Hans-Christian Andersen
Anne Lisbeth war wie Milch und Blut, jung, frisch und fröhlich, wunderschön sah sie aus, blendend weiße Zähne, klare Augen hatte sie, leicht war ihr Fuß im Tanze und ihr Sinn noch leichter! Was kam aber dabei heraus? „Ein hässlicher Bube!“ Nein, schön war er nicht!“ Er wurde bei der Frau des Feldarbeiters „abgegeben“. Anne Lisbeth kam ins gräfliche Schloss, saß dort im Prunkzimmer, angetan mit Sammet und Seide, kein Wind durfte sie anwehen, niemand ihr ein hartes Wort sagen, hätte ihr das doch Schaden bringen können, und das dufte ja nicht sein. Sie stillte das gräfliche Kind, und das war fein und zart wie ein Prinz, schön wie ein Engel; wie liebte sie dieses Kind! Ihr eigenes, ja, das war untergebracht, war bei dem Feldarbeiter, wo nicht der Topf, wohl aber der Mund überkochte und wo in der Regel niemand zu Hause war bei dem Knaben. Dieser weinte dann – aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß -, er weinte sich in den Schlaf und im Schlaf empfindet man weder Hunger noch Durst; der Schlaf ist eine gar gute Erfindung. Mit den Jahren – auch Unkraut schießt empor – schoss Anne Lisbeths Knabe in die Höhe, und doch war er im Wachstum zurück, sagte man; aber in die Familie war er ganz und gar hineingewachsen, sie hatten Geld dafür erhalten. Anne Lisbeth war ihn ganz los, sie war eine Stadtdame geworden, hatte es gut und gemütlich zu Hause und trug Hut und Schleier, wenn sie spazieren ging; aber sie spazierte nie zu dem Feldarbeiter hinaus, das war zu weit von der Stadt entfernt, und sie hatte ja dort auch nichts zu tun, der Knabe gehörte den Arbeiterleuten, und sein Essen hatte er, sagte Sie, und was tun fürs Essen müsse er auch, und deshalb hütete er Matz Matzens rote Kuh, er konnte schon Vieh hüten und sich nützlich machten.
Der Kettenhund auf der Bleiche des Herrenhofes sitzt stolz im Sonnenschein oben auf seiner Hütte und bellt jeden an, der vorübergeht; gibt es Regen, verkriecht er sich in die Hütte und liegt dort warm und trocken. Anne Lisbeths Knaben saß auf dem Feldzaun im Sonnenschein und schnitzte einen Spannpflock, denn im Frühling hatte er drei Erdbeerpflanzen entdeckt, die in Blüte standen, die würden sicher Beeren tragen. Er saß draußen in Regen und Wetter und ward nass bis auf die Haut, der scharfe Wind trocknete ihm nachher die Kleider am Leib. Kam er einmal auf den Herrenhof, wurde er geknufft und gestoßen, er sei gar zu hässlich, sagten die Mägde und Knechte, daran war er gewöhnt, niemand liebte ihn!
So erging es Anne Lisbeths Knaben, und wie sollte es ihm anders ergehen! Sein Los war nun einmal, niemals geliebt zu werden.
Bisher eine „Landkrabbe“, wurde er nun vom Land „über Bord“ geworfen, er fuhr zur See mit einem elenden Fahrzeug, saß am Ruder, während der Schiffer beim Schnapsglas saß; schmutzig und hässlich war er, durchgefroren und heißhungrig, man sollte meinen, er sei nie satt gewesen, und das war auch der Fall. Es war Spätherbst, raues, nasses, windiges Wetter; der Wind schnitt kalt durch die dicken Kleider, namentlich auf See; und da fuhr ein elendes Fahrzeug mit einem einzigen Segel und nur zwei Mann an Bord, ja, nur anderthalb, hätte man sagen können, dem Schiffer und seinem Schiffsjungen. Dämmerlicht war den ganzen Tag über gewesen, jetzt wurde es finster; es herrschte eine schneidende Kälte Der Schiffer trank einen Schnaps, der ihn von innen erwärmen konnte! Die Flasche war alt, das Glas auch, oben war es ganz, aber der Fuß war abgebrochen, und nun stand es auf einem geschnitzten, blau angestrichenen Holzklötzchen. Ein Schnaps tut wohl, zwei tun noch wohler, meinte der Schiffer. Der Junge saß am Ruder, das er mit seinen harten, schwieligen Händen festkeilt; hässlich war er, das Haar struppig, er selber verkrüppelt und verkümmert, er war des Feldarbeiters Kind – im Kirchenbuch hieß er Anne Lisbeths Kind.
