Heinrich Pröhle
Der Kaiser Karl der Große war nicht nur ein gewaltiger Kriegsheld, der alle seine Feinde unterwarf, sondern auch ein Freund und Förderer der Kunst und Wissenschaft. Darum begünstigte er die Pflegestätten der Bildung, die zumeist mit den Klöstern verbundenen Schulen, ungemein und ließ solche überall in den Städten seines Reiches errichten, auf dass schon die Herzen der Jugend für die Errungenschaften des Geistes angeregt und empfänglich gemacht würden.
Insbesondere zu Aachen an seinem Hofe bestand eine mit vorzüglichen Lehrern versehene Schule, in der nicht nur die Söhne seiner Fürsten und Ritter, sondern auch die seines Hofgesindes und ebenso die Aachener Bürgerssöhne Aufnahme fanden. Der Kaiser selbst wohnte oftmals mit seinem Gefolge dem Unterricht bei und überzeugte sich so persönlich von dem Fleiß und Wohlverhalten der Knaben. Er erkannte hierbei keinerlei Unterschied oder Bevorzugung an und achtete aufs strengste darauf, dass die Schüler nicht nach dem Rang und Stand der Eltern, sondern einzig nach ihren Fähigkeiten beurteilt wurden, wobei er mit gutem Beispiel voranging und immer selbst Lob oder Tadel ohne jegliches Ansehen der Person spendete.
Unter den Schülern waren es hauptsächlich zwei Söhne einer armen Witwe, die sich seines besondern Wohlwollens zu erfreuen hatten. Der jüngere zeichnete sich im Lesen und in der Kenntnis der Schriften, der ältere aber nicht nur in diesem, sondern auch im Schreiben und in den Sprachen aus, so dass Karl diese beiden öfter der ganzen Knabenschaft als Beispiel vorstellte, worüber sich die Söhne der Vornehmen nicht wenig ärgerten.
Als die Knaben erwachsen waren, wurde der jüngere Prior und Lehrer in einer Klosterschule, den ältern namens Eginhard aber, der zu einem bildschönen Jüngling herangewachsen war, machte Karl zu seinem Geheimschreiber, da Eginhard nicht nur die deutsche und lateinische Sprache mit gleicher Gewandtheit bemeisterte, sondern auch in den alten Heldenliedern, für die Karl eine besondere Vorliebe hatte, ausnehmend gut bewandert war. Eginhard schrieb sie in seinen Freistunden nieder und musste dem Kaiser oftmals abends aus seinen Pergamenten, auf denen er diese Denkmäler der Vergangenheit aufgezeichnet hatte, vorlesen, und zuweilen nahm die ganze Familie des Kaisers daran teil.
Unter den Kindern Karls war besonders hervorragend, an häuslichen Tugenden sowohl wie an Anmut und Verstand, Emma, die jüngste Tochter der verstorbenen ersten Gemahlin des Kaisers. Sie war um etwa sechs Jahre jünger als Eginhard und lauschte stets mit besonderer Aufmerksamkeit den Liedern, in denen viel Wunders gekündet war von den Taten kühner Recken und von der getreuen Verehrung der Heldenjünglinge für hehre Königinnen. Es konnte nicht ausbleiben, dass der dunkellockige Jüngling mit seinem begeisterten Vortrag auf ihr jugendliches Herz einen tiefen Eindruck machte, und gar bald hatte der Geheimschreiber ihres Vaters sich ihrem Herzen unauslöschlich eingeschrieben, ohne dass sie es selbst nur recht wusste.
Eginhard merkte wohl die für ihn emporkeimende Neigung der hohen Jungfrau, aber er schwieg und bewahrte das Geheimnis, von dem ja niemand eine Ahnung haben durfte, im tiefsten Herzen.
