Bergbaumärchen
Zu einer Zeit, als die Menschen nur wussten, dass man mit Holz Feuer und Wärme erzeugen könne, weidete an einem kühlen Herbsttage ein Hirtenjunge seine Schafe dort, wo die Berge an die Ufer der Ruhr stoßen. Als er hungrig wurde, fing er einige Fische und entzündete ein kleines Holzfeuerchen, um sie zu braten und um ein wenig Wärme für die Nacht zu haben. Am nächsten Morgen schien das Feuer erloschen. Als der Hirtenjunge in die Asche greifen wollte, zuckte er jedoch erschreckt zurück, denn er sah, dass die Steine, auf denen er am vergangenen Abend das Feuer entzündet hatte, heiß und rotglühend geworden waren. Der Junge hatte so etwas noch niemals gesehen und rannte verstört nach Hause zu seinen Eltern, denen er sein Abenteuer erzählte. Auch Vater und Mutter konnten sich den Spuk nicht erklären und glaubten, dass es sich um ein Werk des Teufels handeln müsse. Sie verboten ihrem Sohn, jemals von seinem Erlebnis zu sprechen. Fortan weidete dieser seine Schafe woanders, doch konnte er niemals die unheimliche Begebenheit vergessen.
Als unser Hirtenjunge zu einem stattlichen Mann herangewachsen war, wollte er sich eine Frau suchen, die ihr Leben mit ihm teilen sollte. Doch unter den Mädchen seiner Heimat fand sich keine, die ihm gefiel. Allerdings gab es in Essen ein liebes und freundliches Mädchen, das er gern heimgeführt hätte. Dieses Mädchen hatte aber schon so manchen, der um ihre Hand angehalten hatte, abgewiesen, weil sie sich niemals entscheiden konnte. Da bestimmte eines Tages ihr Vater, dass sie denjenigen heiraten solle, der ihr den schönsten Edelstein als Hochzeitsgabe bringen könne. In der Folgezeit kamen zahlreiche junge Männer in das Haus des Mädchens und legten die auserlesensten Schmucksteine vor sie hin, die sie überall in der Welt zusammengetragen hatten. Keinem aber gelang es, die Schönheit der Kostbarkeiten zu übertreffen, die das Mädchen bereits besaß.
Als der Hirtenjunge dies hörte, war er sehr traurig, denn er besaß nicht genug Geld, um jemals wertvolle Diamanten oder Geschmeide erwerben zu können. Doch da erinnerte er sich an die brennenden Steine, die er vor vielen Jahren einmal gesehen hatte und von denen zu sprechen ihm seine Eltern verboten hatten. Lange Zeit kämpfte er mit sich, ob er es wagen sollte, an den Ort seines Abenteuers zurückzukehren, und große Furcht beschlich ihn, wenn er daran dachte. Seine Sehnsucht nach dem jungen Mädchen war aber so groß, dass er es doch endlich wagte. Mit einer Spitzhacke und einem Holzkästchen begab er sich zum Ruhrufer, wo er einstmals das Feuer angezündet hatte und löste einige der Steine, die er dort vorfand. Hierbei fiel ihm auf, dass diese Steine schwarz waren und glänzten.
Mit seinem gefüllten Holzkästchen ließ er sich sodann bei dem schönen Mädchen melden. Als er eintrat und seine schwarzen Steine vorzeigte, lachten und spotteten das Mädchen und ihr Vater über ihn, weil sie nicht glauben konnten, dass die schwarzen Steine als Edelsteine oder Diamanten angesehen werden könnten. Der Hirtenjunge aber ließ sich nicht beirren und bat darum, dass er seine Steine ins Holzfeuer legen dürfe. Der Wunsch wurde ihm gewährt, und schon bald flackerte das Feuer hoch auf, und die schwarzen Steine erglühten in prächtigem Rot so hell und klar, wie noch niemals ein Edelstein geleuchtet hatte. Als das Mädchen dies sah, entflammte ihr Herz für den Hirtenjungen. Die beiden jungen Menschen blickten sich glücklich in die Augen, und schon wenige Wochen später wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert.
Nach der Hochzeit kamen die Gäste zu einem großen Festmahl zusammen. Als sie nun hörten, auf welch wundersame Weise der Hirtenjunge die Liebe des schönen Mädchens errungen hatte, da baten sie ihn, den Ort zu zeigen, wo er die schwarzen Steine gefunden hatte. Nachdem das Geheimnis nun ein für allemal gelüftet worden war, sträubte sich der junge Ehemann nicht länger und führte alle Gäste zu den Ufern der Ruhr, wo er zum ersten Mal das Glühen der schwarzen Steine gesehen und ihre Wärme verspürt hatte.
Später kamen viele Menschen von weit her an diese Stelle und wollten von den Steinen haben, weil sie erfahren hatten, dass man mit ihnen viel besser heizen konnte als bisher mit Holz. Wie sie früher das ausgeglühte Holz „Holzkohle“ genannt hatten, so tauften sie die schwarzen Steine „Steinkohle“.
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