Der Wind flog auf seine Weise, das Fahrzeug auf seine dahin. Das Segel blähte sich, der Wind war hineingesprungen, es ging in sausender Fahrt, rau, nass ringsumher, und noch ärger konnte es kommen! Halt! Was war nur das? Was stieß da, was zersprang dort, was ergriff das Schiff? Es drehte sich, legte sich um! War das ein Wolkenbruch? erhob sich eine Sturzsee? Der Junge am Ruder schrie laut auf: „In Jesu Namen!“ Das Fahrzeug war auf einen großen Fels am Meeresoden gestoßen und sank wie ein alter Schuh in der Gosse, versank mit Mann und Maus, wie man sagt; und Mäuse waren an Bord, aber nur anderthalb Mann: Der Fischer und des Feldarbeiters Junge. Niemand sah es, außer den schwimmenden Möwen und den Fischen dort unten, und die sahen es auch nicht einmal recht, denn sie fuhren erschrocken auseinander, als das Wasser ins Schiff hineinbrauste und es versank. Kaum einen Faden unter dem Wasserspiegel lag es; diese beiden waren untergebracht, begraben und vergessen! Nur das Glas mit dem blauen hölzernen Fuß sank nicht. der Fuß hielt es oben; das Glas trieb dahin um zerbrochen und an die Küste gespült zu werden – wo und wann? Ja, wem läge wohl daran? Hatte es doch jetzt ausgedient und war es doch geliebt worden, nicht so Anne Lisbeths Knaben“ Doch im Himmel wird keine Seele mehr sagen können: „Niemals geliebt!“
Anne Lisbeth wohnte in der Stadt, und zwar seit vielen Jahren hieß Madame und fühlte sich erst recht, wenn sie auf die alten Erinnerungen zu sprechen kam, auf die „gräfliche“ Zeit, als sie in der Kutsche fuhr und mit Gräfinnen und Baroninnen verkehren konnte. Ihr süßes Grafenkind war der schönste Engel, die liebste Seele, es hatte sie so sehr geliebt und sie es wieder geliebt; sie hatten sich geküsst und geherzt, der Knabe war ihre Freude, ihr halbes Leben. Jetzt war er groß, vierzehn Jahre alt, schön und gelehrt; sie hatte ihn nicht wiedergesehen, seit sie ihn auf ihren Armen getragen; sie war seit vielen Jahren nicht mehr im gräflichen Schloss gewesen, war es doch eine ganze Reise bis dorthin!
„Ich muss mich mal aufraffen!“ sagte Anna Lisbeth, „ich muss hin zu meiner Herrlichkeit, zu meinem süßen Grafenkind! Ja, er sehnt sich gewiss auch nach mir. Der junge Graf denkt an mich, liebt mich wie damals, als er mit seinen Engelsarmen an meinem Halse hing und rief „An-Lis!“ es klang wie eine Violine! Ja, ich muss mich aufraffen und ihn wiedersehen!“
Sie fuhr in einem Schlächterwagen ins Land hinein, ging weiter zu Fuß und gelangte auf das gräfliche Schloss. Es war groß und prächtig, wie es immer gewesen, der Garten wie früher, von außen gesehen, aber die Leute drinnen im Hause waren ihr alle fremd, nicht einer unter ihnen kannte Anne Lisbeth, sie wussten nicht, was sie einst hier bedeutet hatte, aber die Gräfin würde es ihnen schon sagen, auch ihr eigener süßer Knabe; wie sehnte sie sich nach ihm!
Nun war Anne Lisbeth da; lange musste sie oben warten, und dem Wartenden wird die Zeit lang! Ehe die Herrschaft zur Tafel ging, wurde sie zur Gräfin beschieden und sehr freundlich angesprochen. Ihren süßen Knaben sollte sie nach der Tafel sehen, sie sollte wieder hereingerufen werden.
