Therese Rösing
Wo der Wald licht wird und im Frühling die wilden Rosen blühen, steht ein
kleines Haus. Auf dem Dache wächst Moos, durch die Fenster scheint die Sonne
hinein, und drinnen wohnte Großmütterchen mit Blondhärchen. Den ganzen Tag lief
tripp trapp die Kleine singend umher, bis in dem Häuschen alles so blitzblank
war, wie Großmütterchen es gern hatte, und abends trug sie ihr Spinnrad herbei
und spann den langen blonden Faden, der fast so blond war wie ihr eigenes Haar.
Und wenn sie fleißig das Rädchen drehte und das Fädchen netzte, dann erzählte
ihr Großmütterchen, die eine kluge Frau war und viel erlebt hatte, von der
weiten Welt da draußen, die so groß und so schlimm sei. Aber der Pate, der ganz
allein mitten im dunklen Wald wohnte, der sei gut, und wenn sie sich einmal
keines Rates mehr wüsste, solle sie zu dem gehen, der würde ihr schon beistehen.
Blondhärchen blickte mit ihren großen, blauen Augen von der Schwelle ihres
Häuschens in die Welt hinaus und fand sie sehr schön soweit sie nur sehen
konnte, wunderte sich über Großmütterchens Worte und sang mit ihrer süßen
Stimme ein Lied, das hatte sie von der Nachtigall gelernt. Und freute sich
schon darauf, wenn sie wieder ein Körbchen mit blondem Flachsgarn ins Dorf
bringen könne, zum Weber. Der behielt einen Teil für sich und von dem anderen
Teil webte er Linnen und Gewand für sie und Großmütterchen. Dann lief
Blondhärchen mit eiligen Schritten tripp trapp singend den Hügel hinab, und der
Bach sprang als munterer Weggeselle nebenher, und den Hügel drüben herunter
pflügte wohl gerade Krauskopf, des Nachbars Sohn, mit seinem Gespann Ochsen. Und
wenn sich die beiden Kinder unten trafen, rief er seinen Ochsen »Hü!« zu. Dann
wussten sie, so dumm sie auch aussahen, dass sie nun gute Weile hätten und
fingen an, das saftige Gras am Wegrain abzuzupfen.
Krauskopf aber gab Blondhärchen die Hand und schaute ihr in die Augen. Und sie
lächelte ihm zu, das hatte sie von der lieben Sonne gelernt, und wusste ihm
viel zu erzählen. Sagte sie endlich: »Ich muss eilends ins Dorf, damit
Großmütterchen nicht so lange allein ist«, so wussten die Ochsen, dass es mit der
angenehmen Rast ein Ende habe, schüttelten die dicken Köpfe und brummten »Muh!«
und Krauskopf rief: »Hott!« und pflügte mit ihnen wieder hügelan.
So verging die Zeit. Die beiden Kinder wurden immer größer und stärker,
Großmütterchen wurde immer kleiner und schwächer, und zuletzt kam sie zu
sterben.
Als das arme Blondhärchen da gar so herzbrechend schluchzte, schlug
Großmütterchen noch einmal die Augen auf, tröstete es mit schwacher Stimme und
sprach: »Du bist immer ein gutes Kind gewesen, liebes Blondhärchen, und darum
wird es dir auch im Leben gut gehen. Ich habe mir gedacht, du solltest des
Nachbarn Sohn Krauskopf heiraten, und wenn du einmal nicht aus noch ein weißt,
dann gehe zu deinem Paten im dunklen Walde, der wird dir beistehen.« Dann
schloss sie die Augen, tat noch einen Seufzer und war tot.
Das arme Blondhärchen weinte bitterlich, grub mit Krauskopf ein Grab unter dem
Rosenbusch, wo im Frühling die Nachtigall sang, legte Großmütterchen hinein und
begoss es mit ihren Tränen. Krauskopf aber sagte:
»Sei getrost, Blondhärchen, ich bin ja bei dir. Großmütterchen hat dich lieb
gehabt, aber ich habe dich noch tausendmal lieber.«
Blondhärchen nickte und sprach wohlgemut: »Großmütterchen hat noch im Sterben
gesagt, wir beide sollten uns heiraten.«
Da zog Krauskopf ein langes Gesicht und meinte: »Mit der Zeit pflückt man
Rosen. Wir sind beide noch so jung und ganz arm. Wir müssen warten und Geld
verdienen. Es gibt so viel Gold in der Welt, ein wenig davon könnte uns
glücklich machen.«
Da wollten Blondhärchen vor Schreck schon wieder die Tränen in die Augen
steigen, aber sie schluckte sie hinunter, blickte auf das Ährenfeld, das in der
Sonne wie eitel Gold glänzte, und sagte: »Sieh doch nur hin, Krauskopf! Gold,
soweit du sehen kannst. Und mein Flachsfaden glänzt auch fast wie Gold.«
Er lachte und schüttelte den Kopf: »Solches Gold meine ich nicht. Aber schon
recht. Spinne du nur fleißig weiter an deinem Rädchen, und wenn du dein ganzes
Häuschen mit Goldgespinst angefüllt hast, dann komme ich wieder, alle Taschen
voll Gold.« –
»Laß mich mit dir gehen«, bat Blondhärchen. »Ich will auch ebenso große
Schritte machen wie du.«
Er aber sprang davon, schnitt sich unten am Bach noch einen derben Stecken ab
und lief in die weite Welt hinaus.
