Märchen mit offenem Ende von B. Roßmüller
Vor langer Zeit lebte ein kleiner Mann allein in einer kleinen Wohnung in eine noch viel kleineren Stadt. Er war redlich und rechtschaffend. Die Menschen in seiner Stadt kannten und grüßten ihn wenn sie ihn auf der Straße trafen und er war freundlich zu den Menschen. Dennoch konnte er nicht recht Glücklich werden, da er, sosehr er auch suchte, keine Frau finden konnte die Ihn so liebte wie er war: klein, unscheinbar, dicklich und schüchtern. So lebte er allein. Hin und wieder besuchte er Freunde oder diese kamen zu ihm.
Seine größten Schwierigkeiten aber bereiteten ihm seine Träume. Im Traum fühlte er sich als wäre er aus Glas. Wie eine durchsichtige, leicht zerbrechliche Flasche in Form eines Menschen, welche nur an der Stelle, wo das Herz sitzt eine kleine Öffnung besitzt. Zu allem Übel war diese Öffnung mit einem geheimnisvollen Siegel verschlossen. Im Traum hatte er auch Visionen, dass sich sein Leben ändern sollte, wenn es ihn gelänge das Siegel zu öffnen. Nur schemenhaft und niemals gleich waren diese Bilder. Nie war ein Traum so lang, dass er das Ende sehen konnte. Kein Traumdeuter war in der Lage in seinen Schilderungen einen Sinn zu erkennen. Andere wollten ihn sogar wegen seiner mehr als ungewöhnlichen Träume für Krank oder gar Verrückt erklären.
Als diese Träume immer öfter kamen begann er unmerklich daran zu glauben und es schien ihn ratsam, sehr vorsichtig zu werden, allen Stürmen und Gefahren aus dem Wege zu gehen um nicht als ein Häuflein Scherben zu enden, das man achtlos wegwirft und vergisst.
Fortan bemühte er sich darum den Menschen zu gefallen und er tat alles um sich nach ihrem Bilde zu formen. Er wollte nicht mehr der sein der er war.
Geschmückt mit dem schönsten Sonntagslächeln ging er eines Tages wieder, wie so oft, durch die Straßen seiner kleinen Stadt und freute sich schon darauf Leuten zu begegnen, die sein lächeln erwidern würden. „Vielleicht kehre ich ja auch im Kaffeehaus ein“ dachte er bei sich „der Bäcker hat heute früh Erdbeerkuchen gebacken“. Noch in Gedanken an Kaffee und Kuchen versunken wurde er plötzlich von einem merkwürdigen Gefühl befallen. Ein Schaudern lief seinen Rücken herunter. Schüttelfrost packte ihn, ja beinahe Angst. „Wie soll ich das Verstehen?“ murmelte er vor sich hin, “ es sieht fast so aus als wenn mich niemand mehr kennt. Ist das schon wieder einer dieser merkwürdigen Träume, ich wache bald wieder auf und alles ist wieder gut?“ Was war nur geschehen?
Die Stadt war an diesem Tage merkwürdig ruhig, die Menschen, die Häuser, der Klang des Windes ja selbst das Lichtes, alles schien sich verändert zu haben. Wo waren die Vögel, wo die Kinder die ihm um die Beine liefen und ihn als Zwerg hänselten, wo das tratschen der alten Frauen, die sonst immer aus den Fenstern sahen und sich quer über die Straße den neuesten Klatsch erzählten. Jeder wollte nur noch so schnell wie möglich von hier nach dort kommen. Einer stieß den anderen fort um schneller voran zu kommen. Nur noch monotone Eile und eine alles übertönende Stille.
