Märchen aus China
Im Tempelhof stand ein kleiner Tempel. Dort lebte ein heiliges Pferd. Es starrte auf ein mageres kleines Mädchen, das durch die Latten des Tempels hindurchguckte. „Der Wärter, dieser Schuft“, sagte das Pferd wütend, „hat mir schon wieder mein Bohnenbrot gestohlen. Ich bin ein heiliges Pferd, ach was muss ich alles noch erleben.“
Das kleine Mädchen schob seine schmutzige Hand zwischen das Gitter. „Nimm mein Brot, vielleicht hilft es dir.“ Das Pferd betrachtete die ausgestreckte Hand und nahm das Brot. „Wer bist du?“ fragte es, ohne sich zu bedanken. „Ich weiß es nicht“, antwortete die Kleine.
„Woher kommst du?“
„Ich glaube ich fiel vom Mond.“
Das Pferd lachte. „Wer gibt auf dich acht?“
„Ich selber.“
„Wie alt bist du?“
„Neun Jahre“, sagte das Mädchen. „Und wo schläfst du?“ fragte das Pferd weiter. „Ich schlafe überall, auf den Feldern, unter den Bäumen oder, wenn es regnet, in einem Tempel. Ich bin oft sehr einsam und wünschte, ich wäre tot.“ Da das heilige Pferd Tränen in ihren Augen sah, sagte es: „Weine nicht, mir geht es auch nicht gut. Ich wurde für fünfzehn Jahre in diesen Tempel eingeschlossen und beneide dich um deine Freiheit. Ich würde viel lieber wie du von Ort zu Ort ziehen und unter Bäumen und auf Feldern schlafen.“
Das kleine Mädchen wischte sich die Augen ab und fragte verwundert: „Möchtest du das wirklich?“
„Natürlich möchte ich das. Aber ich bin eingesperrt, ich muss mich den ganzen Tag anstarren lassen und soll glauben, ich sei
ein heiliges Pferd.“
„Bist du das nicht?“
Das Pferd schüttelte seinen Kopf. „Ich bin nicht halb so heilig wie du, die du mir dein Brot gabst.“
„Ich dachte, du seist sehr glücklich. Ist es nicht schön, immer bewundert zu werden und Weihrauch geopfert zu bekommen?“
„Als ich ein junges Pferd war, liebte ich das alles sehr. Ich war stolz darauf, aber heute ist es mir verleidet.“ Das kleine Mädchen nickte. „Du bist also nicht eitel?“
„Nein, wahrscheinlich nicht“, sagte das Pferd und lächelte.
„Ich bin es leid, ein Gefangener zu sein. Ich versuchte zweimal auszureißen, aber die Wärter fingen mich wieder ein. Ich weigerte mich zu essen. Ich wollte sterben, aber der Hunger
tat weh, und ich fand es dumm, ja, heute ärgere ich mich sogar, wenn mir ein Wärter das Bohnenbrot stiehlt. Es ist so eng hier im Tempel. Ich kann nicht einmal ausschlagen.“
„Ach, trotz des gestohlenen Bohnenbrotes hast du noch mehr zu essen als wir armen Leute. Ich wäre glücklich, hätte ich in drei Tagen soviel wie du an einem Tag.“
„Wärst du das wirklich?“ fragte das Pferd und dachte dann lange nach. „Weißt du, was wir machen können? Wir wollen unsere Plätze wechseln!“
„Was?“ rief das kleine Mädchen.
„Du sollst dich nicht in ein Pferd verwandeln und ich mich nicht in ein kleines Mädchen. Nein, ich will ein Pferd bleiben, und du sollst du sein; aber du kommst heute Abend zurück, wenn alles schläft, lässt mich heraus und stellst dich an meinen Platz. Ich werde meine Freiheit genießen, und du wirst viele Bewunderer haben.“ Das kleine Mädchen war sehr erstaunt. „Werden sie mich denn nicht töten, wenn ich dich herausgelassen habe und behaupte, heilig zu sein?“
„Du sollst das gar nicht behaupten. Sie werden an ein Wunder glauben, wenn du an meiner Stelle dastehst.“
„Wann soll ich kommen?“ fragte das Mädchen.
„Um Mitternacht. Dann komme ich unbehelligt durch Lan Tan,
wo die Leute wissen, dass ich das heilige Pferd bin. Dann aber
will ich auf Abenteuer ausgehen.“ Als der Mond aufgestiegen war und die Mitternacht nahte, eilte das kleine Mädchen zum Tempel. Das Pferd wartete schon ängstlich. „Ich glaubte bereits, du kämst nicht.“
„Ich versprach dir zu kommen. Aber was soll ich sagen, wenn mich die Priester und die Leute fragen?“ Das Pferd sagte: „Antworte immer nur: ‚Das wissen die Götter!‘ Dann sei still und schau bloss weise um dich. Du kannst sicher sein, sie glauben, ich hätte mich in eine Göttin verwandelt. Hier ist eine Kiste mit prächtigen Seidengewändern. Das ist mein Festtags-schmuck. Lege diese Gewänder um dich, damit sie deine Lumpen nicht sehen.“
„Du bist sehr freundlich“, sagte das kleine Mädchen, stieß den Riegel zurück und legte die Arme um den Nacken des Pferdes.
„Vergiss nicht, dass du einen guten Freund hast, der immer an dich denkt“, sagte das Pferd und trabte aus dem Tempelhof.