Blondhärchen schaute ihm trübselig nach, aber sie war ein tapferes Mädchen und
dachte, sie wollte nur gleich mit dem Spinnen anfangen, dann wäre die Wartezeit
am ehesten zu Ende, trug ihr Rädchen unter den Rosenbusch an Großmütterchens
Grab und drehte es fleißig. Und als es Winter wurde, trug sie es in ihr
Stübchen, kaufte sich ein Lämpchen und spann bei dessen Schein die halben
Nächte hindurch.
Als der Frühling wieder kam und die Rosen blühten, sang sie mit der Nachtigall
um die Wette und lächelte vor sich hin; denn ihr Herz war leicht geworden bei
der Arbeit, und in ihrem Kämmerchen lag das Goldgespinst bis unter die Decke.
Rüstig spann sie weiter, jeden Tag und allezeit, Sommer und Winter, und als der
Frühling abermals ins Land kam mit Nachtigall und Rosen, lag auch in der Küche
das Goldgespinst bis unter die Decke. Nur der Herd war frei, wo Blondhärchen
ihr Mittagessen kochte, und ihr Bettchen am Herde, wo sie schlief.
Da setzte sie sich auf Großmütterchens Grab, faltete die Hände im Schoß und
wartete auf Krauskopf, denn sie dachte, jetzt müsse er heimkommen. Ihr ganzes
Häuschen war ja mit Goldgespinst angefüllt, wie er ihr geheißen hatte.
Die Nachtigall sang, baute sich ihr Nest und hörte dann auf zu singen,
alldieweil sie ihre Jungen füttern musste, die furchtbar hungrig waren, immer
die Schnäbel aufsperrten und nach mehr schrien. Die Rosen dufteten Tag und
Nacht, Blondhärchen saß auf Großmütterchens Grab und wartete.
Die Tage wurden länger und heißer, den jungen Nachtigallen wuchsen die Federn,
das Nest wurde ihnen zu eng und sie flogen davon in die weite Welt.
Blondhärchen schaute ihnen nach, saß auf Großmütterchens Grab und wartete …
Die Blätter an den Bäumen färbten sich gelb und rot, der Herbstwind riss sie
herab und trieb sein Spiel mit ihnen, die letzten Rosen verblühten und
Blondhärchen saß auf Großmütterchens Grab und wartete …
Aber als der Winter mit klirrendem Schritt und grimmigem Frost im Eispanzer
daherkam, dachte Blondhärchen: Jetzt dauert mir die Geschichte zu lange. Ewig
kann ich doch nicht hier sitzen und auf Krauskopf warten! Ich würde ein
Eiszapfen werden und das hätte keinen Zweck. Es ist besser, ich gehe zum Paten
im dunklen Wald. Der wird mir beistehen, wie Großmütterchen verhieß.
Sie nahm ihr Lämpchen in die Hand, um sich im dunklen Wald zu leuchten, wenn es
Abend würde, und schürzte ihr Kleid. Da murmelte der Bach, der in der
Winterkälte faul und schläfrig geworden war: »Mitten im Wald, mitten im Wald,
wo meine Wiege steht, da wohnt der Pate.
Sie nickte ihm zu: »Schönen Dank liebes Bächlein«, und sprang davon, immer
unter den Erlen und Weiden an seinem Ufer entlang.
Häschen, das sie springen sah, wunderte sich, machte ein Männchen und spitzte
die Ohren, da war sie aber schon weit weg. Als sie durch die Schlehdornbüsche
des Waldes schlüpfen wollte, hielten sie sie mit dornigen Fingern fest und
knarrten:
»Wohin so geschwind
Du eiliges Kind?«
Sie bog ihnen vorsichtig die Zweige bei Seite und antwortete:
»Ich hab‘ keine Zeit,
Mein Weg ist noch weit!«
Der Rabe oben auf dem höchsten Baume war vor Alter schon ganz heiser geworden,
drehte den Kopf, blinzelte mit einem Auge zu ihr hinüber und krächzte:
»Krah, Krah!