Ein, zwei, drei mal kniff er die Augen zusammen und riss sie blitzartig wieder auf. Es half nicht den vermeintlichen Traum zu beenden, denn es war kein Traum, sondern die Wirklichkeit. Trauer überkam ihn, und auch ein paar Tränen konnte er sich nicht verkneifen. “ Oder habe vielleicht ich mich verändert und die Stadt nur noch nie gesehen wie sie wirklich ist?“ grübelte er viele Tage lang. Im stillen hoffte er noch lange, dass es nur eine Traum war, nur dunkle Gedanken, die von der aufgehenden Sonne vertreiben würden.
Die Tage vergingen und die dunklen Gedanken wurden immer stärker. Er kämpfte dagegen an und es gelang ihm diese dunklen Gedanken in kleine Eisenkugeln zu verwandeln. „Es schmerzt mich“ sagte er vor sich hin „Jedes Mal wenn ich einen dieser dunklen Gedanken in eine Eisenkugel verwandelt habe, ist auch ein Teil von mir, ein guter Gedanke oder eine Phantasie mit in dieser Kugeln gefangen. Wenn das so weitergeht werde ich auch bald wie all die verwandelten Menschen auf der Straße sein.“ Dann weinte er.
Sein Körper, von dem er schon immer glaubte er sei aus Glas schien sich auch nach und nach in Glas zu verwandeln. Sogar an der Stelle wo das Herz ist, war das Siegel, dass er immer in seinen Träumen gesehen hatte. Konnte ein Traum denn zur Realität werden?
Diese Glashaut bewirkte nun aber, dass weder die Eisenkugeln noch die Tränen aus ihm heraus konnten. Sie blieben ihm als schmerzende Erinnerungen erhalten und sanken allmählich in ihn nach unten. Die Tränen sammelte sich in seinem linken Bein und die Kugeln fielen in das rechte, wo sie nach und nach dafür sorgten, dass sein Gang immer schwerer wurde. Der schwere gang hätte sich wohl noch ertragen lassen, aber nach einiger Zeit, unbemerkt, waren beide Beine vollgelaufen und die gesammelten Tränen liefen vom linken Bein herüber ins rechte, über die Eisenkugeln. Sofort begann ein gewaltiges Tosen in seinem Körper. Als wenn Salzsäure mit Zink vermischt würde und unter Tosen und Schäumen Wasserstoff freigesetzt wird. So wuschen die Tränen die guten Gedanken wieder aus den Kugeln heraus. Die Glashaut bewirkte aber auch diesmal, dass nichts entweichen konnte und so wurde der Druck in seinem inneren immer größer. „Noch ein paar Tage und die Glashaut wird zerspringen.“ dachte er und hoffte im stillen, dass niemand in der Nähe wäre, wenn das passieren sollte.
Er brummelte weiter in seinen zotteligen Bart hinein: „Ich will doch nicht, dass jemand durch mich zu Schaden kommt. Auch wenn sie mich jetzt nicht verstehen. Was wenn alles wieder so wird wie früher? Ich will niemanden weh tun…. „
So beschloss er, sich mit einem Panzer zu umgeben der ihn und die anderen schützen sollte. Dieser Panzer war so gebaut, dass er nicht nur die Schläge von außen abwehren konnte, sondern auch der Druck, den die freigesetzten Gedanken in seinem inneren erzeugten, wurden von diesem Panzer aufgefangen. Seine empfindliche Glashaut war sicher. Nichts konnte sie mehr verletzen. Der Panzer war sogar so stark , dass er nicht nur allen Schmerz von ihm fernhielt, nein zu seinem großen Leidwesen wehrte der Panzer auch alle Freude und alles Glück von ihm ab.
So trug er nun viele Jahre diesem Panzer und merkte nach geraumer Zeit nicht einmal mehr dass ihm etwas fehlte. Ob Sonne schien oder ob es regnete; ob Freudentag oder Trauertag, es machte für ihn kaum einen Unterschied.