Die Kleine schloss den Käfig, zog die Seidenkleider über und legte sich schlafen.
Mitten in der Nacht erwachte sie und hörte vor ihrem Tempelgehege zwei Stimmen. „Was ist eigentlich ein heiliges Pferd?“ fragte eine Stimme. „Galoppieren können doch alle Pferde. Leg den Schatz des Mandarins auf den Rücken des alten Kleppers. Wir wollen rasch aus diesem Tal fliehen, bevor wir erwischt werden.“
„Aber was wird aus uns, wenn uns das heilige Pferd erwischt?“
„Sei doch nicht so feig, das Pferd kann nicht sprechen, und wer weiß es sonst?“
„Das wissen die Götter!“ sagte das kleine Mädchen. Entsetzt sahen sich die Diebe um. Sie erblickten die schmächtige Gestalt, in prächtige Kleider gehüllt, ein bleiches Gesicht mit zwei dunklen Augen. Vor Angst schrieen sie auf, warfen den Schatz des Mandarins zu Boden und flüchteten in die Nacht hinein.
Das kleine Mädchen lachte, öffnete die Kiste mit dem Schatz des Mandarins und betrachtete den Jadeschmuck, das Gold
und die Silberkleider. Sie waren so schön, wie es noch nichts
in seinem Leben gesehen hatte. Dann schlief es ein.
Als es erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Der Tempelhof war voll neugieriger Leute. Vor ihr stand der Mandarin. Er schaute erstaunt auf das kleine Mädchen, das das heilige Pferd sein sollte. Er blickte auf die goldenen Schätze,
die daneben lagen, und in ehrfurchtsvollem Ton fragte er:
„Von wo kommst du, mein Kind?“
„Das wissen die Götter!“ antwortete sie ernst.
„Doch wo ist das heilige Pferd?“
„Das wissen die Götter!“ sagte sie abermals. Der Mandarin erbleichte. Die Leute fielen auf die Knie nieder und murmelten: „Sie ist eine Göttin.“
Der Mandarin faltete seine Hände über seinem Schatz: „Wie kommt das hierher?“ rief er. „Es wurde letzte Nacht aus meinem Palast gestohlen!“
„Das wissen die Götter!“ sagte sie nur und schaute ihm ruhig
in die Augen. „Sie ist eine Göttin, sie weiß alles“, rief der Mandarin. „Es ist ein Wunder geschehen.“
Und da sanken alle auf die Knie nieder und beteten um Dinge, die ihnen einst gestohlen worden waren, weil sie glaubten, die Göttin könne sie wieder herbeibringen. Sie bauten ihr einen großen schönen Tempel und huldigten ihr jeden Tag.
Doch das kleine Mädchen vergaß das heilige Pferd nicht. Sie wünschte jeden Tag, es solle zurückkommen, um an all den Herrlichkeiten, die man ihr opferte, teilzuhaben.
Zehn Jahre waren vergangen. Aus dem kleinen Mädchen war eine Frau geworden, und von Tag zu Tag wurde sie trauriger. keiner der vielen Leute, die zu ihr kamen, war ihr Freund. Sie war reich, unermesslich reich, aber sehr einsam, allein und traurig.
Eines Abends, als sie im Mondschein spazieren ging, kam eine Dienerin und sagte zu ihr: “ Göttin, es ist eine unglaubliche Geschichte geschehen. Vor einer Stunde rasselte es am Tor, und als der Gärtner öffnen wollte, da fand er ein altes, weisshaariges Pferd, das einzudringen versuchte. Er jagte das Pferd fort, aber es kam immer wieder und versuchte aufs wieder einzudringen. Es will einfach nicht weggehen.“
Da sagte die junge Frau: „Lass das Pferd herein. Ich will keinem Tier den Einlass verweigern.“ Als die Dienerin zurückkam, führte sie ein Pferd herbei, das ließ den Kopf traurig hängen und trottete müde einher. Die junge Frau schickte die Dienerin weg und wandte sich an das Pferd. „Heiliges Pferd!“ rief sie. „Du kommst zurück. Dir verdanke ich all den Reichtum.“
„Ja, ich komme zurück“, sagte das Pferd mit leiser Stimme. „Ich komme zurück und bitte um eine kleine Stallecke, in der ich sterben kann.“
„Hast du die Freiheit nicht genossen, die du dir so sehr gewünscht hattest?“ Das Pferd sagte: „Nein, die Freiheit ist nichts ohne Freundschaft. Du allein warst meine Freundin, und nun bin ich zurückgekommen, um bei dir zu sterben.“ Da schlang sie ihre Arme um den Nacken des Pferdes, streichelte es und weinte mit ihm. „Bist du vielleicht auch nicht glücklich in deinem großen Reichtum?“
„Das wissen die Götter!“ sagte die junge Frau. „Auch Reichtum ist nichts ohne Freundschaft!“ Und während sich das Mädchen immer fester an das alte, müde Pferd lehnte, verwandelte sich dieses in einen schönen jungen Prinzen. „Nichts“, sagte er, „ist schön ohne Freundschaft und Liebe!“
„Das wissen die Götter!“ sagte die Frau und sie verließen zusammen den Tempel.
Dieses Märchen wurde mir von Hanspeter Thum ((maerlimaa@gmx.ch) zur Verfügung gestellt.
Das Copyright hierfür liegt ausschließlich bei Hanspeter Thum. www.maerlimaa.ch
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