Wer rennt denn da?« –
Sie hielt sich nicht auf, nickte dem Alten im Weiterlaufen nur einen Gruß zu
und rief ihm hinauf:
»Immer schnelle,
Du schwarzer Geselle!«
Wo der Wald dunkel wird, steht ein alter Turm. Darin wohnte zu jener Zeit ein
Uhu. Er hockte vor seiner Haustür, sträubte die Federn, rollte die gelben Augen
und fauchte:
»Uhu, Uhu,
Was willst du?«
Sie blieb einen Augenblick bei ihm stehen, schöpfte nach dem schnellen Lauf
Atem und antwortete:
»Zum Paten, zum Paten,
Der wird mir raten.«
Da ärgerte sich der Uhu, weil er bei Nacht sehen konnte, glaubte er, dass er
allein klug sei, fauchte noch einmal, ging in sein Haus und schlug die Haustür
hinter sich zu. Blondhärchen lief eilends weiter, immer am Bach entlang, und
auf einmal sah sie einen hellen Schein. Der kam aus der Studierstube des Paten.
Und dicht dabei stand die Wiege des Baches.
Der Pate war ein alter Mann mit einem langen, weißen Bart, einer großen,
krummen Nase und einer Brille darauf. Aber durch die Gläser schaute er
Blondhärchen freundlich an.
Sie gab ihm die Hand, machte einen Knicks und lächelte ihm freundlich zu. Da
schlug er das große Buch zu, darin er gerade gelesen hatte und fragte: »Wen
haben wir denn hier?«
Antwortete sie: »Ich bin Euer Patenkind Blondhärchen. Großmütterchen hat
gesagt, Ihr würdet mir beistehen. Sie ließe schön grüßen und wäre bereits tot.«
Da nickte er mit dem Kopfe, brummte allerlei in den Bart, was sie nicht
verstand und fragte sie, warum sie zu ihm in den dunklen Wald gekommen wäre,
und worin er ihr beistehen könne.
»Ich habe sehr lange auf Krauskopf gewartet«, antwortete sie. »Wir wollen uns
heiraten.«
Fragte der Pate: »Wo ist den Krauskopf?« Antwortete sie behende: »Ei, wenn ich
das wüsste, dann wäre ich nicht den weiten Weg zu Euch in den dunklen Wald
gelaufen, sondern lieber zu ihm hin.«
»So müssen wir einmal Umschau halten, ob wir ihn finden«, meinte der Pate, nahm
sie bei der Hand und stieg mit ihr den Turm hinauf, wo der Uhu wohnte. Der tat,
als ob er schliefe, weil er sich über den Besuch ärgerte und keine Aufregung
liebte.
Oben hielt der Pate Umschau: er schaute nach rechts und schüttelte den Kopf, er
schaute nach links und schüttelte den Kopf, er schaute geradeaus und schüttelte
den Kopf, drehte sich nach der vierten Seite, schaute auch dorthin und
schüttelte abermals den Kopf, denn von Krauskopf war keine Spur zu entdecken.
Und Blondhärchen machte es wie er, schaute nach allen vier Seiten aus und
schüttelte viermal den Kopf, denn auch sie konnte keine Spur von Krauskopf
entdecken.
Sprach da der Pate: »Liebes Kind, soweit die Sonne scheint, ist keine Spur von
Krauskopf zu entdecken. Aber vielleicht ist er drüben auf der anderen Seite, wo
es jetzt dunkel ist. Da scheinen sie die Straßenlaternen noch nicht angezündet
zu haben. Reiche mir dein Lämpchen her, damit ich einmal hinüberleuchte.«
Das tat Blondhärchen. Der Pate befestigte das Lämpchen an einen langen Stab und
siehe: es warf einen hellen Schein in die weite Welt hinaus, über drei Berge
und über drei Meere, gerade in ein Zimmer auf der anderen Seite der Erde
hinein.
