Ägyptisches Märchen

In den Mythen des alten Ägypten war die Krabbe ein Riesentier, das die Göttin des Nils auf dem Rücken trug. Aber für viele der einfachen Leute war sie ein kleines, freundliches Tier, über das sie gern Geschichten erzählten.

Es war einmal eine Krabbe, die nichts Besseres zu tun wusste, als Fische zu beobachten, die in einem großen Wasserbehälter lebten. Sieben Fische waren es, und nach Meinung der Krabbe war einer hübscher als der andere.

Eines Morgens, als die Krabbe erwachte, entdeckte sie, dass einer der Fische verschwunden war, und zwar der schönste und fetteste von allen. Die sechs Zurückgebliebenen drängten sich in einer Ecke des Wasserbehälters zusammen; als die Krabbe sie fragte, wo ihr Bruder hingekommen sei, verdrehten sie bloß ihre Augen und schrien: „Unbekannt

Nun stand ein sehr stolzer Kranich auf einem Bein am Ufer. Sofort beantwortete er die Frage der Krabbe: „Du wirst nichts erfahren von all diesen dummen Fischen. Sie sind so erschrocken, dass sie beinahe ihren Verstand verloren haben. Es waren nämlich gerade drei Fischer hier, einer geschickter als der andere, und jeder hatte es auf den fettesten, jüngsten Fisch abgesehen. Und da ich ein freundlicher Vogel bin, brachte ich das dumme junge Ding in Sicherheit. Das tat ich wahrhaftig.“

Der Kranich streckte seinen langen Hals aus, zog ihn wieder ein und stand sehr hochmütig auf einem Bein; er tat, als habe er sich nie von der Stelle gerührt.

Oh, dachte die Krabbe, wäre ich nur ebenso tapfer und edel wie der Kranich! Und sie vergrub sich in den Sand, beschämt darüber, dass sie nicht selber den Fisch gerettet hatte.

Am nächsten Morgen buddelte sich die Krabbe wieder aus dem Sand und ging, um nach den Fischen zu sehen. Sie zählte sie und stellte fest, dass jetzt zwei fehlten. Die fünf zurückgebliebenen Fische schwammen in einer Ecke des Wasserbehälters umher, verdrehten ihre Augen und riefen klagend: »Unbekannt!“

Die Krabbe eilte an den Fluss hinunter; da stand der Kranich immer noch auf einem Bein, als hätte er sich nie von der Stelle gerührt.

»Herr Kranich! Herr Kranich!« schrie die Krabbe. »Sind die Fischer wieder hier gewesen?«

„Ja, sie sind hier gewesen“, antwortete der Kranich. „Sie hatten es auf den hübschesten Fisch abgesehen; er war beinahe so fett wie der erste und genau so saftig und zart. Also brachte ich ihn in Sicherheit.“

Nun schämte sich die Krabbe noch mehr als das erste Mal, dass nicht sie selbst den Fisch gerettet hatte. Sie hatte sich ja die ganze Nacht im Sande versteckt gehabt und darum keinen Fischer gesehen. Nun schwur sie, diese Nacht nicht einen Augenblick zu schlafen, sondern nur die Fische zu bewachen, aufmerksamer als je zuvor.

So setzte sich die Krabbe gegenüber dem Wasserbehälter nieder und wandte ihren Blick nicht von ihm, bis der Mond unterging. Nun, da es so dunkel geworden war, dass sie nichts mehr sehen konnte, wurde sie schläfriger und schläfriger, und ehe sie es wusste, war sie eingeschlafen.

Als die Sonne aufging, erwachte die Krabbe und war furchtbar beschämt. Schnell sprang sie auf; zählte die Fische und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass in dieser Nacht keiner abhanden gekommen war. Fröhlich schwammen sie im Wasserbehälter umher.

Voll Freude eilte die Krabbe zum Fluss hinunter, wo der Kranich stand, als ob er seit Beginn der Welt dort gestanden wäre.