Die Ironie des Schicksals wollte es, dass er in dieser Zeit eine Frau kennen lernte, die ihn so sah wie er war und ihn so akzeptierte. Sie hatte schon sehr viel Leid in ihrem Leben erfahren und war wohl daher in der Lage durch den Panzer und die Glashaut hindurch zusehen. Sie sah all die guten Gedanken die noch immer in ihn waren und auf Befreiung warteten. Der Mann erkannte auch sehr bald, dass sie es gut mit ihm meinte und selbst wenn er nicht in der Lage war Gefühle zu zeigen, oder zu haben, weil der Panzer sie zurückhielt, blieb er bei ihr und sie richteten sich miteinander fürs Leben ein. Sie versprachen, füreinander da zu sein. Sie teilten alles, was zwei Menschen teilen können. Nur eines blieb ihnen verwehrt : Sein Panzer verhinderte, dass sich ihre beiden Seelen berühren konnten. Manches mal dachten sie darüber nach, seinen Panzer zu entfernen und das Siegel zu brechen, damit die freien guten Gedanken endlich ans Licht gelangen und deren Druck seine Glashaut nicht mehr von innen belastete. Doch aus Angst, den anderen zu verletzen, oder noch schlimmer, die Glashaut zu zerbrechen, schreckten sie jedes Mal davor zurück. Der Panzer und das Siegel blieben unversehrt.
Es war ein stilles Leben, das sie führten und wahrscheinlich wären sie in Eintracht und Frieden gemeinsam durchs Leben gegangen, wenn er nicht eines Tages diese wundersam Musik gehört hätte. Musik wie er sie vorher noch nie gehört hatte. Er suchte, konnte aber nicht feststellen woher sie kam. “ Merkwürdig“ dachte er “ ich dachte immer, dass nichts meinen Panzer durchdringen kann, doch diese Musik bringt meine Glashaut zum schwingen“ In diesem Moment verstummte die Musik so plötzlich wie sie gekommen war. Noch etwas verunsichert von diesem Erlebnis ging er wieder nach Hause, wo er über den Grund für dieses merkwürdige Schwingen nachsann. Er fand keine Erklärung. Da dieses Schwingen lange Zeit nicht mehr auftraten, hätte er es und auch diese wundersame Musik fast wieder vergessen.
Nach vielen Monaten, an einem warmen Sommerabend hörte er die Musik wieder, doch diesmal viel deutlicher. Ohne zu zögern lief er in die Richtung aus der die Musik kam. Raus aus der Stadt, die er auch seit Monaten nicht mehr verlassen hatte, den kleinen Hügel hinauf zu der uralten Linde. Auf dem großen Stein, der seit Menschengedenken unter der Linde lag, saß ein Wesen und spielte auf eine silberglänzenden Harfe. Er blieb stehen und hörte für wenig Augenblicke wie gebannt zu. Da er sich der Erscheinung von hinten her näherte, bemerkte diese ihn nicht. Nein, aus seinen Träumen kannte er das nicht und auch sonst war er sich sicher, so etwas noch nie vorher gesehen zu haben. Der Klang der Harfe ließ ihn alle Furcht und Vorsicht vergessen. „Wer bist du?“ fragte er leise „Was machst du hier so einsam unter der alten Linde? Warum bin ich der einzige der deine Musik hören kann?“ Das Wesen erschrak und suchte für einen Moment Schutz hinter dem Baum. Als es den ersten Schreck überwunden hatte kam es hinter dem Baum hervor und sprach: “ Ich bin ein Engel. Ich wurde gesandt um jemanden zu helfen. Dafür bekomme ich dann meine Flügel Ich weiß aber weder wem ich helfen soll noch wie.“ „Ein Engel“ dachte der Mann bei sich. Sollte er wohl möglich ihm helfen? Aber Wie? Er lebte doch in Zufriedenheit. Sie sahen einander an und schwiegen. Endlich, nach einer endlos scheinenden Pause, brach der Engel das Schweigen : „Da du der einzige bist der mein Harfenspiel hören konnte, glaube ich, dass ich dir helfen soll. Sag mir also, was ich für dich tun kann.“
„Ach lieber Engel“ sagte er “ Ich benötige nichts für mein Leben. Alles ist wohl geordnet. Hilfe erbitte ich nicht, aber einen Wunsch hätte ich. Lass mich die nächsten drei Tage jeweils zur Abendstunde wieder hier auf den Hügel kommen und deiner Musik lauschen. Sie war das erste, das seit vielen Jahren meinen Panzer durchdringen konnte.“ Er hoffte darauf, wenn er noch ein paar mal dem Spiel des Engels zuhörte, wieder eine gut Erinnerung zu erhalten. Die meisten waren ja bereits in den Eisenkugeln gefangen.