»Schau einmal hin, Blondhärchen«, sagte der Pate. »Über drei Berge und über
drei Meere. Meine Augen sind alt und trübe, deine sind jung und hell. Ist das
Krauskopf, der dort sitzt, Schreibfeder in Händen?«
Blondhärchen schaute hin über drei Berge und über drei Meere und antwortete:
»Ich weiß es nicht ganz gewiss. Der da sitzt, Schreibfeder in Händen, sieht aus
wie Krauskopf und doch auch wieder nicht. Wenn ich nur seine Stimme hören
könnte!«
»Wir wollen ihm Botschaft senden, damit er uns antworte«, sagte der Pate. »Aber
dazu brauche ich einen langen, langen Faden. Eile nach deinem Häuschen, liebes
Blondhärchen, wickle dein Goldgespinst zu einem großen Knäuel zusammen, packe
das auf einen Schlitten und bringe es her.«
Blondhärchen ließ sich das nicht zweimal sagen, lief eilends davon, vorbei an
dem Uhu hinter seiner Haustür und vorbei an dem Raben, der ein Auge zugemacht
hatte, schlüpfte durch die Schlehdornbüsche, die sie diesmal gern durchließen,
erschreckte durch ihren schnellen Lauf Häschen beim Kohl im Bauerngarten und
holte einen Schlitten herbei. Dahinauf packte sie ein großes Knäuel von ihrem
Goldgespinst, band es fest, damit es bei der eiligen Fahrt nicht herunterfalle,
und machte sich wieder auf den Weg zum Paten im dunklen Wald, immer am Bächlein
entlang.
Häschen war auf und davon, die Schlehdornbüsche knarrten verdrießlich, als sie
mit ihrer Last vorbeikam, der Rabe hatte auch sein zweites Auge zugemacht,
schlief aber nicht, sondern dachte nach, und der Uhu war aus dem alten Turm
ausgezogen. Es war ihm dort zu unruhig geworden, und das konnten seine Nerven
nicht vertragen.
Der Pate stand noch auf dem Turm und wartete auf sie, nahm das große Knäuel in
die Hand und warf es in die weite Welt hinaus. Es flog über drei Berge und über
drei Meere gerade in das Zimmer, dahinein auch das Lämpchen leuchtete.
»Nun sprich zu dem Manne«, gebot der Pate, und Blondhärchen rief: »Bist du es
Krauskopf, der dort sitzt, Schreibfeder in Händen, dann antworte mir, ich bin
Blondhärchen.«
Ihre Worte liefen an dem langen, langen Faden entlang, dessen eines Ende der
Pate noch in der Hand hielt, über drei Berge und über drei Meere bis hin zu dem
Manne, Schreibfeder in Händen. Er blickte auf und murmelte: »Zweieinhalb und
dreieinhalb sind« … »Es ist Krauskopf!« rief Blondhärchen. »Aber ich verstehe
nicht, was er sagt. So sprach er früher niemals.«
Der Pate schüttelte den Kopf und sagte traurig. »Ich verstehe seine Worte, denn
ich kenne die Welt. Er liegt in einem bösen Zauber, und nur du allein kannst
ihn retten.«
Dazu war Blondhärchen gleich bereit und wollte alsbald die Reise antreten, aber
der gute Pate hielt sie zurück: »Warte, dass ich dir ein Wägelchen baue, sonst
kommst du nimmer an das Ende der Welt. In meinem großen Buche steht ein Rezept
dazu.«
Er suchte lange in dem großen Buche, schlug immer eine Seite nach der anderen
um, und endlich fand er das Rezept. Las es einmal und zweimal, denn es war sehr
schwer zu verstehen und baute danach für Blondhärchen ein Wägelchen. Dieses
lief wie der Wind, sagte »Töff Töff« und stank fürchterlich, das konnte der
gute Pate nicht heilen und Blondhärchen machte sich nichts daraus. »Nun fahre
wohl, liebes Kind«, sagte der Pate. Über die drei Berge wird dich das Wägelchen
wohl bringen, dann musst du sehen, wie du über die drei Meere kommst und halte
dich recht fest und laß dein Lämpchen einen hellen Schein vor dir her werfen.«
Die letzten Worte hörte Blondhärchen schon nicht mehr, denn das Wägelchen fing
an zu rennen, den Faden entlang, über Stock und Stein, so schnell wie der Wind
und noch schneller. Hopp! über den ersten Berg, – hast du nicht gesehen! über
den zweiten Berg – dass die Funken stoben! über den dritten Berg, und da stand
es am Meere.
Alle Leute, die es rennen sahen, schrien laut auf vor Schreck und schlugen die
Hände über dem Kopf zusammen und wunderten sich über Blondhärchens Locken, die
wie eine Fahne hinter ihr herwehten. Als sie dann bat: »Ihr lieben Leute helft
mir doch über das Meer. Ich suche ja Krauskopf. Und bewahrt mir dieweil mein
Wägelchen auf, bis ich des Weges wieder zurückkomme.« Da riefen sie: »Wir
wollen mit dem Untier nichts zu schaffen haben, das bringt uns alle zu Tode.«
Als sie aber so inständig weiter bat, sagten die Leute endlich: »Wohlan, wenn
du das Untier selbst in einen Stall sperren willst, so mag es sein. Aber was
gibst du uns, dass wir dich auch noch über das Meer fahren? Wir sind arm, und umsonst
ist der Tod.«
»Ach, wie schlimm ist doch die Welt und wie sehr hat Großmütterchen recht
gehabt«, dachte da Blondhärchen, und laut sagte sie: »Liebe Leute, ich bin ein
armes Kind und habe nichts, womit ich euch bezahlen könnte.«
»Gib uns deine blonden Locken!« riefen sie da. »Es sah gar lustig aus, als sie
im Winde so hinter dir herflogen.«
»Nehmt sie hin«, sagte Blondhärchen, schnitt sich, eins, zwei, drei, mit einer
Schere die schönen blonden Locken ab, band sich ihr Halstüchelchen um den
kahlen Kopf, und die Leute führten sie in einem Schifflein über das erste Meer.