„Herr Kranich! Herr Kranich!“ schrie die Krabbe. „In dieser Nacht sind die Fischer nicht gekommen. Ich saß neben dem Wasserbehälter, und das schreckte sie ab.“

Der Kranich streckte seinen langen Hals aus und zog ihn wieder ein. Dann schüttelte er seine Federn und glättete sie mit seinem langen Schnabel und schaute dann auf die Krabbe nieder.

„Du irrst dich, meine Freundin“, sagte der Kranich. „Die Fischer waren hier.“

„Oh!“ machte die Krabbe leise.

„Ja. Die Fischer kamen“, setzte der Kranich fort, „sie kamen in der Dunkelheit zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang. Sie trugen Fackeln, die hundertmal heller leuchteten als die Sterne; die Fackeln fraßen die Dunkelheit auf, so dass jeder Fisch wie ein leuchtender Edelstein im Wasser zu sehen war.“

Der Kranich sprach mit so lauter und schrecklicher Stimme, dass es schien, als wäre das Ende der Welt gekommen; die Krabbe wurde blass und zitterte.

„Dann fanden die Fischer keinen Fisch, der ihnen gefiel?“ fragte sie zaghaft.

„Sie schauten nicht auf die Fische“, sagte der Kranich mit Donnerstimme. „Sie schauten auf dich!“

Jetzt wünschte die Krabbe, sie hätte sich ihr ganzes Leben lang von Luft genährt, damit sie dünn und abgemagert in ihrer Schale läge.

„Ich bin zu fett“, seufze sie, „ich wusste ja, dass ich zu fett bin. Ich bin dick und saftig. Die Fischer werden mit ihren Körben kommen und mich in ihr Haus tragen, wo man mich kochen und verspeisen wird.“

„Soll ich dich in Sicherheit bringen?“ fragte der Kranich heuchlerisch.

„Oh, wenn das möglich wäre!“ klagte die Krabbe. „Aber ich habe mir geschworen, dass ich hier bleiben und die Fische bewachen werde.“

„Dumme Krabbe!“ spottete der Kranich. „Wie kannst du die Fische bewachen, wenn man dich in einem Kessel munter gar kochen wird?“

„Das ist wahr“, jammerte die Krabbe. „Das ist leider wahr.“

„So ist es“, bestätigte der Kranich; im nächsten Augenblick schoss sein langer Hals hervor, sein Schnabel packte die Krabbe, und er flog mit ihr davon. Sie flogen immerzu, bis sie zu einer klaren Felsenquelle kamen, die in dem Schilf, das am Nilufer wuchs, verborgen lag. Der Kranich neigte seine Flügel, ließ sich hinuntergleiten und legte die Krabbe auf den Felsen.

„Meine Freundin, hier bist du vor den Fischern sicher.“

Sicher?! O Schreck! Nachdem die Krabbe zu Atem gekommen war, blickte sie um sich. Der ganze Felsen war mit Fischknochen übersät, und darunter erkannte sie die Knochen ihrer Freunde.

„Mörder!“ schrie sie. „Mörder! Es gab gar keine Fischer ! Du selber raubtest die Fische!“

Nun begann ein fürchterlicher Kampf. Der Kranich bearbeitete die Krabbe mit seinem starken Schnabel, die Krabbe klapperte mit ihren Scheren und stürzte sich auf den Kranich.

Schließlich gelang es der Krabbe, ihre scharfen Krallen in den langen Hals des Kranich zu klammern. So hing sie an ihm, drückte fester und fester zu, bis die Kehle des Kranich so fest zusammengeschnürt war, dass der Vogel kaum noch atmen konnte. Sein Gesicht rötete sich immer stärker , während er um Atem rang.

Endlich bat der Kranich um Gnade, und die Krabbe ließ ihn los. Der Kranich flog davon, bis er nur noch als ein winziger Fleck am blauen Himmel zu sehen war. Die Krabbe ging nach Hause, um den Fischen zu berichten, wie sie überlistet worden waren.

So kam es, dass der Kranich heute noch ein rotes Gesicht hat und einen so engen Schlund, dass er nur kleine Tiere, wie Schnecken, schlucken kann; und so kam es, dass die Krabbe in Ägypten als die Beschützerin der Fische bekannt geworden ist.

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