Am nächsten Tag ging der Mann wie gewohnt seinen Geschäften nach und um ein Haar hätte er die Abendstunde versäumt. Gerade noch rechtzeitig ging er, ohne Eile, zu der alten Linde. Kaum dort angekommen erschien der Engel und begann ohne ein Wort zu sagen mit seinem Spiel. Sie sprachen auch weiterhin kein Wort miteinander. Ganz in die Musik versunken bemerkte er nicht was sonst noch geschah. Alles um ihn herum schien ihm in diesem Moment unwichtig. Plötzlich war es still geworden. Der Engel und die Musik waren wieder entschwunden. Fröhlich ging er nach Hause zu seiner Frau. Unterwegs bemerkte er jedoch, dass der Druck in seiner Glashaut geringer war als noch gestern und der Panzer nicht mehr so drückte. So schlief er mit diesem guten Gefühl ein und am nächsten morgen erwachte mit einem Lächeln. Beschwingt ging er seinem Tagwerk nach. Es störte ihn nicht, dass die Menschen nur ihrer Wege gingen. Früher als gewohnt machte er Feierabend und ging eiligen Schrittes auf den Hügel. Dort wartete er auf die Abendstunde. Wie vereinbart erschien der Engel und begann wiederum wortlos zu spielen. Dieses mal sah er sich den Engel einmal genauer an. Ein wunderschöner Mädchen saß da vor ihm in einem langen wallenden Kleid. Sie hatte lange lockige Haare, in welche schimmernde Perlen eingeflochten wahren. Ihre Finger flogen über die Saiten ihrer Harfe und er glaubte darin das fließen eines Gebirgsbaches zu erkennen. Er wollte sich jedes Detail genau einprägen, doch da entschwand der Engel wieder. Guten Mutes ging er nach Haus und erzählte seiner Frau von dem Engel und von seiner Musik. Während er noch bilderreich seine Erlebnisse schilderte, bemerkte seine Frau, dass sein Panzer Risse bekommen hatte und sie begann sich Sorgen um Ihren Mann zu machen. Dem jedoch war nichts aufgefallen, da der Panzer nach wie vor hielt und ihn schützte.
Am dritten Tage konnte er es kaum noch erwarten, dass es Abend wurde. Schon am frühen Nachmittag zog es ihn zu der Linde denn er hoffte darauf, dass der Engel früher erscheinen würde als an den vorherigen Tagen. Doch vergebens. In der warmen Sommersonne schlief der Mann ein. Als der Engel erschien, schlief er noch immer. Der Engel berührte ihn sanft am Arm und sprach: „Es ist der letzter Abend an dem ich für dich spiele. Willst du den verschlafen?“ Erschrocken fuhr er auf. Doch was war das? Die Berührung des Engels hatte seinen Panzer gänzlich von ihm abfallen lassen. Schutzlos lag sein Glashaut frei, doch er fühlte sich sicher und geborgen in seinen Nähe. „Bitte…. spiel!“ konnte er noch herausbringen. Der Engel nahm seine silberglänzende Harfe und begann zu spielen. Nach wenigen Tönen bemerkte der Mann, dass sich das Siegel auf seiner Brust löste. Als es kurz darauf herausfiel fühlte er einen heftigen Schmerz der ihn zu Boden warf. Aus Furcht seinen Schutzbefohlenen verletzt zu haben unterbrach der Engel sein Spiel um nach dem Mann zu sehen. Doch der Schmerz erschien ihm nicht als unangenehm. So am Boden liegend liefen alle Tränen und alle Eisenkugeln mit einem mal in seinem Bauch zusammen und auf einen Schlag wurden all seine eingeschlossenen, guten Gedanken und Phantasien wieder frei. Sie entwichen durch die Öffnung in seiner Brust und striffen über die Saiten der Engelsharfe. Die Saiten der Harfe begannen von allein zu spielen und als würde Wasserstoff mit Platin in Berührung kommen, ging ein wundersames Leuchten von der Harfe aus. Ein Leuchten, wie noch nie zuvor ein Leuchten war. Von dem Leuchten ging eine wohltuende Wärme aus, durchdrang seinen Körper und ließ das Glas seiner Haut schmelzen.