Drüben wanderte sie wohlgemut weiter, immer an dem Faden entlang, und ehe sie
sich’s versah, stand sie am zweiten Meere. Mit freundlichem Wort und Lächeln
bat sie die Schiffer, die dort wohnten, sie an das andere Ufer zu fahren,
sintemal sie Krauskopf suche. »Es ist unser Handwerk, die Leute hinüber zu
fahren«, antworteten die Schiffer. »Aber was gibst du uns dafür?«
Da starb ihr das Lächeln auf den Lippen, und sie sagte ängstlich: »Ich armes
Kind habe ja nichts euch zu geben.«
»Gib uns dein sonniges Lächeln!« riefen die Schiffer. »Hier bei uns ist es rauh
und nebelig, und die liebe Sonne scheint nicht oft, da soll uns dein Lächeln
die Welt hell und sonnig machen.«
»Ich werde es doch nie wieder brauchen«, seufzte Blondhärchen. »Worüber soll
ich denn lächeln? Die Welt ist ja so schlimm. Aber dafür müsst ihr drüben auf
mich warten, bis ich wieder zurückkomme.« Und sie ließ ihnen ihr sonniges
Lächeln, und die Schiffer brachten sie hinüber. Und weil ihr anfing bange zu
werden und sie sich gar so einsam fühlte, begann sie leise vor sich hin zu
singen. Das machte ihr Mut, und sie sang lauter und lauter: Und es war das
Lied, das sie von der Nachtigall im Rosenbusch gelernt hatte.
Auf einmal stand sie am dritten Meere, und als die Frauen, die dort ihre Wäsche
wuschen, hörten, warum sie in die weite Welt zöge, weinten sie und waren gleich
bereit, ihr zu helfen. »Bezahlung wollen wir dafür nicht,« sagten sie, »denn
wir tun es gern. Aber du könntest uns wohl etwas schenken. Unsere Männer müssen
weit über Land ziehen, um Arbeit zu finden, da würde es ihnen solch ein Trost
sein, zuweilen von uns und den Kindern zu hören. Unsere Stimmen reichen nicht
bis zu ihnen, doch deine ist stark und jung, die werden sie vernehmen. Schenke
uns deine Stimme.«
Das arme Blondhärchen wurde sehr betrübt, denn Krauskopf liebte ihre Stimme,
und sie hatte sich gedacht, ihm den Heimweg durch ihre Lieder zu verkürzen.
Aber es half nichts, über das Wasser musste sie hinüber. So ließ sie ihre
Stimme den Frauen. Die brachten sie an das andere Ufer und versprachen, dort
auf sie zu warten.
Drüben geriet sie bald in eine große Stadt mit vielen hohen Häusern, Türmen und
Schornsteinen, und viele, viele Menschen liefen, so schnell sie konnten an ihr
vorüber, und kein einziger hatte Zeit, sie auch nur anzugucken oder gar ihr
Guten Tag zu sagen
und sie zu fragen was sie wolle. Da fühlte sie sich verlassener als im dunklen
Wald bei dem Raben und dem Uhu, und wenn nicht der Faden gewesen wäre, hätte
sie nicht gewusst, wo aus und ein. Aber der führte sie vorbei an des Königs
Schloss und durch breite Straßen und zuletzt durch enge Gassen, wo die Häuser
hoch und dunkel sind. Und in das allerdunkelste Haus hinein leitete er sie, und
wo er durch ein Schlüsselloch in das Zimmer schlüpfte, pochte sie an die Tür.
Niemand rief herein, da wartete sie noch eine Weile und dann ging sie in das
Zimmer hinein. Dort saß ein Mann am Tische, Schreibfeder in Händen, und
murmelte: »Siebeneinhalb mal fünfunddreißig sind« …
Da erkannte sie Krauskopf, lief zu ihm hin, schlang die Arme um seinen Hals und
sagte leise, denn laut konnte sie nicht sprechen, weil sie doch ihre Stimme
verschenkt hatte:
»Endlich habe ich dich gefunden! Und nun wollen wir uns zusammen auf den
Heimweg machen.«
Aber er sah sie an und kannte sie nicht.