Wie war er groß und lang und dünn geworden! Aber die wunderschönen Augen hatte er noch und den engelsüßen Mund! Er sah sie an, aber er sprach kein Wort. Er erkannte sie gewiss nicht wieder. Er wandte sich um, wollte weitergehen, da ergriff sie seine Hand und drückte sie an ihren Mund. „Gut, gut!“ sagte er, und daraufhin ging er aus der Stube, er, der Gedanke ihrer Liebe, er, den sie am meisten geliebt hatte und am meisten liebte, er, ihr ganzer Erdenstolz!
Anne Lisbeth ging vor das Schloss und auf die offene Landstraße, ihr war traurig zumute; hatte er doch so fremd mit ihr getan, hatte er doch keinen Gedanken, kein Wort für sie gehabt, er, den sie einst bei Tag und Nacht getragen und immer noch in ihren Gedanken trug!
Ein großer, schwarzer Rabe schoss vor ihr auf der Landstraße nieder und schrie wieder und wieder auf. „Eia“ sagte sie, „was bist du doch für ein Unglücksvogel!“ Sie kam an dem Haus des Feldarbeiters vorüber; die Frau stand in der Tür, und beide sprachen miteinander.
„Du siehst gut aus!“ sagte die Frau, „du bist dick und fett, dir geht es gut!“ „Oh ja! antwortete Anne Lisbeth. „Das Schiff ist mit ihnen untergegangen!“ sagte die Frau. „Lars Schiffer und der Junge sind ertrunken, alle beide. Mit ihnen hat es ein Ende. Hatte ich doch immer geglaubt, der Junge würde mir einmal mit ein paar Talern aushelfen können, dich kostet er nun nichts mehr, Anne Lisbeth!“
„Sie sind ertrunken?“ sagte Anne Lisbeth, und sie sprachen nicht mehr über die Angelegenheit. Anne Lisbeth war recht betrübt, weil ihr Grafenkind keine Lust gehabt hatte, mit ihr zu sprechen, mit ihr, die sie ihn so sehr liebte und den langen Weg zurückgelegt hatte, um zu ihm zu gelangen; und Geld hatte die Reise auch gekostet, aber das Vergnügen, welches ihr auf dem Schloss zuteil geworden, war nicht groß, doch hier sprach sie davon kein Wort, sie wollte ihr Herz nicht dadurch erleichtern, dass sie der Arbeitersfrau davon erzählte, könnte die doch leicht glauben, sie genieße nicht mehr das frühere Ansehen bei der Grafenfamilie.
Da schrie der Rabe wieder und flog über sie hin. „Das schwarze Untier!“ sagte Anne Lisbeth. „Wird mir heute noch einen Schrecken einjagen!“
Sie hatte Kaffeebohnen und Zichorie mitgebracht, weil sie dachte, es wäre für die arme Frau eine Wohltat, wenn sie ihr dies gab, damit sie eine Tasse Kaffee kochen könne; sie selbst könnte dann auch eine Tasse trinken. Die Frau machte sich daran, den Kaffee zu kochen, während Anne Lisbeth sich auf einem Stuhl niederließ und dort ermüdet einschlief. Es träumte ihr von dem, von dem ihr noch nie geträumt hatte; sonderbar, ihr träumte von ihrem eigenen Kind, das hier in der armen Hüte des Feldarbeiters gehungert und geweint hatte, sich in Wind und Wetter umhergetrieben hatte und jetzt in der Meerestiefe lag, der liebe Gott wusste, wo! Ihr träumte, dass sie säße, wo sie gerade saß, und dass die Frau mit Kaffeekochen beschäftigt wein, sie roch sogar die Bohnen, und in der Tür der Hütte, auf der Schwelle, stand eine wunderschöne Gestalt, die war ebenso schön wie das Grafenkind, und dieses Kind sprach zu ihr:
„Jetzt geht die Welt unter! Halte dich an mir fest, denn du bist doch meine Mutter. Du hast einen Engel im Himmel! Halte dich an mir fest!“ Und das Kind, der Engel, griff nach ihr, und ein grausiges Gekrach ertönte, die Welt ging aus den Fugen, und der Engel erhob sich über die Erde und hielt sie fest an ihrem Hemdärmel, so fest, schien ihr, dass sie von der Erde emporgehoben wurde; aber es hängte sich wiederum etwas sehr schwer an ihre Füße, lag schwer über ihrem Körper, es war, als klammerten sich Hunderte von Weibern fest an sie und als riefen sie: „Sollst du gerettet werden, müssen wir auch gerettet werden! Angeklammert! Angeklammert!“ Und dann klammerten sie sich alle an; es waren zu viele, ritsch ratsch! und der Ärmel riss, und Anne Lisbeth fiel entsetzt herunter, so dass sie dabei erwachte! – und sie war in der Tat eben nahe daran, mitsamt dem Stuhl, auf dem sie saß, umzustürzen; sie war dermaßen erschrocken und verwirrt, dass sie sich dessen nicht entsinnen konnte, was sie geträumt hatte, aber etwas Böses war es gewesen.
