Bergbaumärchen
Mancher Bergmann erinnert sich, dass schon sein Vater oder gar sein Großvater vom alten Mann aus dem Berge sprachen, den sie manchmal auch den Grubenalten oder den Bergalten genannt hatten. Aber auch heute noch kann es passieren, dass ein Kumpel dem Grubenalten begegnet, tief unten in den Stollen, die sich endlos durch das Kohlegestein ziehen. Meistens ist dann derjenige, der ihn sah, viele Tage lang schweigsam und verschlossen. Nicht selten mag er mit niemandem über sein seltsames Abenteuer reden.
Der alte Mann aus dem Berge war früher selbst einmal Bergmann gewesen, der immer fleißig gearbeitet hatte und stets gut zu seinen Arbeitskameraden gewesen war. Als nun der Tag seines Todes gekommen war, hatte ihm Gott erlaubt, bis in alle Ewigkeit durch die Schächte und Stollen der Bergwerke an der Ruhr wandern zu dürfen. Seit dieser Zeit zieht der Grubenalte durch die Berge. Wo er auch hintritt, öffnet sich das Gestein und gibt ihm den Weg frei. Immer und überall kann er auftauchen und nach dem Rechten sehen. Seine Gestalt ist groß und hager, und gekleidet ist er in einen langen braunen Mantel, der bis auf den Boden reicht. Unter seiner alten Bergmannskappe quillt schlohweißes Haar hervor, das im Licht seiner silbernen Grubenlampe ebenso hell schimmert wie sein langer weißer Bart. Gewöhnlich blicken seine Augen freundlich und mild, doch, wenn er sieht, dass Unrechtes geschieht, dann funkeln und blitzen sie, und jeder Übeltäter muss sein Gesicht vor Scham abwenden.
Manchmal, wenn sie tief unten im Gestein ihre mühsame Arbeit verrichten, sehen die Bergleute den Alten, wie er lautlos vorüberzieht. Dann versinken sie in ehrfürchtiges Schweigen, denn oft schon hat ihnen der Bergalte durch deutliche Zeichen zu verstehen gegeben, dass Gefahr drohe; so wusste man schon frühzeitig von Erdbeben, Wassereinbrüchen oder Bränden. So manches Mal, wenn das Licht der Kumpel verloschen war und sie sich in den langen dunklen Schächten verloren hatten, dann trat der Bergalte hinzu und setzte ihre Lampen wieder in Gang, damit sie unverletzt ans Tageslicht zurückkehren konnten. Ja, der Grubenalte kennt die Sorgen der Bergleute besonders gut, weil er selbst einmal einer von ihnen gewesen war. Ganz selten, zum Beispiel, wenn über der Erde ein Kind geboren wird, während sein Vater im ewigen Dunkel der Kohle seiner Arbeit nachgehen muss, dann öffnet der Bergalte für kurze Augenblicke das Gestein, und wer hineinsieht, der wird geblendet von langen Gängen aus Gold und Silber, die übersät sind mit funkelnden Diamanten. Haben sich die leuchtenden Spalten aber wieder geschlossen, dann raunt es noch lange durch die Berge: „Sagt es niemandem! Sagt es niemandem!“ Denjenigen, der trotz dieses Gebots nicht schweigen will oder gar selber nach den geheimen Schätzen sucht, den trifft der Zorn des Bergalten. Und wer sich durch diese Widerspenstigkeit seinem Zorn aussetzt, den verlässt bald das Bergmannsglück, und er muss seine Arbeit woanders suchen.
Einmal, es ist schon lange her, da gab es eine Grube, in der stand eine hohe Gestalt aus reinem Silber. Dies war der Bergalte selbst, der den Arbeitern unter Tage gern nahe sein wollte. Seitdem er dort stand, war Segen über das Bergwerk gekommen, die Ausbeute war reich, und kein Unglücksfall war vorgekommen. Alle wussten jedoch, dass sie die silberne Gestalt nicht berühren durften. Ein junger Knappe aber, der noch nicht ahnte, wie sehr der Bergmann bei seiner gefährlichen Arbeit des Glücks bedarf, schlug alle Warnungen i n den Wind und beschloss, sich von dem Silber der Gestalt zu nehmen. Weil man ihn eindringlich gewarnt hatte, wartete er an einem Tage, bis alle vor ihm schon aufgefahren waren und er als letzter im Berg zurückgeblieben war. Dann begab er sich zu der Stelle, wo die silberne Figur stand, doch zögerte er lange, denn das majestätische Schimmern der Silbergestalt hielt ihn zurück, und er zweifelte, ob er die Freveltat begehen sollte. Doch schließlich übermannte ihn seine Habgier, und mit einem schnellen Schlag brach er die linke Hand der Statue ab. Was aber dann geschah, das hätte der junge Knappe in seinen schlimmsten Träumen nicht befürchtet: Aus dem Arm der abgeschlagenen Hand strömte ein dicker Strahl eiskalten Wassers; der Junge sah mit Entsetzen, wie sich die Stollen schnell füllten. Für ihn gab es kein Entkommen, er musste elend sterben. Mit ihm ertrank das ganze Bergwerk, und niemals mehr konnten dort Kohlen gefördert werden.
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