Die Glashaut war verschwunden. Nackt und verletzlich stand er vor dem Engel aber ohne jede Angst. „Ich muss jetzt gehen“ Sagte der Engel. „Du bist wieder zum Menschen geworden und ich habe meine Flügel erhalten. Vergiss mich nicht und denke daran : immer wenn du eine einzelne Wolke siehst, dich ein Wind streift oder ein Vogel für dich ein Lied singt, ist es jedes Mal ein Gruß von mir.“ Dann öffnete der Engel seine Flügel um abzuheben und in die Wolken zu fliegen. Der Engel jedoch hatte noch keinerlei Erfahrung mit seinen Flügeln und so kam es, dass der erste Schlag seines linken Flügels den Mann noch ganz leicht berührte. Augenblicklich überkam ihn ein zuvor nie gekanntes Glücksgefühl. Er erlebte einen Augenblick der absoluten Klarheit. Er wussten nicht, dass Menschen die Seele eines Engels berühren, wenn sie von dessen Flügelschlag getroffen werden. Der Engel wusste dies und erschrak. Irritiert wandte er sich noch einmal dem Mann zu. „Verzeih! Doch da es geschehen ist will ich dir helfen damit umzugehen. Alle guten Gedanken die über meine Harfe strömten sind zu Leben bringendem Wasser geworden. Dieses Wasser soll über der Stadt zu Regen werden und den Fluch fortwaschen. Alle werden wieder so sein wie früher, nur du, du wirst dich verändert haben und weiter verändern. “ Der Engel ging diesmal ein paar Schritte zur Seite und entflog ohne ein weiteres Wort des Abschieds. Als er die Wolken erreichte, zog sich über der Stadt ein schweres Gewitter zusammen das kurz darauf ausbrach. Riesige Wassermassen spülten den Staub der Jahre aus der Stadt und der Bach, der an dem Städtchen vorüber floss nahm ihn mit sich fort.
Eigentlich hätte der Mann froh sein müssen, aber irgend etwas bedrückte ihn. Mit gesenktem Kopf ging er nach Hause. Seine Frau wartete bereits auf ihn. Besorgt darum, dass ihm in dem Unwetter etwas zugestoßen sein könnte. Er erzählte von seinem letzten Treffen mit dem Engel und was ihm dabei widerfahren war. Gefasst sah sie ihn einige Augenblicke an. Sie hatte ja bereits am Tag zuvor die Risse in seinem Panzer gesehen und war auf derartiges schon gefasst. Für ein paar Tage versuchte sich der Mann einzureden, dass da nichts wäre, was ihn an den Engel bindet. Doch die Berührung des Engels ging tiefer als irgend etwas vorher. So hatten sie sich in dem Moment verloren, in dem sie sich eigentlich als Menschen hätten treffen können um ihre Seelen zu vereinigen. Sie lebten weiter zusammen, doch eher als Freunde, denn als Mann und Frau und bald darauf fingen sie an sich zu entzweien, schleichend aber unaufhaltsam.