Nun wurde der Kaffee getrunken, dann wurde geplaudert, und endlich ging Anne Lisbeth weiter auf das Städtchen zu, wo sie den Fuhrmann antreffen wollte, um noch in derselben Nacht mit diesem in ihre Heimat zu fahren. Als sie aber mit dem Fuhrmann sprach, sagte derselbe, er könne erst am Abend des nächsten Tages zum Fahren fertig sein. Sie sann jetzt über die Kosten und die Länge des Weges nach, und indem sie bedachte, dass der Weg, wenn sie längs der Meeresküste ging, schon zwei Meilen kürzer sei als der Fahrweg und dass es klares Wetter und wohl auch Mondschein geben würde, da entschloss sie sich, ihn zu Fuß zurückzulegen und sogleich weiterzuwandern, so würde sie schon am nächsten Tage zu Hause sein.
Die Sonne war untergegangen, das Abendläuten von den Glocken der Dorfkirchen hallte noch durch die Luft – doch nein, es waren die Glocken nicht, sondern die Unken, die im Schilfe klagten. Jetzt schwiegen sie, alles ringsum war still, nicht einen Vogel vernahm man, alle waren zur Ruhe gegangen, selbst die Eule mochte nicht zu Hause sein; lautlose Stille herrschte am Waldesrand und Meeresstrand; wie sie dahinschritt am Ufer, hörte sie ihre eigenen Fußtritte im Sand; das Meer hatte keinen Wellenschlag, alles draußen über dem tiefen Gewässer war verstummt. Alle waren verstummt, die Lebendigen und die Toten des Meeres.
Anne Lisbeth schritt dahin, sie dachte, wie man sagt, an gar nichts, sie war abwesend von ihren Gedanken, aber die Gedanken waren von ihr nicht abwesend, die sind niemals von uns abwesend, sie schlummern nur so, sowohl die gedachten Gedanken, die untergetaucht sind, als auch diejenigen, die sich noch nicht gerührt haben. Aber diese Gedanken brechen zu ihrer Zeit hervor, sie rühren sich bald im Herzen, bald im Kopfe; sie stürzen sich gleichsam auf uns herab!
Es steht geschrieben: „Eine gute Tat trägt ihre segensreiche Frucht!“ Und so steht auch geschrieben: „In der Sünde ist der Tod!“ Vieles steht geschrieben, vieles ist gesagt worden, man weiß es nicht, man entsinnt sich dessen nicht, so erging es Anne Lisbeth; allein es kann einem ein Licht aufgehen, das Vergessene kann sich einem nahen!
