Es ist schon lange, lange her, da lebte im hohen Norden ein Mann mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Der Mann war im Grunde kein schlechter Kerl, wäre er nur nicht so schrecklich eifersüchtig gewesen. Er quälte seine Frau mit seiner Eifersucht, obwohl er dafür überhaupt keinen Grund hatte, und schlug sie sogar. Die Frau ertrug das eine Zeitlang geduldig, aber dann fühlte sie sich immer unglücklicher. Als ihr Mann sie wieder einmal geschlagen hatte, nahm sie ihr Kind und ging zu einer guten alten Frau, die sich auf Zauberei verstand.

Die Alte hörte sich die Frau an und beriet sich lange mit den guten Geistern. Sie nahm ein Seehundfell und rieb es mit einem Sud ein. Dann kochte sie Seehundfleisch und tat es in eine hölzerne Schüssel. Fell und Schüssel gab sie dann der Frau mit den Worten: „Geh nach Hause, und alles wird gut werden.“

Die Frau bedankte sich und machte sich auf den Heimweg.

Der Mann hielt längst nach ihr Ausschau, schimpfte schon von weitem und drohte ihr Prügel an. Als das die arme Frau hörte, rannte sie in ihrer Angst und Verzweiflung zum Meer. Vom steilen, felsigen Ufer warf sie erst das Seehundfell ins Wasser und stürzte sich dann selbst mit dem Kind hinab.

Der Mann erschrak über die Maßen, was er mit seiner Eifersucht angerichtet hatte, und rannte verzweifelt zu der Felsklippe, von der die Frau hinabgesprungen war. Da sah er unten auf dem Wasser ein ausgebreitetes Seehundfell schwimmen und darauf seine Frau und seinen Sohn. Froh, dass sie noch am Leben waren, lief er zurück, um sein Kajak zu holen. Aber ehe er es ins Wasser gelassen hatte, entfernte sich das Seehundfell schon mit großer Geschwindigkeit vom Ufer und trug seine Frau mit dem Sohn immer schneller aufs Meer hinaus. Bald waren sie in der Ferne verschwunden.

Die Frau brauchte eine ganze Weile, bis sie wieder ihre Sinne beisammen hatte. Als sie aber sah, dass dem Seehundfell die hohen Wellen nichts antun konnten, verlor sie ihre Angst und schaute ruhig ihrem Schicksal entgegen. Ein Tag verging und eine Nacht, und noch immer trieb das Seehundfell auf dem Meer. Zum Glück war auch die hölzerne Schüssel eine Zauberschüssel, die nie leer wurde, und so brauchten weder die Frau noch ihr kleines Söhnchen Hunger zu leiden.

Bisher hatten Tag und Nacht viele Male einander abgewechselt. Eines Tages erwachte die Frau und stellte fest, dass das Zauberfell an Land aufgesetzt hatte. Es war noch dunkel. Die Frau wartete auf das Morgengrauen, aber es wurde nicht Tag. Das Seehundfell hatte sie in ein Land gebracht, in dem ewige Finsternis herrschte. Nach einer Weile gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und vermochten einzelne Konturen zu unterscheiden. Da wagte sich die Frau von dem Fell herab. Unter ihren Füßen war fester Boden, auf dem etwas schwach glitzerte. Sie bückte sich und fand einige kleine Kugeln. Einige tat sie in die hölzerne Schüssel und ging dann vorsichtig weiter. Nach ein paar Schritten tauchte vor ihr der Umriss einer Hütte aus dem Dunkeln auf. Sie tastete sich an der Wand entlang, bis sie die Tür gefunden hatte, öffnete sie und trat ein. Im Schein einer Tranlampe sah sie auf der einen Seite Felle und Leder hängen, auf der anderen Vorräte lagern – Dörrfleisch und Töpfe voller Fett. Die Frau ging weiter und trat in die Stube. Aber auch hier war keine Menschenseele. ,Ich werde warten, bis jemand kommt‘, sagte sie sich und setzte sich mit dem Kind auf das Lager aus Rentierfellen.

