Märchen aus Nepal
In einem einsamen Dorf hoch in den Bergen von Nepal lebte einst eine alte Frau mit ihrem einzigen Sohn. Die beiden waren sehr arm und fristeten ihr Dasein, indem sie für die anderen Dorfbewohner die niedrigsten Arbeiten verrichteten. Wenn die Dinge besonders schlecht standen, mussten sie sogar betteln gehen. Mit den Jahren wurde der Junge aber immer unzufriedener mit seinem Leben. Eines Tages fragte er: „Mutter, weshalb sind wir so arm? Weshalb haben wir so wenig um satt zu werden und uns zu kleiden?“
Seine Mutter antwortete mit leiser Stimme: „Wir müssen es hinnehmen, mein Sohn, denn es ist der Wille der Götter. Es ist unser Schicksal.“
Der Junge aber war mit dieser Antwort ganz und gar nicht zufrieden, und er beschloss, sofort aufzubrechen, um den Herrn der Welt zu suchen und ihm dieselbe Frage zu stellen. Natürlich erhoffte er sich von ihm eine bessere Antwort.
Nach vielen Stunden kam er in einen dichten Urwald. Und da er mittlerweile erschöpft und hungrig war, setzte er sich nieder, um sich auszuruhen.
Der Zufall wollte es, dass gerade der Gott Schiwa und die Göttin Parvati vorbeikamen. Als Schiwa den Jungen erblickte, fragte er ihn: „Mein Kind, was tust du ganz allein an diesem Furchteinflößenden Ort?“
Da erzählte der Junge Schiwa und Parvati von seiner Mutter, die so arm war, dass sie betteln musste. „Ich will den Herrn der Welt finden, um ihn zu fragen, warum wir so arm sind. Wenn ich erst einmal die Antwort auf diese Frage kenne, werde ich auch reich werden.“
Die Geschichte des Jungen bewegte den Gott und die Göttin sehr, und Parvati sprach zu Schiwa: „Mein Herr und Meister, lasst uns diesem Kind noch heute ein Geschenk machen.“
Schiwa aber schüttelte bedächtig den Kopf „Nein, meine liebe Parvati, das können wir nicht tun, denn der Junge und seine Mutter dürfen nicht mehr bekommen, als das Schicksal ihnen bestimmt hat. Was immer darüber hinaus in ihren Besitz gelangt, wird auch bald wieder verloren sein, und dann wird es ihnen schlechter gehen als zuvor“
Parvati war nicht zufrieden mit dieser Antwort. Sie setzte Schiwa so lange zu, bis er schließlich seine Meinung änderte und dem Jungen eine goldene Halskette zum Geschenk reichte. Der Junge war überglücklich! Freudig nahm er die Halskette, bedanke sich und machte sich auf den Weg nach Hause zu seiner Mutter Doch als er so dahinschritt, fühlte er sich elender und elender. Als er es nicht mehr länger aushalten konnte, legte er sein Bündel und die Halskette beiseite, um sich im Gebüsch zu erleichtern. Währenddessen kam ein großer Adler vorbeigeflogen. Als dieser das Funkeln des Goldes erblickte, stieß er herab und flog mit der Halskette davon.
Der arme Junge weinte während seines ganzen Heimwegs. Und was noch schlimmer war: Als er schließlich daheim anlangte, wollte ihm seine Mutter kein einziges Wort von dem, was er erzählte, glauben. „Das ist eine sehr weit hergeholte Geschichte“, schnaubte sie. „Mach, dass du hinunterkommst ins Dorf und eine nützliche Arbeit findest, mit der du dir dein Brot verdienen kannst.“
Doch am nächsten Tag beschloss der Junge, sich noch einmal auf den Weg zu machen, um den Herrn der Welt zu suchen und ihn zu fragen, warum seine Mutter und er so arm seien. Er schlich sich aus dem Haus, bevor seine Mutter erwachte, und er lief und lief, bis ihn sein ganzer Leib schmerzte. Schließlich kam er zu derselben Stelle wie am Tag zuvor Und wieder kamen Schiwa und Parvati vorbei. Sie blieben stehen und fragten ihn: „Wie ist es dir mit der goldenen Halskette ergangen, die wir dir geschenkt haben?“ Als sie vernahmen, wie er sie verloren hatte, waren sie sehr traurig, doch Schiwa bestand darauf, dass der Junge nichts von dem, was man ihm schenkte, würde behalten können, solange sein Schicksal sich nicht wendete.
Parvati hatte wiederum großes Mitleid mit dem Jungen und bat Schiwa, ihm zu helfen. Dieser weigerte sich, aber schließlich überredete sie ihn, sie zu dem großen Gott Brahma in seinem Palast hoch über den Bergen zu begleiten und ihn um Hilfe zu bitten. So machten sie sich auf den Weg. „Dieser Junge ist sehr tapfer, großer Meister. Bitte tut etwas, um diesem außergewöhnlichen Kind zu helfen“, so bat das Paar. Der große Gott Brahma hörte sich ihre Geschichte genau an. Dann gab er Parvati einen Diamantring, den sie dem Jungen bringen sollte.