Da kam mit Beginn des Lenzes plötzlich eine für Emma bedeutungsvolle Botschaft an den Hof ihres Vaters. Der Sohn des Kaisers von Byzanz hatte von ihrer Tugend und Schönheit gehört und Boten abgesandt, die um ihre Hand werben sollten. Der Kaiser war erfreut über diese Ehre, die seiner jüngsten Tochter widerfahren sollte, er nahm die Boten in entgegenkommendster Weise auf und versicherte sie, dass sie auf seine Zustimmung rechnen dürften. Als er jedoch Emma von der Werbung sagte, war diese wenig erbaut hiervon und beschwor ihren Vater, den Freier zurückzuweisen, da sie nicht von der trauten Heimat scheiden möge. Sie warf sich ihm, da er ihre Weigerung töricht nannte, zu Füßen, aber es half ihr zu nichts, Karl wollte sich die Ehre, mit dem mächtigen Kaiser von Byzanz in Verwandtschaft verbunden zu sein, nicht entgehen lassen und sprach: „Drei Tage Zeit will ich dir zugestehen, in denen magst du dich entscheiden, ob du Kaiserin werden oder ins Kloster wandern willst.“
Weinend wankte die Jungfrau zu ihrer Kemenate und flehte zu Gott im Gebet um Rat und Hilfe. Da kam ihr plötzlich in ihrer Ratlosigkeit der Gedanke, Eginhard, den vielgewandten Gehilfen und Diener ihres Vaters, zu dem ihr jugendliches Herz sich ja so sehr hinneigte, um guten Rat und getreulichen Beistand anzugehen. Er wusste sicherlich einen Ausweg, und sie entschloss sich deshalb, ihm um eine Zusammenkunft in ihrem Gadem zu bitten.
Da niemand von der Sache wissen durfte, so konnte dies nur im Schutz der Nacht und Dunkelheit ausgeführt werden, und so wandelte denn Eginhard, von einer vertrauten Dienerin Emmas geleitet, im Dunkel der Mitternacht zu der für ihn geöffneten Kemenate der Kaisertochter.
Lange dauerte die Beratung zwischen den beiden, da auch Eginhard, der Karls entschiedenes und unerschütterliches Festhalten an dem einmal Beschlossenen wohl kannte, wenig Ersprießliches zu raten wusste. Eines jedoch wurde den jugendlichen Herzen während dieses Zusammenseins vollständig klar, das nämlich, das sie beide am glücklichsten sein würden, wenn sie für immer und ewig einander angehören dürften. Emma kam demzufolge nur noch fester zu dem Entschluss, bei ihrer Weigerung zu beharren und das übrige Gott anheimzustellen.
Inzwischen war es fast Morgen geworden und Eginhard wollte nun wieder eilends von dannen schleichen, aber als er vor die Türe kam, entdeckte er zu seinem Schrecken, dass in der wetterwendischen Aprilnacht, während er sich bei des Kaisers Töchterlein verweilt hatte, ein dichter Schnee herniedergefallen war. Schreckensbleich kehrte er zurück und kündete der Geliebten das unliebsame Ereignis, das ihnen sehr zum Unheil ausfallen konnte, da am Morgen die Spur der Fußtritte verraten musste, dass ein Mann das Gadem der Kaisertochter besucht hatte.
In dieser Angst und Not erdachte sich die Jungfrau eine kühne Tat, die sie, stark und entschlossen wie sie war, auch zur Ausführung brachte. „Ich weiß Rat,“ rief sie, „Herr Eginhard, ich trag euch auf meinem Rücken durch den Schnee im Hof bis zum Tor Eurer Wohnung.“
Sie war von ähnlichem Wuchs, wie ihr gewaltiger Vater und kräftig genug, die Tat nicht nur zu wollen, sondern auch zu vollführen. Eginhard musste nachgeben, und Emma schritt ohne wanken mit ihrer Last durch den breiten Hof bis zu dem Haus der Hofbeamten, in dem Eginhard wohnte. Vorsichtig kehrte sie in ihren eigenen Fußspuren wieder zurück und dankte, als sie wieder in ihrem Gemach war, auf den Knien, der hehren Himmelskönigin, die ihr die Kraft geschenkt hatte, die Sache so glücklich und unbehelligt zu Ende zu bringen.