Es dauerte nicht lange, da klangen von der Tür her Schritte und eine Stimme rief: „Sind hier Menschen?“

Ein Mann schaute zur Tür herein und schien gar nicht überrascht zu sein, als er die Frau und das Kind sah. Dafür aber erschrak die Frau über die Maßen, denn der Mann war schwarz wie ein Rabe. Er zog sich bis zum Gürtel aus und begann sich zu waschen. Und da zeigte sich, dass nur sein Gesicht und seine Hände schwarz waren. Dort, wo die Kleidung seine Haut bedeckte, war sie weiß wie bei anderen Menschen. Die Frau wunderte sich darüber, um so mehr, als die schwarze Farbe von Gesicht und Händen auch beim Waschen nicht abging, aber zu fragen getraute sie sich nicht. Als der Mann sich gewaschen hatte, trat plötzlich ein unsichtbares Wesen herein und reichte ihm eine Schüssel mit gekochtem Fleisch. Der Mann bot erst der Frau davon an, und dann erst langte er selbst zu.

„Wie bist du hierher gekommen?“ fragte er.

Die Frau erzählte ihm alles über sich und ihr Leben.

„Du kannst hierbleiben“, bot er ihr an und machte ihr und dem Kind ein Lager aus Rentierfellen.

Die Frau wollte nicht mehr an das Land denken, aus dem sie gekommen und wo ihr so viel Böses widerfahren war. Sie wollte sich lieber an die Dunkelheit gewöhnen, auch wenn sie in ihrem Inneren fühlte, dass sie nie aufhören würde, sich nach der Sonne zu sehnen. Als der Mann sie nach einiger Zeit bat, seine Frau zu werden, sagte sie ja. Nur eines machte sie stutzig: dass ihr Mann ihr streng verbot, je aus dem Haus zu gehen, und auch darauf bestand, dass ihr Sohn es nie verließ.

Damit sich das Kind nicht langweilte, gab ihm die Mutter die Kugeln zum spielen, die sie am Strand gefunden hatte. Dabei fiel ihr eines Tages deren seltsamer Glanz auf, und als sie sie genauer betrachtete, da erkannte sie, dass es keine gewöhnlichen Kugeln waren.

Die Zeit verging, und die Frau hatte sich damit abgefunden, dass weder sie noch ihr Sohn je die Hütte verlassen durften. Aber es störte sie, dass außer ihr noch jemand in der Hütte zu wirtschaften schien, auch wenn sie niemanden sah. Manchmal standen die Fettöpfe anders, oder in der Tür erschienen Hände und legten ein Fell auf den Boden oder trugen eine leere Schüssel weg.

Die Frau verdächtigte ihren Mann, ihr untreu zu sein und in der Hütte noch eine zweite Frau versteckt zu halten. Oder vielleicht hatte er draußen gar ein zweites Haus, in dem eine andere Frau lebte, und deshalb durfte sie selbst nie hinaus.

Eines Tages sprach sie ihren Verdacht laut aus und verlangte von ihrem Mann, ihr die Wahrheit zu sagen.

„Gut, du sollst alles erfahren“, sagte der Mann nach kurzem Nachdenken. Und dann begann er zu erzählen:

„Auch ich lebte einst in der Welt, in der die Sonne auf- und untergeht. Ich heiratete ein Mädchen, das ich über die Maßen liebte. Aber mit der Zeit wurde sie zänkisch und unausstehlich. Sie machte mir das Leben derart zur Hölle, dass ich eines Tages mit dem festen Vorsatz in die Tundra zog, dort für immer zu bleiben. Doch ich hielt es nicht lange aus und kehrte nach Hause zurück. Ich hoffte, meine Frau hätte inzwischen eingesehen, wie schlecht sie gehandelt, und sich gebessert. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie war noch böser zu mir als zuvor. Eines Tages versetzte ich ihr im Streit eine Ohrfeige und rief, eher wolle ich den Rest meines Lebens auf der einsamsten Insel verbringen, als mit ihr zu leben. Und die Geister nahmen mich beim Wort!

Am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Kajak auf Fischfang. Plötzlich wurde ich von einem Sturm überrascht. Die schäumenden haushohen Wellen trieben mein kleines Boot immer weiter vom Festland weg. Ich kämpfte um mein Leben, aber gegen die Strömung des Meeres kam ich nicht an. Da spürte ich plötzlich einen Aufprall, und ich glaubte schon, mein Ende sei gekommen. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht, und ich lag in meinem Kajak an einem fremden Strand. Ich wartete, dass es hell werden würde, aber die Nacht verging nicht. Und als ich lange genug auf den Tag gewartet hatte, da begriff ich, dass es mir bestimmt war, in ewiger Finsternis zu leben. Wovon aber sollte ich mich ernähren? Wie in der Dunkelheit ein Wild erlegen oder Fische fangen? Kaum hatte ich das gedacht, da stieg mir der Duft gekochten Fleisches in die Nase. Ich tastete den Boden neben mir ab und fand eine Schüssel voll Essen. Ich aß es heißhungrig auf und fühlte mich gleich besser. Als sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begann ich die Umgebung zu durchforschen, aber nirgends stieß ich auf einen Menschen. Ich rief, schrie – alles vergebens. Es kam keine Antwort.

