In Schnepfenburg lebten einmal ein Bruder und eine Schwester, die hatten sich sehr lieb, und eines mochte vom anderen nicht lassen. Da sie arm waren, wohnten sie in einer Hütte, die am Waldrand stand, der Bruder arbeitete als Taglöhner bei einem Bauern, und das Mädchen kümmerte sich um den kleinen Haushalt, spann wohl auch, wenn sie Zeit hatte, und verdiente sich auf diese Art manchen Groschen dazu.

Zwischen den Geschwistern fiel nie ein böses Wort, und oftmals sagte der Bruder zu der Schwester: „Ich wollte, es bliebe immer so zwischen uns, dann wären wir glücklich bis an unser Lebensende.“

Da geschah es, dass der Bruder sich eines Tages in ein reiches Mädchen verliebte, das im Nachbardorf bei den Eltern lebte. Es war nicht sonderlich schön, es war auch nicht sonderlich gut, es war nur reich. Die Schwester zu Hause mochte weinen und den Bruder immer wieder anflehen, doch von der Bauerntochter zu lassen, es brächte nichts als Unheil über sie, der Bruder hörte nicht darauf.

Er lächelte nur einfältig, nahm die Schwester in den Arm, küsste sie und sagte: „Lass mich gehen, ich kann nichts dafür, dass ich das Mädchen liebe. Zwischen uns bleibt alles, wie es war. Nur muss ich jetzt fort, denn ich will mich auf die Lauer legen, viel- leicht sehe ich sie. Man sagt, sie kommt heute zum Tanz in unser Dorf. Ach, Schwester, ich gäbe vieles darum, wenn ich mit ihr tanzen könnte.“

Da sah die Schwester wohl, dass ihr Reden nutzlos war. Sie bürstete den Anzug des Bruders aus, damit er sich auf dem Tanzboden sehen lassen könne, richtete ihm ein gutes Essen, küsste ihn zum Abschied, und obwohl sie traurig war, dass sie allein zu Hause bleiben musste, so wünschte sie ihm doch von Herzen Glück. Denn mehr als die eigene Freude galt ihr die Freude des Bruders.

Er ging zum Tanzboden und ließ den ganzen Abend kein Auge von dem Mädchen, und wie es so geht, auch er gefiel ihr, sie tanzten zusammen und blieben zusammen, und als sie den Heimweg antreten musste, legte er ihr den Arm um die Schulter und führte sie nach Hause. Am anderen Abend aber wollten sie sich wiedersehen.

Der Abend kam, der Bruder ging wieder zum Tanz. Doch diesmal dachte die Schwester bei sich:

Wenn er sich freut, so will ich mich wenigstens mit ihm freuen können. Ich will auch hingehen und ihn und sein Mädchen ansehen, denn ich muss wissen, ob sie auch die Rechte für ihn ist.

Sie kämmte sich das lange Haar, schloss die Hütte zu und ging ins Dorf. Dort sah sie ihren Bruder tanzen, aber wenn sie geglaubt hätte, dass sein Anblick sie erfreuen würde, so hatte sie sich arg getäuscht. Kaum sah sie, wie er den Arm um das fremde Mädchen legte, da wurde ihr das Herz schwer, sie wandte sich ab, ging durch den Abend zum See, der in der Nähe des Dorfes lag, setzte sich ins Gras und begann zu weinen, so bitterlich, dass sogar die Nachtigall, die soeben singen wollte, angesichts eines solchen Schmerzes innehielt. Wie das Mädchen so saß, rauschte es plötzlich neben ihm, und ein Wassermann stieg aus dem See herauf.

Er kam ans Ufer, setzte sich zu ihr und sagte:

„Deine Tränen sind auf das Wasser gefallen und haben mich gerufen. Nun sage mir, was dich bedrückt. Vielleicht kann ich dir helfen.“

Zuerst erschrak das Mädchen sehr, als es aber sah, dass der Wassermann ein gutes Gesicht hatte, ja, dass er sogar schön war, erzählte es ihm von seinem Bruder und dem fremden Mädchen. Der Wassermann lächelte darauf nur, stand auf deutete zum Dorf hin und hob das Mädchen auf.

„Komm“, sagte er, „wir wollen zusammen zum Tanz gehen. Ich will mit dir tanzen, besser als es die Menschen vermögen. Du bist nur traurig, weil du meinst, das fremde Mädchen hätte dir die Liebe deines Bruders gestohlen. Dein Bruder liebt dich noch wie früher aber es ist jemand gekommen, der ist ihm wichtiger als du. Das tut weh, ich weiß. Vielleicht aber kommt auch zu dir jemand, der dir wich tiger wird als dein Bruder. Dann wirst du wieder glücklich sein.“

Sie gingen zum Tanzboden und tanzten zusammen, und sie waren das schönste Paar weit und breit. Die anderen Burschen und Mädchen schauten zu ihnen hin und flüsterten miteinander, nur der Bruder merkte nichts, denn er hatte nur Augen für seine Liebste. Die Schwester tanzte so viel, wie sie noch nie getanzt hatte, doch als die Kirchglocke Mitternacht schlug, küsste der Wassermann sie auf die Stirn und verschwand.