Vor Schreck schlug Blondhärchen die Hände über dem Kopf zusammen und flüsterte:
»Bin ich denn nicht Blondhärchen? Und hast du denn das Häuschen mit dem
Rosenbusch und der Nachtigall, Großmütterchens Grab und deine Ochsen ganz
vergessen?«
Da wunderte sich Krauskopf, dass er an das alles nie wieder gedacht hatte, und
fragte: »Wenn du Blondhärchen bist, wo hast du denn deine schönen blonden
Locken?«
»Ach du liebe Zeit,« seufzte sie da, »die Leute am ersten Meere waren so
habgierig. Ich musste ihnen meine blonden Locken geben, damit sie mir das
Wägelchen aufbewahren, das so schnell fährt wie der Wind.«
»Aber du siehst so traurig aus! Blondhärchen hatte solch ein sonniges Lächeln«,
sagte er.
»Muss ich denn nicht traurig aussehen, wenn du mich nicht einmal kennst! Da
brauche ich mein Lächeln überhaupt nicht«, antwortete sie. »Und da haben es die
Schiffer vom zweiten Meere behalten, damit es ihnen Nacht und Nebel freundlich
mache.«
Sagte Krauskopf: »So singe mir mit deiner klaren Stimme das Lied von der
Nachtigall im Rosenbusch, dann will ich dir glauben.«
Antwortete Blondhärchen: »Meine klare Stimme gehört jetzt den Frauen vom
dritten Meere, um ihren Männern Trost zu bringen.« Da tauchte Krauskopf seine
Schreibfeder in das allmächtige Tintenfass, das vor ihm stand, und murmelte:
»Zweiundachtzig von hundertunddrei sind …«
Und Blondhärchen merkte, dass sein Herz zu hartem Golde geworden war und für
nichts anderes Platz darin als für Zahlen, und begann zu weinen. Und die
großen, heißen Tropfen fielen auf das goldene Herz und machten es ein ganz
klein wenig weich. Und das war ein Glück, denn morgen würde es hart wie Stein
geworden sein und durch nichts mehr zu erweichen gewesen.
Und auf einmal seufzte Krauskopf tief, ließ die Feder fallen, schaute
Blondhärchen verwundert an und fragte: »Bist du es, Blondhärchen? Woher kommst
du denn, und was willst du hier?«
Vor Freuden weinte Blondhärchen noch heißere Tränen, und die machten sein
goldenes Herz wieder ein klein wenig weicher, und er fuhr sich mit der Hand
über die Stirn, seufzte abermals und sagte: »Ich habe so lange nicht an dich
gedacht. Wie ist es nur möglich, wir hatten uns doch in unserer Jugendzeit so
lieb.«
»Komm«, sagte sie da. »Wir wollen nach Hause gehen, jetzt wird es erst gar über
die Maßen schön werden.«
Er aber schüttelte den Kopf: »Später, liebes Blondhärchen. Erst muss ich noch
ein wenig rechnen. Das ist eine schwierige und wichtige Arbeit.
Siebenundzwanzigmal fünfunddreißig sind« …
Da machte Blondhärchen aber ein so betrübtes Gesicht und sah Krauskopf so
flehend an, dass sich sein Herz umgedreht haben würde, wenn es nicht noch etwas
golden gewesen wäre. Goldene Herzen können das nämlich nicht. Und er stand auf
und sagte: »Gräme dich nicht so sehr, liebes Blondhärchen. Ich will mit dir zu
Großmütterchens Grab unter dem Rosenbusch gehen und den ganzen Sommer bei dir
bleiben. Wie sollen wir aber heimfinden?«
Antwortete Blondhärchen: »Der Faden wird uns heimleiten.«
Da nahm Krauskopf aus der großen Truhe an der Wand viel gelbes Gold und steckte
sich die Taschen voll. Das sah Blondhärchen nicht gern, denn sie fürchtete sich
vor dem gelben Golde, und dann begann er, den Faden zu einem großen Knäuel
aufzuwickeln, denn man soll nichts herum liegen lassen, weiß auch nie, wozu es
noch nützlich sein kann.
Sie gingen die Treppe hinunter, durch die schmalen Gässchen mit den hohen,
dunklen Häusern und durch die breiten Straßen und vorbei an des Königs Schloss
bis zum Meere. Dort warteten die Frauen auf sie und freuten sich, dass
Blondhärchen Krauskopf gefunden hatte und mit sich heimführte, brachten sie
über das Wasser und erzählten, dass ihre Männer bei der Arbeit so großen Trost
durch Blondhärchens klare Stimme hätten.