Kapitel 2
Der lange Weg
„Ich werde ausziehen, den Engel suchen und fortan für Ihn da sein. Wann immer er mich braucht, ich werde da sein!“ beschloss der Mann. Er war fest entschlossen alle Brücken hinter sich abzubrechen. Ein winziger Teil in ihm, ein Rest von klarem Verstand, sagte ihm jedoch, dass Engel und Menschen nicht zusammen gehören. „Engel sind Wesen aus einer anderen Dimension. Manchmal steigt einer herab um uns zu helfen, aber halten kann man sie nicht.“ Sagte er immer wieder zu sich. Sein Kopf und seine Herz redeten in verschiedenen Sprachen. Zwar verstand er diese Beiden Sprachen, aber weil er so lange Jahre alles mit dem Verstand geregelt hatte, ließ er sich dieses mal darauf ein, dass das Herz die Entscheidung treffen sollte.
Um seine Erinnerungen aufzufrischen ging er noch einmal auf den Hügel. Er setzte sich auf den Stein, auf dem der Engel saß und summte die Melodie, die der Engel am letzten Tag für ihn gespielt hatte. Plötzlich schien es Ihm als würde sein singen erwidert. „Engel, wo bist du?“ rief er und schaute sich um. Der Engel aber war nicht dort. Niemand war dort. Da fiel sein Blick auf etwas glänzendes. Es war eine Feder aus den Engelsflügen. Ohne darüber nachzudenken nahm er sie und drückte sie an seine Brust. “ So habe ich doch etwas von dem Engel, das ich in Händen halten kann.“ freute er sich, denn er ahnte nicht was es mit der Feder auf sich hatte. Noch während dieses Gedanken bohrte er sich die Feder in den Leib. Genau an der Stelle wo noch vor ein paar Tagen das Siegel war. Kurz darauf kam in ihm ein seltsamer Wunsch auf. „Wenn doch die Feder in meinem Herzen anwachsen würde, so wäre ich auf ewig mit dem Engel verbunden.“ kam es ihm in den Sinn. So ließ er die Feder in seiner Brust stecken und versteckte sie vor den Augen Menschen. Am nächsten Morgen merkte er, dass sein Wunsch in Erfüllung ging. Die Feder begann Wurzeln zu schlagen. Unaufhaltsam wuchsen sie in Richtung seines Herzen. Jetzt war er auf seltsame weise mit dem Engel verbunden. Ganz allmählich begann auch die Feder zu wachsen. Sie wurde zu etwas, das wie ein Baum aussah, aber an stelle von Blätter Federn hatte. Am liebsten hätte dieses Bäumchen allen gezeigt und heraus geschrienen: „Da seht her, ich Liebe einen Engel und trage ihn tief in meinem Herzen“ doch war dies unmöglich. Die Menschen hatten angst vor allem was sie nicht kannten. Der Engel wäre als Hexe verschreien worden und wenn die Gerüchte erst einmal richtig im Umlauf wären, hätten sie den Engel gejagt und möglicher Weise vernichtet. Er musste den Engel schützen. Niemand, außer einer Hand voll guter Freunde, durfte von dem Engel wissen. Er verbarg das Bäumchen fortan unter einen Mantel aus Schweigen. Die Menschen um ihn herum sahen, dass er sich veränderte, aber niemand wusste wen oder was er unter dem Mantel verbarg. Nur manchmal, wenn er ganz allein war, öffnete er den Mantel und sprach mit dem Bäumchen. Er sprach mit ihm, als wäre es der Engel selbst und es kam, dass er bald nur noch mit seinem Bäumchen redete. So wuchs das Bäumchen dank der guten Pflege zu einem stattlichen Baum mit einer mächtigen Krone heran. Nach und nach verlor er die Welt um sich herum aus den Augen da er nur noch die Federn sah. Er glaubte ganz fest, dass es der Engel war den er sah und so ließ er es geschehen. Einige male boten ihm die Freunde, die um seinen Engel wussten an, das Bäumchen zu stutzen um ihm den Blick auf die Welt zu ermöglichen. Vehement wehrte er sich. Sein Bäumchen war ihm heilig und wären es nicht echte Freunde gewesen, wer weiß, dann wäre er mit Sicherheit sehr einsam geworden.
