrem Felsen herunter und zog dem Elefantenkind mit ihrem schlüpfrigen Schwanz eins über.
„Seltsam“, meinte das Elefantenkind, „mein Vater und meine Mutter, mein Onkel und meine Tante, nicht zu vergessen meine andere Tante, die Giraffe, und meinen anderen Onkel, den Pavian – alle haben mir eins übergezogen, weil ich so unersättlich neugierig bin – und ich vermute, hier liegt der Fall ebenso.“

So sagte das Elefantenkind der doppelgescheckten klappernden Riesenschlange sehr höflich Lebewohl und half ihr noch, sich wieder um den Felsen zu ringeln; es ging seiner Wege, mit etwas brennender Haut, aber durchaus nicht verstimmt, aß Melonen und warf die Schalen fort, weil es sie ohne Rüssel ja nicht sammeln konnte. Plötzlich trat es dicht am Ufer des großen graugrün-schlammigen Limpopostroms, wo die Fieberbäume stehen, auf einen harten Gegenstand; es hielt ihn für einen Baumstamm. Aber es war in Wirklichkeit ein Krokodil, das mit einem Auge zwinkerte.

„Entschuldigung“, sagte das Elefantenkind sehr höflich, „hast du vielleicht ein Krokodil in dieser Gegend gesehen?“ Da zwinkerte das Krokodil mit dem anderen Auge und hob seinen Schwanz halb aus dem Schlamm; das Elefantenkind trat sehr höflich zurück, weil es nicht wünschte, schon wieder eins übergezogen zu bekommen.

„Komm her, mein Kleines“, rief das Krokodil, „warum fragst du nach solchen Sachen?“
„Entschuldigung“, sagte das Elefantenkind sehr höflich, „mein Vater hat mir eins übergezogen, und meine Mutter hat mir eins übergezogen, nicht zu vergessen meinen langbeinigen Onkel, den Strauß, und meine schlanke Tante, die Giraffe, die so furchtbar stark treten kann, oder meinen fetten Onkel, das Nilpferd, oder meinen wolligen Onkel , den Pavian, und schließlich die doppelgeschekcte klappernde Riesenschlange mit dem schlüpfrigen Schwanz, die nicht weit von hier auf dem Felsen liegt und die stärker zuschlägt als alle anderen. Dies sage ich nur – falls es dir nicht unangenehm ist -, weil ich jetzt nichts mehr übergezogen haben möchte.“

„Komm her, mein Kleines“, knurrte das Krokodil, „ich bin das Krokodil“, und es weinte Krokodilstränen, um zu beweisen, dass es nicht log.
Da stockte dem Elefantenkind der Atem, und keuchte vor Aufregung; es kniete am Ufer nieder und rief freudig: „So bist du das Wesen, das ich in all den langen tagen gesucht habe? Würdest du die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, was du zu Mittag speist?“

„Komm hierher, mein Kleines“, erwiderte das Krokodil, „ich sage es dir ins Ohr.“
Da legte das Elefantenkind seinen kopf dicht an den speckigen, dreckigen Rachen des Krokodils. Doch das Krokodil packte es bei seiner kleinen Nase, die bis zu diesem Augenblick nicht größer war als ein Stiefel, aber viel, viel nützlicher.

„Ich denke“, sagte das Krokodil, und es sprach dabei durch die Zähne, ungefähr so: „Ich denke, heute kommt zuerst das Elefantenkind dran.“
Darüber war das Elefantenkind sehr entsetzt, und es bat mit bebenden Nasenflügeln: „Lass los, du tust mir ja weh!“

Da rutschte die doppeltgescheckte klappende Riesenschlange von ihrem Felsen herunter und zischelte: „Mein junger Freund, wenn du nicht augenblicklich so kräftig ziehst wie du nur kannst, wird dich meiner Ansicht nach dein neuer Bekannter im kostbaren Ledermantel“ – damit meinte sie das Krokodil – „in den nassen Strom schlenkern, ehe du auch nur um Hilfe rufen kannst.“
Dies ist die Art, in der sich die doppelgescheckten klappernden Riesenschlangen immer ausdrücken.

Da setzte sich das Elefantenkind auf seine kleinen Schinken und fing an zu ziehen und zu zerren und zu reißen, und seine Nase wurde lang und länger. Das Krokodil platschte ins Wasser und schlug es mit seinem Schwanz, dass es schäumte: und das Elefantenkind zog und zerrte und riss.

