Märchen aus der Türkei
Die Überlieferer der Erzählungen und die Berichterstatter der Geschichten erzählen folgendes: In alter Zeit hatte eine alte Frau eine sehr liebenswerte Tochter, die an Schönheit nicht ihresgleichen in der Welt hatte. Dieses Mädchen saß in einem Zimmer und strickte. Eines Tages gegen Abend kam ein Vogel durch das Fenster herein und redete sie in wohlgesetzten Worten an: »Meine Sultanin, du wirst vierzig Tage lang einen Toten bewachen und dann deinen Wunsch erreichen.« Darauf flog er fort.
Das Mädchen legte sich an jenem Abend nieder und schlief ein. Am nächsten Tag gegen Abend kommt der Vogel in gleicher Weise wieder und spricht nochmals und fliegt fort. Das arme Mädchen erzählt seiner Mutter die Worte des Vogels. Die Mutter fragt: »Ach, meine Tochter! Wann kommt der Vogel?« Da antwortete das Mädchen: »Heute abend wird er wiederkommen.«
Als es endlich Abend wurde, versteckte sich die Mutter in einem Schrank. Der Vogel kam wiederum und sprach zu dem Mädchen: »Meine Sultanin! Du wirst vierzig Tage lang einen Toten bewachen und dann deinen Wunsch erreichen!« Nach diesen Worten flog er wieder fort.
Als die Mutter dies gehört hatte, sagte sie: »Ach, meine Tochter! Komm, wir wollen uns vor diesem Vogel retten und flüchten.« Das Mädchen entgegnete: »Wie es auch kommen mag, so soll es sein! Mutter, wir wollen fliehen!«
Darauf packten sie ihre Sachen zusammen, die an Gewicht leicht, aber an Wert schwer waren, und machten sich auf den Weg. Nachdem einige Tage vergangen waren, gelangten sie zu einem Palast. Sie ließen sich an einer Seite außerhalb des Palastes nieder und ruhten aus. Als es Nacht wurde, legten sie sich hin und schliefen ein. Da kam der Vogel wieder, ergriff das Mädchen leise und brachte es in ein Zimmer des Palastes. Danach flog der Vogel fort. Als das Mädchen seine Augen öffnete und umherschaute, sah es sich selbst im Palast. Mitten im Zimmer lag in einem Bett ein Toter. Als das Mädchen das sah, wäre es beinahe ohnmächtig geworden und dachte: »O weh, was der Vogel gesagt hat, war doch keine Lüge! Das kommt von Gott. Ich muss das, was mir bestimmt ist, ertragen. So Gott will, wird das Ende gut.«
Das Mädchen soll also hier verweilen. Wir wollen uns zu seiner Mutter wenden. Als es Morgen wurde, wachte sie aus dem Schlaf auf und sah auf einmal, dass das Mädchen nicht mehr da war. Da rief sie: »O weh, indem ich meiner Tochter geraten habe, vor dem Vogel zu fliehen, habe ich sie mit eigener Hand ins Verderben gestürzt.« So klagte und jammerte sie. Geradewegs kehrte sie nach Hause zurück und litt in Verzweiflung und Trauer um das Mädchen.
Wir wollen nun zum Mädchen kommen! Tag und Nacht schlief es nicht und klagte. Schließlich kam der neununddreißigste Tag. Das Mädchen saß am Fenster und schaute traurig auf das Meer. Da wurde ein Schiff sichtbar, das von Persien her kam. Als es gerade am Palast vorüberfuhr, machte das Mädchen dem Kapitän mit der Hand ein Zeichen und rief: »Nimm diese zehntausend Piaster und gib mir eine Sklavin.« Dann ließ sie einen Strick hinab und zog die Sklavin herauf. Sie legte ihr eine goldene Kette um den Hals und freute sich, weil sie eine Gefährtin gefunden hatte.
Genau am vierzigsten Tag sprach sie zu der Sklavin: »Du bleibe hier! Ich werde mir die Zimmer ein wenig ansehen und wiederkommen.« Das Mädchen ging weg, und die Sklavin blieb allein. Während das Mädchen alle Winkel des Palastes besichtigte, stand der in dem Zimmer liegende Tote auf, wobei er nieste. Als er wieder lebendig geworden war und seine Augen öffnete, erblickte er die Sklavin und sagte: »Adi du, Mädchen, du hast mich bewacht?« Die Sklavin erwiderte: »Ja, ich habe dich bewacht!«
Nun aber war der Tote, der dort gelegen hatte, ein Königssohn, der früher geschworen hatte: »Wer mich vierzig Tage lang bewacht, den werde ich heiraten, sobald ich ihn, wenn ich aufstehe, sehe.«
So hatte er beschlossen. Als er die Sklavin sah, nahm er sie zur Frau und fragte sie, ob außer ihr noch sonst jemand hier wäre. Da sagte sie: »]a, in jenem Zimmer ist noch eine Sklavin von mir. Ich habe sie um Geld gekauft, und die Goldstücke, die sie am Hals trägt, habe ich ihr auch gegeben.«
Dann rief sie ihre Herrin: »Mädchen, komm! Der Herr verlangt nach dir.« Da kommt das Mädchen herein und sieht, dass alles ganz anders geworden ist. Auch das kommt von Gott, dachte sie. Man muss es mit Geduld ertragen. Das Mädchen zog nun selbst die Kleider einer Sklavin an und versah oben und unten im Hause ihren Dienst.