Alle Laster, alle Tugenden liegen in unserm Herzen: in deinem, in meinem; sie liegen dort als kleine unscheinbare Samenkörner; von außen her kommt dann ein Sonnenstrahl, die Berührung einer bösen Hand. Du biegst um die Ecke, nach rechts oder links, ja, das kann entscheidend sein, und das kleine Samenkorn wird erschüttert, es schwillt auf dabei, es zerspringt und ergießt seine Säfte in all dein Blut, und nun bist du schon getrieben von dir selbst! Es gibt qualvolle Gedanken, die hat man nicht, wenn man so gleichsam schlummernd umherwandelt, aber sie sind da, sie gären im Herzen; Anne Lisbeth schritt so mit schlummernden Sinnen dahin, die Gedanken gärten! Von Lichtmess zu Lichtmess ist dem Herzen viel aufgerechnet worden, es hat eine ganze Jahresrechnung. Vieles ist vergessen, Sünden in Worten und Gedanken gegen Gott, unseren Nächsten und gegen unser eigenes Gewissen, wir denken nicht darüber nach, und Anne Lisbeth tat das auch nicht; sie hatte nichts verbrochen gegen das öffentliche Recht und Gesetz, sie war sehr gut angesehen, eine ehrenwerte, geachtete Person, das wusste sie. Und wie sie so einherschritt am Meeresufer – was lag denn dort? Sie blieb stehen; was war dort angeschwemmt? Ein alter Männerhut lag da. Wo möchte der wohl über Bord gegangen sein? Sie trat näher heran, blieb stehen und blickte den Hut an. Ja, was lag den dort? Sie fuhr erschrocken zusammen; allein es war nichts, worüber sie erschrocken war, es war Seegras und Schilf, das sich über einen großen länglichen Stein gelegt hatte, sah es doch ganz aus wie ein Mensch, es war nur Schilf und Seegras, aber sie erschrak doch, und indem sie weiterschritt, kam ihr so vieles in den Sinn, was sie als Kind gehört hatte, alter Aberglaube von Gespenstern am Meeresufer, dem Geist des Ertrunkenen und nicht Begrabenen, der an der öden Meeresküste angeschwemmt liegt. Der tote Leib, der tue niemandem etwas zu Leide, aber sein Geist, ja, der verfolge den einsamen Wanderer, hänge sich an denselben und fordere, zum Kirchhof getragen zu werden, um in geweihter Erde zu liegen. Angeklammert! Angeklammert! rufe das Gespenst. Und als Anne Lisbeth still für sich diese Worte wiederholte, stand ihr plötzlich ihr ganzer Traum vor Augen, leibhaftig wie er gewesen war, wie die Mutter sich an sie angeklammert und dieses Wort immerfort gerufen hatten, als die Welt versank, ihr Hemdärmel zerriss und sie aus den Händen ihres Kindes fiel, das sie in der Stunde des Jüngsten Gerichts hatte retten wollen. Ihr Kind, ihr eigenes, leibliches Kind, das sie nie geliebt hatte, ja, für das sie nicht einmal einen Gedanken gehabt hatte, dieses Kind lag jetzt auf dem Meeresgrunde, es konnte als Gespenst aus den Wellen auftauchen und rufen: „Angeklammert! Trage mich in geweihte Erde!“ Und als sie daran dachte, prickelte ihr die Angst in den Fersen, so dass sie schneller dahinschritt; die Furcht kam heran als eine kalte, nasse Hand und legte sich in ihre Herzgrube, so dass sie fast ohnmächtig ward, und wie sie nun über das Meer hinausblickte, wurde dort alles dicker und dichter; ein schwerer Nebel wälzte sich heran, legte sich um Gebüsch und Baum, diese sonderbar gestaltend. Sie wandte sich um und schaute nach dem Mond, der hinter ihr stand; der war wie eine blasse Scheibe, ohne Strahlen, es war, als habe sich ein Etwas schwer auf alle ihre Gliedmaßen gelegt. Angekammert! Angeklammert! dachte sie, und als sie sich wieder umdrehte und den Mond anblickte, schien es ihr, als sei dessen weißes Gesicht ihr ganz nahe, und der Nebel hing ihr wie ein Gewand von den Schultern herab. „Angeklammert! Trage mich in geweihte Erde!“ klang es in ihren Ohren, so hohl, sogar sonderbar, der Laut kam nicht von den Unken, nicht von den Raben oder Krähen, es war nichts von ihnen zu sehen. „Ein Grab! Grab mir ein Grab!“ klang es ganz laut; ja, es war der Strandgeist von ihrem Kinde, das auf dem Meeresgrunde lag, das keinen Frieden fand, bevor es nicht auf den Kirchhof getragen und ihm ein Grab in geweihter Erde geschaufelt worden war. Dorthin wollte sie gehen, dort wollte sie graben, und sie schritt dahin in der Richtung, in der die Kirche lag, und es schien ihr dabei, als werde die Last ihr leichter, ja, sie verschwand, und da wollte sie wieder umkehren und auf dem kürzesten Wege nach Hause gehen, aber da fasste es sie wieder an: „Angeklammert! Angeklammert!“ Es hörte sich an wie das Quaken der Frösche, wie das Klagen eines Vogels, nein, es klang ganz deutlich: „Ein Grab! Grab mir ein Grab!“
Der Nebel war kalt und feucht, Hand und Gesicht waren ihr kalt und nass vor Entsetzen, an ihren Körper fasste es und legte sich schwer darauf, in ihrem Innern öffnete sich ein unendlicher Raum für Gedanken, die niemals früher gekommen waren.