Nicht ganz so glücklich aber, wie Emma gemeint, war es gegangen. In dieser Nacht hatte der Kaiser Karl, dem die Verlobungs Angelegenheit sehr zu Herzen ging, nur spärlichen Schlaf gefunden. Unmutig wälzte er sich auf den Polstern hin und her und erhob sich, als der Morgen zu dämmern begann, von seiner Lagerstätte, um die zwiespältigen Gedanken, die sein Inneres durchkreuzten, los zu werden. Als nun ans Fenster trat und den stillen, schneebedeckten Burghof überschaute, gewährte er plötzlich eine sonderbare Erscheinung, die in dem Schnee sich langsam vorwärts bewegte. Kopfschüttelnd schaute er hinab, aber als jetzt das Ding nahe bei dem Palast vorbeikam, entdeckte er zu seinem Erstaunen dass es ein Mägdlein war, das einen vermummten Mann auf dem Rücken schleppte, und daß das Mägdlein die Züge seiner Tochter Emma trug. Er rieb sich die Augen, denn er meinte zu träumen, aber es war kein Spuk oder Traumgebild, die sonderbare Trägerin setzte an dem Hofdienerhaus ihre Last ab und sprang mit leisen Schritten durch den Schnee zurück zu den Gaden, in dem sie rasch verschwand .—
Voll Trauer furchte der alte Kaiser seinen langen, weißen Bart, da sich ihm hier ein Geheimnis enthüllte, durch das ihm die Weigerung seiner Tochter Emma urplötzlich in unliebsamer Weise klar gemacht wurde. Nur eines hatte er nicht entdecken können, das Angesicht des verräterischen Mannes, der die Ehre und das Glück seines Kaisers in solcher Weise herabsetzte; er gedachte, dem Schurken schon noch nachträglich die Larve herabzureißen.
Als der Tag angebrochen war, befahl er sogleich alle seine Räte zur Versammlung in den Gerichtssaal und sprach zu ihnen mit hochernsten Angesicht: „Ich habe euch heute zusammengerufen, um euer Urteil in einer Sache zu vernehmen, die mir persönlich nahe geht. Meine Ehre und mein fürstliches Ansehen ist durch einen meiner Beamten, der mit meiner Tochter nächtliche Zusammenkünfte hält, schwer verletzt worden. Urteilt ihr nun, was dem Verbrecher für Strafe gebührt.“
Alle die Räte erstaunten die Kunde des unerhörten Vorkommnisses, aber sie wagte nicht, ein Urteil abzugeben, da sie der Meinung waren, dass in dieser Sache der Kaiser selbst entscheiden müsse. Als Karl jedoch mit dieser Rede nicht zufrieden war und ernstlicher in sie drang, rieten sie verschieden, die einen waren für die allerstrengste Bestrafung, den Tod, die andern meinten, in Sachen der Minne wäre das Beste Verzeihung.
Nur einer der Anwesenden ließ kein Wort vernehmen — Eginhard; mit gesenkten Augen und hochrotem Antlitz saß er da, als Karls Auge auf ihm weilte, und schwieg stille. Da ward dem Kaiser plötzlich klar, dass dies der Missetäter sei, und mit tiefem Schmerz wendete er sich von dem Jünglinge ab, der sein Vertrauen so schwer missbraucht hatte.
Nach einer Weile stiller Überlegung begann er darauf: „Zwiespältig ist euer Spruch ausgefallen, ihr Herren, und es scheint mir wahrhaft das Richtige zu sein, wenn ich selbst das Urteil fälle, und das geht dahin, dass ich dem Schuldigen das Leben schenken will, wenn er offen und unumwunden seine Fehler eingesteht.“
Er schaute seinen Geheimschreiber wiederum mit durchdringenden Augen an, und Eginhard widerstand diesem forschenden Blick nicht länger. Voll Schames erhob er sich und warf sich schweigend in Tränen zu des Kaisers Füßen. Da ging ein scharfes Flüstern und Raunen durch den ganzen Saal, denn dann Erstaunen der kaiserlichen Räte war groß, sie konnten es kaum glauben, dass der tugendliche Eginhard der Verbrecher sein solle, aber es musste wohl so sein, da er es ja selbst zugestanden hatte.