Mit dem Ring in der Tasche und Freude im Herzen machte sich der Junge wieder auf den Heimweg. Nach einer Weile wurde er durstig und er machte Rast an einem Fluss, um zu trinken. Doch als er sich hinkniete, um Wasser zu schöpfen, fiel ihm der Ring aus der Tasche und wurde sofort von einem Fisch verschlungen. Der arme Junge war verzweifelt! Er weinte immerfort, als er nach Hause lief, doch seine Mutter sagte: „Du dummes Kind! Wie kannst du denken, dass ich diese Geschichte glaube?“
Die Nacht kam und ging, und am nächsten Morgen fühlte sich der Junge wieder kräftig und war entschlossener denn je, eine Antwort auf seine Frage zu finden. Er ging bis es später Nachmittag war, und setzte sich dann hin, um auszuruhen. Und erneut kamen Schiwa und Parvati vorbei. Sofort verlangten sie zu wissen, ob es ihm gelungen war, seinen kostbaren Besitz heim zu seiner Mutter zu bringen.
„Oh nein“, sagte der Junge und weinte. „Ich lief, bis ich vor Durst nicht mehr laufen konnte. Als ich mich niederkniete, um aus dem Fluss zu trinken, fiel der Ring ins Wasser und wurde von einem Fisch verschlungen. Und so muss ich immer noch den Herrn der Weit finden, um eine Antwort auf meine Frage zu erhalten.“
Jetzt gingen auch Schiwa die Tränen des Jungen zu Herzen, und so entschied er, noch einmal zu dem großen Gott Brahma zu gehen. Gemeinsam beschlossen Brahma und Schiwa, sich an Wischnu selbst zu wenden, um für das Kind etwas zu erreichen. Und als dieser die Geschichte des Jungen vernahm, war sogar Wischnu bewegt. So beschloss er, dem Jungen einige Diamanten zu schenken.
Diesmal lief der Junge ohne Unterbrechung nach Hause, denn er wollte seinen Schatz nicht wieder auf der Reise verlieren. Er lief und lief, ohne auch nur einmal anzuhalten, und erreichte ihre Hütte, noch bevor die Mutter von ihrem Bettelgang zurückgekehrt war Also legte er die Diamanten an einen sicheren Platz und suchte, vor Aufregung laut rufend, seine Mutter
Diese wagte es kaum, die Geschichte zu glauben, und sie eilten zurück zu ihrer Hütte. Doch was mussten sie dort sehen: Ein Dieb war in ihre Hütte eingebrochen und hatte alle Diamanten gestohlen! Jetzt war die Mutter sehr verärgert und sie schalt ihren Sohn, weil er seine Tage damit verbrachte, herumzulaufen und sich Geschichten auszudenken an statt betteln zu gehen oder sich nach einer Arbeit umzusehen. Der arme Junge ging ohne ein Wort hinaus auf die Felder und weinte bitterlich vor Enttäuschung.
Aber schon am nächsten Morgen fühlte er sich wieder besser, und noch einmal machte er sich auf den Weg in den Urwald. Schiwa vermochte kaum zu glauben, dass der Junge trotz all seiner Plagen und Verluste noch nicht aufgegeben hatte. „Wie erstaunlich ist der Geist dieses Jungen“, sagte er zu Parvati. Und diesmal ging er geradewegs zur Göttin des Glücks, um sie zu bitten, etwas für das Kind zu tun.
Die Göttin des Glücks war so beeindruckt, dass sie selbst zu dem Urwald hinabstieg und dem Jungen eine einzelne Kupfermünze schenkte. Und obwohl es nur eine einzige Münze war, dankte ihr der Junge höflich und machte sich auf, um seinen Schatz nach Hause zu bringen. Er lief zu seiner Mutter, umarmte sie und sprach: „Jetzt verfüge auch ich über einen kleinen Besitz, Mutter, und wir brauchen nicht mehr betteln zu gehen.“ Sie freuten sich miteinander und gaben diesmal gut auf die Münze Acht.
Bald darauf kam ein Fischer vorbei, der seinen Fang verkaufen wollte. Und diesmal konnten auch die Mutter und ihr Sohn etwas kaufen. „Gib uns bitte einen großen Fisch“, sagte der Junge voller Genugtuung, „denn heute haben wir Geld, um dich zu bezahlen.“
Dann nahm der Junge ein Messer und machte sich daran, den Fisch zum Braten vorzubereiten. Doch wie groß war sein Erstaunen, als er den Fisch ausgenommen hatte! Denn im Innern des Fisches fand er den Ring, den er in den Fluss hatte fallen lassen. „Was haben wir für ein Glück, Mutter! „, rief er voller Freude. Und seine Mutter nahm den Ring und betrachtete ihn voll Verwunderung.
Dann stieg der Junge auf einen nahe gelegenen Baum, um etwas Holz zu holen, mit dem er das Feuer anfachen konnte. Ganz oben auf der Spitze des Baums befand sich das Nest eines Adlers. Als der Junge einen Blick in das Nest warf — wie erstaunte er, dort die goldene Halskette zu sehen, die er verloren hatte. Doch damit sollte es des Glücks immer noch nicht genug sein. Als er von dem Baum herabgestiegen war und nach Hause ging, hatte sich vor der Tür ihrer Hütte der Dieb eingefunden. Reumütig gestand er, er habe in der Nacht einen Traum gehabt, der ihm sagte, er müsse die Diamanten den armen Leuten zurückgeben, denen er sie gestohlen haue.
So verhalf die Göttin des Glücks einer armen Mutter und ihrem Sohn zu großem Reichtum!
Aus Mütter und Söhne, Märchen aus aller Welt“, Verlag Urachhaus,
Originaltitel „Mother and Son“ Barefoot Books Bristol
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