Seine Nase wurde länger und länger, und es stemmte sich mit seinen vier kleinen dicken Beinen fest gegen den Boden; es zog und zerrte und riss, und seine Nase wurde immer noch länger. Das Krokodil wirbelte seinen Schwanz herum wie einen Windmühlenflügel; aber das Elefantenkind zog und zerrte und riss, und bei jedem Ruck wurde seine Nase unweigerlich ein Stückchen länger – und das tat furchtbar weh!

Das Elefantenkind fühlte, wie seine Beine nachgaben und rutschten, und es sagte durch seine Nase, die nun schon fast anderthalb Meter lang war:

„Das wird zuviel!“

Da kroch die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange wieder von ihrem Felsen herunter, schlang sich mit einem doppelten Kreuzknoten um die Hinterbeine des Elefantenkindes und sagte: „Du tollkühner und unerfahrener Fremdling, wir wollen uns jetzt gemeinsam zu einer ernstlichen Anstrengung aufraffen. Wenn wir das nicht tun, so habe ich den bestimmten Eindruck, dass jener Dreschflegel mit dem gepanzerten Oberdeck“ – damit meinte sie das Krokodil – „dir für immer deine Zukunft verderben wird.“ Dies ist die Art, in der sich alle doppelgescheckten klappernden Riesenschlangen auszudrücken belieben.

Das Krokodil zerrte, und das Elefantenkind zerrte. Das Krokodil zerrte wieder, aber das Elefantenkind und die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange zerrten noch stärker; schließlich musste das Krokodil die Nase des Elefantenkindes loslassen, und dabei gab es einen Plumps, dass man es oben und unten am Limpopostrom hören konnte.

Das Elefantenkind fiel sehr plötzlich und hart hintenüber, aber sein erster Gedanke war, der doppeltgescheckten klappernden Riesenschlange sehr höflich: „Danke vielmals“, zu sagen. Dann versorgte es seine arme langgezogene Nase mit einem Verband aus kühlen Bananenblättern und hängte sie in den graugrün-schlammigen Limpopostrom, um sie zu kühlen.

„Warum tust du das?“ fragte die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange.
„Entschuldigung“, erwiderte das Elfantenkind, „aber meine Nase hat sich scheußlich verändert, und ich warte, ob sie nicht wieder kleiner wird.“
„Da kannst Du lange warten“, höhnte die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange. „Mancher weiß nicht, was gut für ihn ist.“

Das Elefantenkind blieb sitzen und wartete drei Tage, dass seine Nase wieder kleiner würde.
Aber sie wurde nicht kleiner, und vom vielen Hinsehen schmerzten bereits die Augen. Das Krokodil hatte die Nase des Elefantenkindes zu einem wirklichen Rüssel ausgezerrt, so wie ihn heutzutage jeder Elefant trägt.

An Ende des dritten Tages kam eine Fliege und stach das Elefantenkind in die Schulter; ehe es noch wusste, was es tat, hob es seinen Rüssel und schlug die Fliege damit tot.
„Vorteil Nummer eins!“ erklärte die doppelgescheckte klappernde Riesenschlange. „Das hättest du mit deiner Knollennase niemals gekonnt. Versuche jetzt ein wenig zu essen.“

Bevor das Elefantenkind wusste, was es tat, hatte es seinen Rüssel ausgestreckt und ein großes Bündel Gras abgerissen. Es staubte es an seinen Vorderbeinen ab und stopfte es in sein Maul.
„Vorteil Nummer zwei!“ lobte die doppeltgescheckte klappernde Riesenschlange. „Das hättest du mit deiner Knollennase niemals gekonnt. Findest Du nicht, dass die Sonne sehr heiß brennt?“

„Richtig“, gab das Elefantenkind zu; und bevor es wusste, was es tat, hatte es eine Ladung Schlamm von den Ufern des großen graugrün-schlammigen Limpopostromes in seinen Rüssel geladen und klatschte sie sich auf den Kopf, machte sich so eine kühle  Schlammütze, aus der es hinter seinen Ohren herabtröpfelte.
„Vorteil Nummer drei!“ pries die doppelgescheckte klappernde Riesenschlange. „Das hättest Du mit deiner Knollennase niemals gekonnt. Möchtest du nicht einmal wieder eins übergezogen bekommen?“ „Entschuldigung!“ sagte das Elefantenkind, „aber das möchte ich ganz und gar nicht.“ „Aber würdest du vielleicht jemand anderem gern eins überziehen?“ fragte die doppelgescheckte klappernde Riesenschlange. „Das würde ich von Herzen gern tun!“ antwortete das Elefantenkind. „Schön“, meinte die doppelgescheckte klappernde Riesenschlange, „deine neue Nase wird dir sehr nützlich sein, wenn du jemandem eins überziehen willst,.“ „Danke sehr“, sagte das Elefantenkind, das will ich mir merken – und jetzt will ich nach Hause gehen zu all meinen teuren Verwandten und will es gleich ausprobieren.“