Das Bäumchen wuchs aber nicht wie erhofft in sein Herz hinein , sondern die Wurzeln legten sich darum und schnürten es ein. Die Wurzeln schnürten sein Herz so sehr ein, dass er immer wenn er an den Engel dachte schmerzen verspürte. Er dachte oft an den Engel, eigentlich immer und so hatte er beständig diese Schmerzen. Er jedoch hielt es für Sehnsucht und ließ auch dies geschehen.
Der Engel wusste um die Torheit des Mannes, doch da er ein herzensgutes Wesen hatte, stieg er noch ein paar mal herab um sich mit dem Mann zu treffen. An den Tagen an denen er den Engel traf, spürte er keine Schmerzen. Schon Tage vor den Treffen schien ihm alles leichter von der Hand zu gehen. Die Wurzeln des Bäumchens lockerten sich für die Stunden da der Engel in seiner Nähe war. Jedes Mal aber wenn der Engel wieder dahin zurückging wo er hingehörte, zogen sich die Wurzeln noch ein wenig fester um sein Herz. Trotz der immer größeren Qualen ließ sich der Mann von niemanden helfen. Lieber wollte er zu Grunde gehen als den Engel zu verraten.
Eines Tages erreichte ihn eine Nachricht seines Engels : “ Ich werde für lange Zeit weg sein. Mein himmlischer Begleiter und ich werden eine Reise auf die andere Seite des Lichts machen.“
Der Mann wurde sehr Nachdenklich. “ Die andere Seite des Lichts“ überlegte er „ist ein gefährlicher Ort. Gut, der Engel ist ein Engel und er kann sich meist selbst helfen und außerdem hat er ja noch einen Begleiter. Aber trotz dem mache ich mir Sorgen, das Recht habe ich.“ Bald darauf ließ er seinem Engel noch eine letzte Nachricht zukommen : Solltet Ihr beiden Engel in eine Gefahr geraten, in der Ihr Hilfe von dieser Seite des Lichtes benötigt so gib mir ein Zeichen. Ich komme und werde euch mit meinen irdischen Mitteln Helfen. Ich werde einen Spiegel aufstellen, vor dem Tag und Nacht eine Lampe brennen wird. In diesen Spiegel werde ich jeden Abend sehen. Wenn das Licht im Spiegel erlischt weiß ich das du in Gefahr bist.
Der Mann hatte dem Engel ein Versprechen gegeben und der Federbaum verhinderte, dass er daneben noch etwas sah. „Er hat mir geholfen als ich in Not war, also werde ich Ihm helfen wenn er mich braucht.“ beschloss er für sich. Er hatte diese Aufgabe selbst übernommen, obwohl ihn niemand darum gebeten hatte. Er begann sich auf den Tag vorzubereiten, von dem er zutiefst hoffte, dass er nicht käme. Er lernte alles, was man auf dieser Seite des Lichts von der anderen Seite wusste. Irgendwann war er bereit, bereit auch in sein eigenes Verderben zu gehen. Nichts und niemand hätte ihn jetzt noch aufhalten können.
Jeden Abend sah er in den Spiegel, ob ein Zeichen seines Engels zu sehen war. Jeden Abend ging er zum Sonnenuntergang hinaus in den Garten und schickte einen guten Gedanken auf die Reise. Jeden Abend wurde die Furcht größer, dass dem Engel etwas zugestoßen wäre, da keine Nachrichten kamen.