Mit ernster Stimme hub nun der Kaiser an: „Wohl dir, Eginhard, dass du der Wahrheit die Ehre gibst und deine Schuld eingestehst. Schweren Frevel hast du verübt. Wo bliebe Zucht im Land, wenn solche Taten ungestraft am Hof des Kaisers sich vollziehen dürften. Dein Leben ist dir geschenkt, aber ich sage mich von dir los und zugleich von Emma, der ungetreuen Tochter, die sich so schwer gegen mich vergangen hat. Ich stoße euch beide aus, heute noch verlasset ihr den Hof; sei der Himmel euch gnädig, in Aachen aber ist keine Stätte mehr für euch!“
Rasch erhob sich Herr Eginhard von dem Estrich und wollte reden, der Kaiser aber winkte ihm mit der Hand, dass er alsbald gehe. Da ging der Arme schweigend von dannen, um als Verbannter hinauszuwandern in die weite Welt.
Als Emma, der Tochter des Kaisers, den Spruch gemeldet war, sank sie auf die Knie und sprach: “ Schwer straft mein gestrenger Vater, aber besser däucht es mir, verstoßen hinwegzuziehen mit dem Herzgeliebten, als ohne Liebe auf dem Kaiserthrone zu Byzanz zu sitzen. Sie schritt in ihre Kammer, nahm den edelsteingeschmückten Goldreif aus den Locken, zog ihr prächtiges, seidenes Gewand aus und legte dafür ein einfaches Reisegewand an. Sie ließ alles zurück, was sie an die Heimat erinnerte, selbst die Schlüssel zu den Schreinen, welche ihre Gewande und Kostbarkeiten bargen, und schritt, mit dem Wanderstab in der Hand, ohne Abschied, wie es der Kaiser geboten hatte, hinaus aus den Toren der Burg.
Eginhard war, wie er ging und stand, hinweggegangen und saß eben in tiefen Gedanken auf einem Stein an der Straße, als Emma des Weges kam und ihn mit weinenden Augen grüßte. Er erhob sich, drückte ihr schweigend die Hand, und nun pilgerten die beide, in Leid versunken, neben einander den Pfad dahin, ohne zu sprechen. Zwei Tage und zwei Nächte gingen sie so ohne Speise und Trank, bis sie zum Odenwald kamen, wo Eginhards Bruder Abt in einem Kloster war. Dort schüttete Eginhard dem Gottesmann das Herz aus und vermochte ihn, dass er sie als mann und Frau zusammengab.
Es war eine günstige Fügung, dass der alte Förster, der die weitläufigen Wälder des Klosters unter sich gehabt hatte, vor kurzem gestorben war, und so konnte der Abt dem Verbannten diese Stelle als Amt und das einfache Waldhaus als Wohnung anbieten. Es war freilich kein Kaiserpalast, es war nicht viel mehr als eine Hütte, aber es bot Raum für das junge liebende Paar, und als sie einzogen in ihr neues, bescheidenes Heim, knieten sie dankend nieder und beteten: „Vater du in dem Himmel, dein Wille geschehe, vergib uns unsre Schuld und gib uns deinen Segen.“ Der Waldbäume Äste rauschten im Abendwind, und die letzten Strahlen der Sonne vergoldeten die Tannenwipfel und die Gräser der Berghalde, von der eben friedsam und sorglos Rehe hinabzogen zu dem stillen Bach im Tal, der unsern des Waldhauses floss.
Es war unendlich still und friedlich hier und Emma schaute, an Eginhard gelehnt, unter den rauschenden Wipfeln hinaus in die grüne Waldeinsamkeit, die nun ihre Heimat und ihre Welt sein sollte, und blickte darauf vertrauensvoll zu ihrem Ehgemahl empor, indem sie unter Tränen also sprach: „Nimmer will ich daran gedenken, dass ich verstoßen bin vom Vaterhaus, solang ich dich habe, du mein Schutz und Hort, der mich nicht verlassen wird.“
Er trocknete ihr die Tränen und küsste sie sanft auf die Stirne. „Alles hat uns verlassen,“ sprach er, „aber Gott der Herr ist bei uns, er wird mir Kraft geben, dir Vater und Gemahl zugleich zu sein.“
So begann sie ihr neues Hauswesen im Aufblick nach oben, und der Herr des Himmels segnete sie. Er behütete das stille Waldhaus vor den Angriffen von Räubern und wilden Tieren und schenkte den jungen Eheleuten Kraft und Geduld, unverdrossen in der Einsamkeit auszuharren. Eginhard war im Weidwerk wohl erfahren, er hatte seinen kaiserlichen Herrn gar oftmals auf der Jagd begleiten müssen und kannte genau die Pirsch auf Rehe und Hirsche und auch die schwerere auf wilde Eber und Wölfe. Emma hatte darum an Wild nie Mangel, sie bereitete ihrem Ehgemahl, dem getreuen Wildpretspender, mit kundiger Hand das Mahl und bekleidete mit den Fellen der erlegten Tiere gar wohnlich die Wände ihrer einfachen Gemächer. Vom Kloster ward ihnen das nötige Geräte und Zeug zu Gewanden geliefert, so dass sie bezüglich ihres Leibes Notdurft und Nahrung wohl versorgt waren.