Wieder überfiel mich die Angst, wovon ich leben sollte, und da duftete es wieder nach Fleisch, und neben mir stand eine volle Schüssel. Seit der Zeit brauche ich mich um nichts zu kümmern. Sobald ich Hunger habe, stellt mir jemand eine Schüssel Fleisch hin.“

Der Mann verstummte, um nach einer Weile fortzufahren: „Lange wusste ich nicht, wer das ist. In der Finsternis konnte ich niemanden erkennen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich aber an die Dunkelheit und baute mir eine Hütte. Und in die zog mit mir auch der gute Geist ein, der mir von Anfang an beigestanden hatte und dem ich es verdanke, dass ich überhaupt noch lebe. Sehen kann man ihn kaum, nur manchmal sieht man undeutlich zwei Hände und spürt einen Windhauch, wenn er vorbeigeht. Der gute Geist ist es, den du für eine andere Frau in diesem Haus gehalten hast“, lachte der Mann.

„Warum aber darf ich mit dem Kind nie hinaus?“ fragte die Frau weiter. „Auch das will ich dir sagen.“ Der Mann streckte ihr seine schwarzen Hände hin und fuhr sich dann damit über sein Gesicht. „Siehst du, wie schwarz meine Hände und mein Gesicht sind? Ich weiß, dass sie auch dich erschreckt haben, als du sie das erste Mal sahst, und dass du dich erst langsam an sie gewöhnen musstest. Auch ich war einst weiß wie du. Aber seit ich hier lebe, wurden sie schwarz von der Finsternis. Alles wird hier mit der Zeit schwarz. Die Rentiere haben schwarzes Fell, die Fische schwarze Schuppen und die Vögel schwarze Federn. Und davor wollte ich dich und den Jungen bewahren.

Als der Mann geendet hatte, stand er auf und führte die Frau in eine Kammer, die bis zur Decke mit Fellen, von den einfachen bis zu den kostbarsten, angefüllt war. Er sagte ihr, sie solle von allen Fellen die Ohrenspitzen abschneiden und sie zu den glänzenden Kugeln, mit denen ihr Sohn spielte, in die hölzerne Schüssel legen.

„Ich weiß, dass du dich vor Heimweh verzehrst, und ich will dich nicht zurückhalten“, sagte er dann. „Ich aber muss hierbleiben, so ist es mir bestimmt. Komm, nimm den Jungen auf den Rücken, ich will dich dorthin führen, von wo du zurückkehren kannst in das Land, aus dem du gekommen bist.“

Er führte sie zum Meer, wo noch immer das Seehundfell lag, auf dem sie hierher gekommen war. Die Frau setzte sich mit dem Kind darauf, und der Mann befahl ihr, die Augen zu schließen.

Im gleichen Augenblick kam ein Wind auf, die Wellen schaukelten das Fell, und die Frau schlief ein.

Als sie erwachte, schaute sie in den hellen Tag. Überall war so viel Licht, dass sie sich erst wieder an die Sonne gewöhnen musste. Die Frau sah sich um und glaubte zu träumen. Sie war zu Hause, ganz in der Nähe ihres Elternhauses. Sie ging hinein und umarmte ihre Mutter.

Die Kunde von ihrer Rückkehr verbreitete sich mit Windeseile im Dorf, und einer nach dem anderen kam, die Frau zu begrüßen, die sie schon längst für tot gehalten hatten.

Auch ihr erster Mann kam und bat sie, ihm zu verzeihen und wieder seine Frau zu werden. Aber sie traute ihm nicht und blieb mit ihrem Sohn im Elternhaus.

Der Junge wuchs zu einem stattlichen Jüngling heran, und am Abend vor seiner Hochzeit schenkte ihm die Mutter die glänzenden Kugeln aus dem Land der ewigen Finsternis. Aber es waren keine gewöhnlichen Kugeln, sondern Perlen, wie die Eskimos noch nie gesehen hatten, und sie waren so schön, dass sie auf der ganzen Welt nicht ihres Gleichen fanden.

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