Seine Frau, bei der er immer noch lebte, sah wie er sich quälte. Er jedoch wies jede Hilfe von ihr zurück. Er quälte sich vor allem aus Angst davor sein Versprechen einlösen zu müssen. Der Gedanke, dass dem Engel etwas zugestoßen sein könnte ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Trotz dem hielt er sich an sein Wort gebunden.
Nach vielen langen Monaten erschien ein Zeichen auf seinem Spiegel. Der Engel kam zurück und er fühlte sich unendlich viel leichter, da er seines Wortes ledig war. Ganz allmählich begann er seine Umwelt wieder wahrzunehmen, da das Bäumchen in der Langen Zeit ein wenig kleiner geworden war. Er sah, dass er fast sein Leben ruiniert hatte, nur um ein Wort zu halten, um das ihn niemand bat. Er bemerkte sogar seine Frau wieder. Jetzt wo er begann wieder klar zu sehen, nahm er den Rat seiner Freunde an und begann nach und nach den Baum zu stutzen. Bei Jedem Ast den er ausschnitt floss sein Blut aus der Wunde.
Zu jener Zeit beschloss seine Frau ihm zu helfen und wandte sich ohne Wissen ihres Mannes an den Engel . “ Lieber Engel, mach ein Ende! Ich liebe meinen Mann, egal was er getan hat. Lass ihn nicht mehr Leiden. Mach ihn zum Engel oder sage dich ein für alle mal von ihm los. So wie es ist, kann es nicht weiter gehen.“ Am nächsten Abend erreichte den Mann eine Nachricht des Engels: “ Hör mich an, es gibt keinen gemeinsamen Weg für uns. Ich werde dich nie zum Engel machen. Auch wenn es weh tut, aber schneide das Bäumchen am Stamm ab. Die Wurzeln können dir bleiben. Nur so wirst du dein eigenes Leben finden und die Wurzeln sollen dich an mich erinnern.“
Der Mann tat was der Engel ihn geheißen. Mit einer scharfen Säge rückte er dem Stamm zu Leibe und schnitt ihn durch. Die große Wunde ließ sein Herz ausbluten. Drei Tage fühlte er sich wie leer, aber doch erleichtert. Kurz darauf wandte sich der Engel an seine Frau: “ Hat er den Baum durchtrennt? Ist er zu dir zurückgekehrt?“ fragte er und sagte noch: „Ich glaube nicht, dass du mit ihm glücklich wirst, denn er hat einen miesen Charakter. Mir war der Kerl eh schon lange lästig. Wie hältst du das nur mit ihm aus?“ Und seine Frau antwortete dem Engel : „Mag sein, saß wir nicht mehr miteinander glücklich werden, aber ich Liebe ihn so vorbehaltlos, wie er dich einmal geliebt hat. Es scheint fast so, als würden die Menschen dir in Liebe verfallen, nur du weißt noch nicht, was Liebe wirklich ist. Du würdest nie so reden wie du es tatest.“ Der Mann hatte aus versehen das Gespräch mit angehört. Es schien ihm wie ein Dolchstoß von hinten, an dem man nicht gleich stirbt, sondern nur ganz langsam innerlich verblutet. “ Ich bin dem Engel zu wider. Dann soll es wenigsten schnell gehen“ sagte der Mann zu sich und riss sich den Stumpf mit den Wurzeln aus der Brust. Brennende Schmerzen verzehrten ihn. Er hatte alles verloren wofür er gekämpft, wofür er gelebt und was er geliebt hatte. Er hoffte nur noch, dass die Zeit seine große Wunde heilen lässt und er wieder Ruhe fände.
Von dem Engel hatte nie wieder ein Mensch in der kleinen Stadt etwas gehört.
Er konnte jedoch, den Engel und seine Zauberharfe nie mehr vergessen, denn so lange er lebte zogen Wolken am Himmel, ging der Wind und sangen die Vögel.
Dieses Märchen wurde mir von Laut’nHals ( Lautnhals@t-online.de ) zur Verfügung gestellt.
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