In dieser Nacht lag das Mädchen lange wach und dachte darüber nach, wie es doch merkwürdig sei, dass der Wassermann ihm nach den kurzen Stunden fast lieber sei als der eigene Bruder. Eine Sehnsucht wurde in ihm wach, und es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre es zum See geeilt und hätte den Wassermann gerufen. Aber da kehrte gerade der Bruder zurück, und so blieb das Mädchen in der Hütte.

Am anderen Morgen ging sie zum Bäcker, um Brot zu holen Da stand plötzlich der Wassermann vor ihr, grüßte sie freundlich und sagte: „Ich hätte gestern nicht mit dir tanzen sollen. Denn nun habe ich dich liebgewonnen und will ohne dich nicht mehr leben. Werde meine Frau, in meinem Schloss soll es dir wohl ergehen. Sagst du aber nein, dann werde ich meinem Leben ein Ende setzen.“

Das Mädchen erschrak sehr, dann aber lächelte es und meinte: „Sieh an, und wie klug hast du gestern abend die Worte gesetzt und hast mich getröstet, weil ich um meinen Bruder weinte. Ich will aber nicht, dass du meinetwegen leidest Warte drei Tage. In diesen drei Tagen will ich nachdenken und überlegen. Am dritten Tag komme ich zu dir zum See, dann sollst du meine Antwort hören.“

Der Wassermann fügte sich darein, das Mädchen aber ging umher voller Unruhe und Unrast und wusste nicht, was es tun sollte. Gern hätte es mit dem Bruder gesprochen, doch war der schon am frühen Morgen davongegangen, und als der Mond hoch am Himmel stand, war er noch nicht zurückgekommen. Ja, auch am zweiten Tag kam er nicht, und auch am dritten Tag trat er nicht in die Hütte.

Da weinte die Schwester und sagte: „Hat er mich vergessen, dann will ich ihn auch vergessen.“ Und sie eilte sogleich zum See, rief den Wassermann und sagte zu ihm, er solle sie mit sich nehmen, sie wolle fortan seine Frau sein. Da trug der Wassermann sie hinab in sein Schloss, und von Stund an wurde das Mädchen von keinem Menschen mehr gesehen.

Der Bruder hatte indessen bei dem Vater seines Mädchens um dessen Hand angehalten, doch der Vater hatte ihn ausgelacht und ihn mit Spott und Hohn davon gejagt. Da war der Bruder davongestürzt, war im Wald zusammengebrochen, und erst am Mittag des dritten Tages war ihm die Besinnung zurückgekehrt. Nun stand er auf und wanderte zu seiner Hütte, voller Sehnsucht nach der Schwester, an die er so lange nicht gedacht hatte Wie er aber die Hütte betrat, war sie leer, und die Schwester war weit und breit nicht zu sehen. Am Abend erschien sie nicht und auch nicht am anderen Tag. Da fiel eine tiefe Schwermut über den Bruder, er arbeitete nicht mehr, lebte nur von dem, was der Wald und mitleidige Menschen für ihn hatten, und nach Jahr und Tag war es so weit mit ihm gekommen, dass er seinem Leben selbst ein Ende setzen wollte.

So wanderte er an einem Sommermorgen zum See, um sich dort zu ertränken. Er stürzte sich auch hinein, doch fühlte er im gleichen Augenblick, wie eine Hand nach seinem Bein griff und wie ihn jemand in die Tiefe zog. Die Sinne schwanden ihm, er meinte, es sei der Tod, der ihn mit sich nähme. Wie aber erstaunte er, als er sich nach Minuten in einem herrlichen Saal wiederfand, der in allen Farben leuchtete. Und nun beugte sich eine Frau zu ihm nieder und küsste ihn auf den Mund, und diese Frau war seine Schwester.

„Da sehe ich dich endlich wieder“, sagte sie fröhlich zu ihm. „Ich hatte schon solche Sehnsucht nach dir, aber du kamst nie zum See, und so konnte ich dich nicht zu mir ziehen. Ich weiß um dein Leid. Aber auch ich war damals sehr unglücklich, und als du nicht nach Hause kamst, ging ich zum Wassermann und wurde seine Frau. Es geht mir gut hier, und ich bin glücklich und zufrieden. Nur du hast mir sehr gefehlt. Nun bleib bei mir, solange du willst, und wenn du zur Erde zurückkehrst, werde ich dir soviel Edelsteine mitgeben, wie du bedarfst, um dein Mädchen zu gewinnen.“

Der Bruder kam aus dem Verwundern nicht heraus. Endlich aber, als er begriffen hatte, dass alles, was ihn umgab, kein Traum, sondern Wirklichkeit war, sagte er: „Jenes Mädchen mag ich nicht mehr. Aber wenn du es erlaubst, dann möchte ich bei dir bleiben. Denn ich weiß nun, dass ich keine andere liebe als dich.“

Da freute sich die Schwester. Sie rief den Wassermann herbei, er war’s zufrieden, dass der Bruder bei ihnen blieb, und sie lebten in Ruhe und Zufriedenheit auf dem Grunde des Sees zusammen. Nur zuweilen, wenn des Nachts der Mond schien, kamen sie zum Ufer herauf, setzten sich ins Gras und sahen sich die Sterne an.

Einmal bin ich dort vorbeigekommen und habe mich zu ihnen gesetzt. Sie waren sehr freundlich und erzählten mir ihre Geschichte. So habe ich sie erfahren und aufgeschrieben.

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