Da kam Krauskopf ein guter Gedanke, denn er war sehr klug und sagte: »Seht, ihr
Frauen, welch einen wunderbaren Faden wir hier haben. Daran ist Blondhärchens
Stimme von dem Ende der Welt bis zu mir gelaufen. Nehmen eure Männer das eine
Ende davon mit, so werden auch eure Stimmen sie überall erreichen und das würde
sehr tröstlich für sie sein. Darum nehmt ihr den Faden und gebt uns dafür
Blondhärchens Stimme zurück.«
Das sahen die Frauen ein, nahmen den Faden, gaben Blondhärchens Stimme zurück
und freuten sich über den Tausch. Blondhärchen aber rief: »O, du kluger
Krauskopf!« und würde ihn dankbar angelächelt haben, wenn sie ihr Lächeln noch
gehabt hätte. Dafür sang sie ihm das Lied, das sie von der Nachtigall im
Rosenbusch gelernt hatte, und ihm wurde dabei sehnsüchtig und doch wohl zumute.
Am zweiten Meere standen die Schiffer noch bereit und sagten zu Blondhärchen:
»Gut, dass du endlich kommst. Für dein bisschen Lächeln hätten wir wirklich
nicht noch länger auf dich warten können.«
Sprach Krauskopf, dem der Tausch soeben wohl behagt hatte, zu ihnen: »Liebe
Schiffer, was wollt ihr überhaupt mit Blondhärchens Lächeln? Wie kann euch das
wohl Nacht und Nebel erhellen? Seht dagegen, was wir hier mit uns führen. Es
ist ein Lämpchen mit herrlichen Eigenschaften. Steckt ihr es auf einen hohen
Stab, so wirft es seinen Schein weit hinaus und zeigt euch in Nacht und Nebel
sicher den Weg durch die wilden Wasser nach Hause. Nehmt ihr das Lämpchen und
gebt uns dafür Blondhärchens Lächeln. Mir däucht, ich schlage euch da einen
Tausch vor, mit dem ihr wohl zufrieden sein könnt.«
Das däuchte den Schiffern auch. Blondhärchen erhielt ihr Lächeln zurück und
rief: »Nun bin ich wieder wie früher, nur mein Haar fehlt mir noch.«
»Das werden wir auch noch kriegen!« sagte Krauskopf und war sehr stolz auf
seine Klugheit.
Drüben am dritten Meer fuhren die Männer sie rauh an: »Kommt ihr endlich! Meint
ihr etwa, wir hätten nichts Besseres zu tun, als Maulaffen feil zu halten und
auf euch Landstreicher zu warten?«
Ängstlich sagte Blondhärchen: »Gab ich euch doch all meine Locken, auf dass ihr
wartet.«
»Ha!« riefen sie. »Armselige gelbe Locken! Es ist ein schlechter Lohn, den wir
uns da ausbedungen haben.«
Krauskopf spitzte die Ohren. »So gebt uns die gelben Locken zurück, und wir
wollen euch mit etwas anderem bezahlen.«
»Ihr seid Lumpengesindel und Spitzbubenvolk!« schrien die Männer erbost. »Und
geht darauf aus, arme, ehrliche Menschen, die sich ihr täglich Brot kümmerlich
verdienen müssen, ins Unglück zu stürzen. Schreckliches haben wir erlebt! Das
Untier, das die Dirne uns hiergelassen hat, ist toll geworden und aus dem
Stalle ausgebrochen. Wie rasend fuhr es umher, richtete großen Schaden an,
rannte ehrbare Leute über den Haufen und füllte die Luft mit so höllischem
Gestank, dass die Vögel betäubt zur Erde fielen. Mit Mühe und Not haben endlich
die Mutigsten von uns das Untier totgeschlagen.«
Da rang Blondhärchen vor großem Schrecken die Hände, und Krauskopf bedachte,
was sie alles um seinetwillen ausgestanden hatte, ließ das Gold in seiner Tasche
klingen und sagte: »Führt uns über das Wasser, ihr Männer! Und gebt uns
Blondhärchens gelbe Locken heraus, die ihr doch nicht brauchen könnt, ich will
euch gelbes Gold dafür bezahlen.«
Die Männer stießen sich untereinander an und blinzelten sich zu, denn der
Tausch schien ihnen sehr vorteilhaft. Als sie am anderen Ufer angelangt waren,
griff Krauskopf in die Tasche und gab ihnen für die gelben Locken etliche gelbe
Goldstücke, und sagte: »Das ist nun einmal so. Jetzt heißt es, die Füße in die
Hand nehmen und tapfer darauf losmarschieren. Gar soweit kann es ja bis
Großmütterchens Grab unter dem Rosenbusch nicht mehr sein«, nahm Blondhärchen
bei der Hand und marschierte mit ihr darauf los.
