Hans Peter Roentgen

Am grünen Fluss, so sagt man, am grünen Fluss kann nur übersetzen, wer dem Fährmann eine Geschichte schenkt. Der Fährmann selbst ist grün, als ob Moos auf seinem Körper wachsen würde, allein es heißt, die grüne Farbe stamme nicht vom Moos, auch nicht von den Flussalgen, vielmehr laufe der Fährmann stets Gefahr, Teil des grünen Flusses zu werden.

Der grüne Fährmann sammelt all die Geschichten und abends, wenn er seinen Taglohn an Geschichten beisammen hat, holt er sie aus seinem Umhang, der wie ein Kampfanzug eines Soldaten gespickt ist mit Taschen, jede groß genug für gerade eine Geschichte. Manche sind fingerdick für Anekdoten, andere breit und behäbig und bauchig für Novellen, wieder andere flach und unscheinbar für Kurzgeschichten. Es gibt auch Taschen, die schwarz und von unendlicher, erschreckender Tiefe sind, darein steckt er die Horrorgeschichten, und so findet jede Geschichte, die er des Tags einnimmt, eine passende Tasche.

Die Geschichten leert er abends über seinem Tisch in der Hütte aus, da purzeln sie übereinander, streiten sich, welche besser sei, giften sich an oder werben um die Aufmerksamkeit des Fährmanns, der sie versonnen betrachtet, die eine oder andere in der Hand wiegt und sich manchmal gedankenverloren am Ohr zupft. Dann öffnet er eine große Holztruhe mit rostigem Vorhängeschloss und legt eine, nur eine hinein. Die anderen Geschichten geraten in Panik, sie schreien durcheinander:

„Nein, nimm mich, ich bin besser.“

„Schau her, wie schön meine Sprache glänzt.“

„Geh weg, du Blender“, ruft eine dunkle Gestalt dazwischen. „Ich habe Spannung, wer mich in die Hand nimmt, legt mich erst weg, wenn er das Ende erfahren hat.“

So oder ähnlich schreien sie durcheinander.

Der Fährmann schließt die Truhe sorgfältig wieder ab und beachtet das Geschrei der Geschichten nicht. Er räumt die Truhe weg und geht zurück zum Tisch. Jetzt wählt er einige der unscheinbareren Geschichten aus, die nimmt er und wirft sie aus dem Fenster in die Fluten des Wassers. Was übrig bleibt, wägt er in der Hand ab, er tastet über sie, mit vorsichtigen Fingern nimmt er sie auseinander, begutachtet die Teile, denn von den Teilen hängt für ihn das ganze Leben ab. Hat er jetzt eine gefunden, die ihm in Teilen brauchbar scheint, dann legt er sie in eine Schale, die in der Mitte des Tisches steht, eine Schale, wie sie in anderen Haushalten für Obst verwendet wird. Hier, in dieser Hütte, findet ihr Geschichten darin.

Jetzt geht er nochmals die restlichen Geschichten durch, zwei, drei passende sucht er aus und legt sie zu der zerlegten in die Schale, den Rest aber nimmt er in die Hände, verlässt mit ihnen das Haus und legt sie neben den Bootssteg. Er gebietet ihnen Schweigen und sagt: „Ihr seid noch nicht reif. Morgen kommen neue Kunden. Jeder von euch sucht sich einen aus, springt ihm in die Tasche und schaut, dass er reift unter den Menschen.“

Der Fährmann geht wieder in seine Hütte zurück und wartet. Nicht lange danach sitzt ihm der Flussteufel gegenüber, eine verbogene Kreatur mit langen, schwarzen Hauern, mit grausigem Buckel und schleimigen, patschigen Schwimmfüßen.

Der Flussteufel kommt jede Nacht und erinnert ihn an ihre Abmachung.

„Du Fährmann, du schworst mir, du würdest mir in den Schlick des Flusses folgen und mich nie mehr verlassen, wenn ich dir zehn Jahre Wohlstand und Reichtum brächte. Die Zeit ist lang schon um, und du warst zehn Jahre reich und glücklich. Nun also, unsere Zeit ist gekommen.“

„Ja“, antwortet der Fährmann, „die Zeit ist um. Aber hier in der Schale habe ich noch einen Rest von der gestrigen Geschichte, bedien‘ dich zuerst, bitte.“

Die Augen des Flussteufels funkeln auf, und er greift gierig nach dem kleinen Geschichtenrest, den der Fährmann ihm darbietet. Der Fährmann gibt ihm dann die kleinen Geschichten, die um die zerlegte Geschichte in der Mitte liegen, er wählt sie sorgfältig aus.

Er füttert den Flussteufel mit den Teilen der zerlegten Geschichte langsam und sorgfältig, reicht ihm Stück für Stück, denn er hat seine Zeit genau kalkuliert. Wenn das erste Licht im Osten aufgeht, erschrickt der Flussteufel, springt auf und huscht zur Tür hinaus.

Der Fährmann aber hat immer einen Rest der Geschichte übrig, nur so kann er den Flussteufel in Schach halten.

Wenn aber der Nordwind schlecht gelaunt ist und den grünen Fluss heimsucht, dann peitscht er das Wasser, bis die Wellen Schaumkronen tragen. Der Fährmann kann nicht fahren und erhält auch keine Geschichten. An solchen Tagen holt der Fährmann den Schlüssel hervor, öffnet die Truhe und füllt die Schale mit Geschichten aus seinem Vorrat auf.

Doch der Nordwind bleibt nie lange, er fährt zurück zum Pol zu seinen Brüdern, mit denen er um die Wette tobt und heult. Die Wellen werden wieder klein, und so fährt er immer noch, der grüne Mann, und sammelt Geschichten.


Dieses Märchen wurde mir von Hans Peter roentgen_soft [Roentgen_Soft@t-online.de]zur Verfügung gestellt. Das Copyright dieser Geschichte liegt bei Hans Peter Roentgen.

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