Eines Tages sagte der Prinz zur Herrin: »Ich werde auf Reisen gehen. Was soll ich dir mitbringen?« Die Herrin antwortete: »Ich möchte eine Anzahl Diamanten und Türkise haben.“ Als er die Sklavin fragte, was sie haben möchte, da sagte sie: »Ich wünsche mir den Geduldstein. Wenn du ihn vergisst, soll bei deiner Rückkehr das Vorderteil des Schiffes in pechschwarzem Rauch, aber das Hinterteil klar sein.«
Danach brach der Königssohn auf und fuhr nach Jemen. Nach einigen Monaten gelangte er dorthin, erledigte dort seine Geschäfte und kaufte, was ihm die Herrin aufgetragen hatte. Aber den Auftrag der Sklavin hatte er vergessen. So machte er sich auf den Heimweg. Auf einmal sieht er, dass das Vorderteil des Schiffes in pechschwarze Dunkelheit gehüllt ist, während das Hinterteil ganz hell ist. Sein Schiff konnte nicht abfahren. Der Kapitän rief den Soldaten zu: »Wenn unter euch ein Mensch ist, der einen Fluch auf sich hat, soll er aussteigen!“
Als der Königssohn das hörte, kam ihm der Auftrag der Sklavin in den Sinn. In der Tat war eingetreten, was sie gesagt hatte. Das Schiff kehrte um, der Königssohn stieg aus, kaufte den Geduldstein, wie ihm aufgetragen war, und kam zum Schiff zurück. Da war das Vorderteil des Schiffes hell, während der hintere Teil im Nebel lag. Durch die Gnade Gottes fuhr das Schiff rasch wie ein Vogel dahin. Nach Verlauf von einigen Tagen gelangte es zu der Stadt. Der Königssohn verließ das Schiff und begab sich in seinen Palast.
Die Herrin und die Sklavin stiegen die Treppe hinunter, bewillkommneten ihn und führten ihn hinauf. Der Herrin übergab er das Geschenk, das sie sich gewünscht hatte, und der Dienerin gab er den Geduldstein. Beide waren zufrieden.
Am Abend ging das Mädchen in sein Zimmer und blieb dort. Der Königssohn und die Herrin legten sich nieder. Als sie schlief, kam dem Königssohn in den Sinn, was wohl die
Dienerin mit dem Geduldstein machen würde. Das machte ihn neugierig. Da die Herrin schlief, stand er aus seinem Bett auf, ging leise an das Zimmer, in dem die Dienerin war, und beobachtete das Mädchen durch das Schlüsselloch.
Wir wollen zu dem Mädchen kommen. Das, was man Geduldstein nannte, war ein Stein von der Größe einer Linse. Das Mädchen warf den Stein auf den Boden und sagte: »Ach, Geduldstein! Einst war ich das teure Kind meiner Mutter. Als ich eines Tages strickte, kam ein Vogel ans Fenster und sprach mit wohlgesetzten Worten zu mir: -Vierzig Tage wirst du bei einem Toten wachen und darauf deinen Wunsch erreichen.< Dann kam ich irgendwie in diesen Palast und bewachte neununddreißig Tage lang diesen Jüngling. Wenn das alles mit dir geschehen wäre, wie würdest du es ertragen, O Geduldstein?«
Da machte der Geduldstein »puh, puh- und schwoll an.
Das Mädchen fuhr fort: »Als an jenem Tag ein Schiff vorbeifuhr, kaufte ich mir für Geld eine Sklavin. Am vierzigsten Tag ließ ich die Sklavin im Zimmer zurück und ging ein wenig hinaus. Da wachte der Jüngling auf, und als er die Sklavin sah, heiratete er sie und wohnte mit ihr zusammen. Wenn das mit dir geschehen wäre, wie würdest du es ertragen?«
Da machte der Geduldstein »puh« und schwoll noch weiter an. »Ich bin zu ihrer Sklavin geworden, O Geduldstein. Wie würdest du es erdulden?«
Da machte der Geduldstein »puh« und platzte.
»O Geduldstein, du hast es nicht erdulden können und bist geplatzt. Wie soll ich es erdulden? Ich will mich nun an der Decke erhängen.« Sie stellte einen Schemel unter ihre Füße. Gerade als sie sich aufhängen wollte, brach der Königssohn die Tür auf, trat ein, umarmte das Mädchen und setzte sie auf die Erde mit den Worten: »Wehe, meine Sultanin! Da du mich doch bewacht hast, warum hast du es mir so lange nicht gesagt?«
Darauf ging er in das Zimmer jenes Mädchens, verprügelte sie, ließ sie aufstehen und fragte sie: »Willst du mit vierzig Maultieren oder mit vierzig Messern bestraft werden?« Da antwortete sie: »Ach, die vierzig Messer mögen auf das Haupt meines Feindes kommen. Ich möchte vierzig Maultiere haben, damit ich in meine Heimat gehen kann.« Darauf band er das Mädchen an die Schwänze von vierzig Maultieren und ließ
sie los. Auf jedem Berg blieb ein Stück von ihr liegen.
Dann nahm der Königssohn die Herrin und heiratete sie.
Vierzig Tage und vierzig Nächte dauerten die Hochzeitsfeierlichkeiten. Beide haben nun ihren Wunsch erreicht. Und damit Schluss!
Comments are closed