Hier im Norden schlägt der Buchenwald oft während einer einzigen Frühlingsnacht aus und steht im Tagessonnenschein da in seiner jungen, hellgrünen Pracht – in einer einzigen Sekunde kann in unserm Innern die Saat der Sünde in Gedanken, Worten und Taten aufgehen, die in unser bisheriges Leben gesät worden ist; sie sprießt empor und entfaltet sich während einer einzigen Sekunde, wenn das Gewissen erwacht, und Gott weckt es, wenn wir es am wenigsten vermuten. Als dann ist nichts zu entschuldigen, die Tat ist da und zeugt wider uns; die Gedanken werden zu Worten, und die Worte klingen laut in die Welt hinaus. Wir entsetzen uns über das, was wir in uns getragen und nicht erstickt haben, über das, was wir in Übermut und Gedankenlosigkeit ausgesät haben. Das Herz birgt in sich alle Tugenden, aber auch alle Laster, und die gedeihen selbst auf kargstem Boden.
Anne Lisbeth hatte Raum für all die Gedanken, die wir hier in Worte gekleidet haben; sie war von ihnen überwältigt, sie brach zusammen und kroch eine Stecke auf der Erde hin. „Ein Grab, grab mir ein Grab!“ ertönte es wieder, und am liebsten hätte sie sich selber begraben, wenn das Grab ein ewiges Vergessen jeglicher Tat wäre. Es war die ernste Stunde der Erweckung in Ängsten und Grauen. Der Aberglaube machte sie bald fröstelnd zittern, bald trieb er Fieberglut in ihr Blut. Gar vielen, von dem sie nie hatte reden mögen, kam ihr in den Sinn. Lautlos, wie die Wolkenschatten im hellen Mondenschein, fuhr eine gespenstische Erscheinung an ihr vorüber, sie hatte davon früher schon gehört. Dicht an ihr jagten vorüber vier schnaubende Rosse, das Feuer sprühte ihnen aus Augen und Nüstern, sie zogen eine glühende Kutsche, in der Kutsche saß der böse Gutsherr, der vor mehr als hundert Jahren in dieser Gegend sein Wesen getrieben hatte. Um jede Mitternacht, hieß es, fahre er in seinen Herrenhof hinein und kehre sogleich wieder um. Da! Da! Er war nicht bleich, wie man es von Toten sagt, nein, er war schwarz wie Kohle. Er nickte Anne Lisbeth zu und winkte ihr: „Angeklammert! Angeklammert! Dann kannst du wieder in gräflicher Kutsche fahren und kannst dein Kind vergessen. “
Sie raffte sich zusammen und eilte zum Kirchhof; aber die schwarzen Kreuze und die schwarzen Raben tanzten vor ihren Augen, und sie vermochte es nicht, die einen von den anderen zu unterscheiden. Die Raben schrien, wie der Rabe am Tage geschrien hatte, doch jetzt verstand sie, was sie schrien: „Ich bin die Rabenmutter! Die Rabenmutter“ schrie jeder Rabe, und Anne Lisbeth wusste jetzt, dass dieser Name auch ihr galt; sie würde vielleicht in einen solchen schwarzen Vogel verwandelt werden und müsste vielleicht immerfort schreien, was die schrien, wenn sie das Grab nicht grübe.