Den ersten Berg hinauf waren sie fröhlich und guter Dinge, und die andere Seite
hinunter war es eine Lust, so rasch sprangen sie über Stock und Stein. Aber der
zweite Berg war steil, und die Sonne brannte heiß hernieder, und Blondhärchen
wurde müde und bat: »Geh du voran, Krauskopf. Ich will mich indessen auf diesen
Stein setzen und ein wenig ausruhen, dann komme ich dir schon wieder nach.«
»Das wäre mir eine schöne Geschichte!« antwortete er. »Du bist so klein und
könntest mir in der großen Welt verloren gehen. Da will ich dich doch lieber
den Berg hinauf tragen. Nachher geht’s dann wieder ganz von selbst lustig
bergunter.«
Nahm Blondhärchen auf seine starken Arme und trug sie den Berg hinauf. Die
andere Seite hinunter ging’s dann wieder Hand in Hand, aber fein bedächtig,
denn auch er war müde geworden. Nun stand der dritte Berg vor ihnen, hoch und
sehr steil. Da klagte Blondhärchen: »Nimmer kommen wir da hinauf. Ach! Wie fuhr
es sich doch so bequem in dem Wägelchen!«
Er aber sprach ihr Mut zu und nahm sie wieder auf seine starken Arme. Die Sonne
brannte immer heißer, der Berg wuchs immer höher, helle Schweißtropfen rannen
Krauskopf von der Stirn, und seine Knie begannen zu zittern. Er biß die Zähne
zusammen und keuchte mit Blondhärchen noch etwas höher, dann ging’s aber
nimmer.
Da sagte er: »Ich glaube, es ist das Gold in meinen Taschen, das so schwer auf
mir lastet und mir den Weg so sauer macht. Sitz ein wenig ab, Blondhärchen,
indes ich meine Taschen umkehre. Später hole ich mir das Gold dann wieder.«
Und er tat es, und das gelbe Gold gleißte höhnisch in der Sonne und lief den
Berg hinunter, den Krauskopf es eben heraufgetragen hatte und sprang unten in
einen tiefen Abgrund, also dass es verschwunden war, und man niemals wieder
etwas davon gesehen hat.
Als Krauskopf das wahrnahm, seufzte er tief, denn er hatte das gelbe Gold sehr
lieb gehabt. Aber das Seufzen half nichts. Dann nahm er denn Blondhärchen
abermals in seine Arme, und siehe, ihm war so leicht zu Sinne ohne das Gold in
seinen Taschen, dass er sie mühelos bis zur Spitze des Berges hinauftrug. Und
von oben schauten sie gerade in das heimatliche Tal hinab und jauchzten laut
und sprangen eilends den Berg hinunter.
Und unten im Tal sprang ihnen das Bächlein entgegen, hatte sich einen Kranz von
Vergißmeinnicht aufgesetzt und hieß sie willkommen. Und über die Hügel wogte
das gelbe Korn wie ein goldenes Meer, und die Rosen auf Großmütterchens Grab
dufteten, und die Nachtigall sang, und die Ochsen sagten: »Muh!« Und auf der
Schwelle des Häuschens stand der Pate, lächelte freundlich und sprach:
»Seid mir gegrüßt in der Heimat, liebe Kinder. Aus dem dunklen Wald bin ich
hierher gekommen, um euch das Häuschen instand zu setzen, wo ihr künftig
miteinander wohnen werdet. Seht selbst, wie gut mir das gelungen ist.«
Und sie sahen mit Freuden, wie gut und reichlich der Pate alles instand gesetzt
hatte. Es fehlte nichts, vom Schinken unter dem Dachbalken bis zum weißen Sand
auf dem Fußboden. Und Blondhärchen küsste dem Paten die Hand für alles Gute,
das er an ihnen getan hatte.
Und er deutete auf das Ährenfeld: »Seht wieviel Gold für euch gewachsen ist,
indes ihr fort waret. Und den Flachs im Dachkämmerchen soll Goldhärchen auf
ihrem Rädchen zu Goldgespinst spinnen, damit der Weber euch Linnen und Gewand
davon webe.«
Da fischte Krauskopf in seinen Taschen umher, fand zuallerunterst in einer Ecke
noch ein Goldstück, das zog er hervor und zeigte es dem Paten.
»Dieses Goldstück ist alles, was ich mir aus der weiten Welt mitgebracht habe.
Aber es ist genug, um Blondhärchen ein goldenes Ringlein zu machen, zum
Zeichen, dass ich ihr immer Treue halten und sie nimmer verlassen will.«
So geschah es, und alle waren wohl zufrieden damit, Blondhärchen, der Pate und
Krauskopf auch.
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