So wanderte das Elefantenkind heim durch ganz Afrika und schwenkte lustig seinen Rüssel. Wenn es Appetit auf Früchte hatte, riss es sich die Früchte vom Baum, statt wie früher zu warten, bis sie herabfielen. Wenn es Lust bekam Gras zu fressen, rupfte es sich das Gras vom Boden ab, statt wie früher sich mühselig niederzuknien. Wenn die Fliegen  es stachen, brach es sich eine  Zweig ab und benutze ihn als Fliegenwedel. Das Elefantenkind machte sich eine neue, kühle, matschig-klebrige Schlafmütze, so oft ihm die Sonne zu heiß wurde. Wenn es sich einsam fühlte bei seinem Spaziergang  durch Afrika, sang es sich eins durch seinen Rüssel, und es dröhnte lauter als viele Militärkapellen zusammen. Es macht absichtlich Umwege, um ein fettes Nilpferd zu treffen – aber eins, das mit ihm nicht verwandt war -, und es zog ihm sehr kräftig eins über, um sicher zu sein, dass die doppelgescheckte klappernde Riesenschlange über die Fähigkeiten des neuen Rüssels die Wahrheit gesprochen hatte. In der übrigen Zeit sammelte das Elefantenkind die Melonenschalen ein, die es auf der Reise zum großen graugrün-schlammigen Limpopostrom weggeworfen hatte, denn es hielt sehr auf Ordnung.

An einem dunklen Abend traf das Elefantenkind all seine teuren Verwandten wieder, und es rollte seinen Rüssel ganz dicht zusammen und rief: „Wie geht’s, wie geht’s“ Alle waren erfreut, es wiederzusehen, und sagten sogleich: „Komm her, wir wollen dir für deine unersättliche Neugier eins überziehen.“
„Pah“, prahlte das Elefantenkind, „ihr habt keine Ahnung! Das könnt ihr ja nicht, aber ich kann es, und ich will es euch zeigen.“

Da machte es seinen Rüssel lang und warf zwei seiner lieben Brüder zu Boden. „Bananen und Melonen!“ riefen alle, „wo hast du diesen Kniff gelernt! Und was hast du mit deiner Nase gemacht?“
„Ich habe vom Krokodil an den Ufern des großen graugrün-schlammigen Limpopostroms eine neue Nase bekommen“, erwiderte das Elefantenkind; „ich fragte es, was es zu Mittag speist, und es gab mir dies hier als Andenken.“

„Es sieht hässlich aus“, meinte sein wolliger Onkel der Pavian. „Das ist wahr“, gab das Elefantenkind zu, „aber es ist sehr nützlich“, und es packte mit dem Rüssel seinen wolligen Onkel, den Pavian, an einem seiner wolligen Beine und schlenkerte ihn in ein Hornissennest. Darauf zog das unartige Elefantenkind all seinen lieben Verwandten etwas Ordentliches über, bis ihnen die Haut brannte und sie höchst erstaunt waren. Es riss seinem langbeinigen Onkel, dem Strauß, die Schwanzfedern aus; und es erwischte seine schlanke Tante, die Giraffe, beim Hinterbein und schleppte sie durch Stachel- und Dornbüsche. Auch trompetete es seinen fetten Onkel, das Nilpferd, an und spritzte ihm Wasser ins Ohr, wenn er gerade sein Mittagsschläfchen hielt – aber niemals erlaubte es, dass jemand den Vogel Kolokolo anrührte

Schließlich wurde die Lage für all seine teueren Verwandten so gefährlich, dass einer nach dem andern sich eilig aufmachte nach dem großen graugrün-schlammigen Limpopostrom, an dessen Ufern überall Fierbäume stehen, um sich vom Krokodil neue Nasen zu holen. Nachdem die Elefanten zurückgekehrt waren, ließ einer den anderen in Ruhe. Und warum wohl? Seit jener Zeit haben alle Elefanten auch einen solchen Rüssel wie das unersättlich neugierige Elefantenkind

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