Und sie warf sich auf die Erde, und sie grub mit ihren Händen ein Grab in den harten Boden, dass das Blut ihr aus den Nägeln sprang.
„Ein Grab, grab mir ein Grab!“ tönte es immerfort, sie fürchtete, dass der Hahnenschrei und der erste rote Streifen im Osten kommen konnten, bevor sie ihre Arbeit beendigt hatte, dann war sie verloren.
Und der Hahn schrie, und es leuchtete im Osten auf – das Grab war nur halb gegraben; eine eisige Hand glitt über ihr Haupt und Antlitz hin bis in die Herzgrube. „Nur halbes Grab“, seufzte es und entschwebte hinab auf den Meeresgrund, ja, es war der Strandgeist; Anne Lisbeth sank überwältigt und erstarrt zu Boden, alle Sinne schwanden ihr.
Es war heller Tag, als sie wieder zu sich kam, zwei Männer hoben sie auf; sie lag nicht auf dem Kirchhof, sondern unten am Meeresufer, und dort hatte sie ein tiefes Loch vor sich in den Sand gegraben und ihre Finger blutig geschnitten an einem zerbrochenen Glas, dessen scharfer Stiel in einem kleinen Holzklotz steckte. Anne Lisbeth war krank; das Gewissen hatte die Karten des Aberglaubens gemischt, hatte diese Karten gelegt und aus denselben herausbekommen, dass sie nunmehr nur eine halbe Seele hatte, die andere Hälfte hatte ihr Kind mit auf den Meeresgrund genommen; nimmer würde sie sich emporschwingen können zu der Gnade des Himmels, ehe sie nicht die andere Hälfte besäße, die festgehalten wurde in dem tiefen Wasser. Anne Lisbeth kam wieder in ihre Heimat, sie war nicht mehr dieselbe, die sie früher gewesen war, ihre Gedanken waren verwirrt wie verwirrtes Garn; nur einen Faden, nur einen Gedanken hatte sie frei gemacht, das war der, dass sie den Strandgeist zum Kirchhofe tragen und ihm ein Grab graben müsse, um dadurch ihre ganze Seele wiederzugewinnen.
Manche Nacht wurde sie in ihrer Wohnung vermisst, und immer fand man sie wieder an der Meeresküste, wo sie des Strandgeistes harrte; auf solche Weise verstrich ein ganzes Jahr, da verschwand sie wieder einmal eine Nacht, war aber nicht aufzufinden; der ganze folgende Tag verging mit vergeblichem Suchen.
Gegen Abend, als der Küster in die Kirche trat, um die Vesperglocke zu läuten, erblickte er dort vor dem Altar Anna Lisbeth, hier hatte sie seit dem frühesten Morgen verweilt; ihr Körper was fast unterlegen, aber ihre Augen strahlten, ihr Antlitz hatte einen rosigen Glanz, die letzten Sonnenstrahlen beschienen sie, strahlten über den Altar hin auf die blanken Beschläge der Bibel, die dort aufgeschlagen lag mit den Worten des Propheten Joel: „Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider, kehret um zum Herrn!“ – „Das war nur so zufällig!“ sagten die Leute, „Wie so vieles zufällig ist!“
Im Antlitz Anne Lisbeths, bestrahlt von der Sonne, war zu lesen von Frieden und Gnade. Ihr sei so wohl, sagte sie. Nun habe sie überwunden! Diese Nacht sei der Strandgeist, ihr eigenes Kind, bei ihr gewesen, er habe zu ihr gesagt: du grubst mir nur ein halbes Grab – aber du hast jetzt Jahr und Tag mich ganz in deinem Herzen begraben, und dort birgt eine Mutter ihr Kind am besten! Und darauf habe er ihr ihre verlorene Seele wiedergegeben und habe sie hier in die Kirche hineingeleitet.
„Jetzt bin ich in Gottes Haus!“ sprach sie, „und in dem Hause ist man selig!“ Als die Sonne ganz unten war, war Anne Lisbeths Seele ganz oben, wo keine Furcht ist, wenn man hier ausgelitten hat und Anne Lisbeth hatte ausgelitten.
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