So verging eine geraume Zeit und nach Aachen drang keinerlei Märe und Kunde von ihnen. Sie galten für verschollen und niemand fragte nach Emma und Eginhard, da Karl nie mehr von seiner Tochter sprach, die ihn so tief betrübt hatte. Es mangelte ihm auch die Zeit, sich um seine häuslichen Angelegenheiten zu bekümmern, er musste eine große Heerfahrt gegen die Ungläubigen in Hispanien vollbringen und war mehrere Jahre von Aachen abwesend.
Sechs Winter waren so vergangen und der Lenz zum siebtenmale ins Land gekommen, Karl war von Hispanien zurückgekehrt, er hatte die Heiden besiegt, aber viele seine besten Helden, darunter sein innig geliebter Neffe Roland, waren gefallen, und er selbst fühlte sich tief ermüdet und matt bis aufs Mark von den Bedrängnissen und Anstrengungen des Feldzuges.
Da kam ihm urplötzlich das Heimweh nach seiner Tochter Emma, die ihn früher so liebevoll gepflegt und ihm seine Lieblingsgerichte so sorgfältig und wohlschmeckend bereitet hatte, wie es sonst niemand vermochte. Wo war sie wohl? Lebte sie noch und gedachte sie vielleicht auch noch ihres greisen Vaters, der sich so sehr nach ihr sehnte? Aber niemand vermochte ihm Kunde zu geben, denn der Abt des Klosters hütete sich wohl, es bekannt werden zu lassen, dass der Förster im Waldhaus der in Ungnade gefallene Geheimschreiber und Schwiegersohn des Kaisers sei.
Da beschloss Karl, der sein Hoflager von Aachen nach Frankfurt verlegt hatte, eines Tages, in den Wäldern am Main, wo die Hirschjagd besonders ergiebig war, zu jagen, um sich zu zerstreuen und die trüben Gedanken zu verscheuchen. Mit wenigen erlesenen Jägern, brach er, wie er dies oftmals zu tun pflegt, in einfaches Hirschgewand gekleidet, auf und lag dem edeln Weidwerk mit viel Eifer ob.
Als er nun eines Morgens einem großen Hirsch nachjagte, kam er von seinem Gefolge ab und sah sich plötzlich allein in einem ihm unbekannten Waldgrund. Vergeblich blies er sein Horn, niemand antwortete.
Müde lagerte sich da der alte Herr ins Moos darnieder und schlummerte, da sich immer noch kein Laut vernehmen ließ, allmählich ein. Als er erwachte, sah er zwei Knäblein vor sich stehen, die ihm, während er schlief, Helm und Gewaffen weggetragen hatten und nun schelmisch blickend vor ihm standen. „Hei! ihr kecken Fante,“ rief der Kaiser lachend, „wollt ihr mir gleich Schwert und Speer wiederbringen?“ — „Nein, das tun wir nicht,“ erwiderten die Knaben, „du willst nur unsere Hirsche und Rehe damit tot machen, und das darf niemand als unser Vater.“ — „Wer ist denn euer Vater? frug da der Kaiser. — „Dort droben wohnt er im Tann,“ berichteten die Knaben und sprangen flüchtigen Fußes davon.
Der Kaiser musste, wenn er sein Gewaffen wieder haben wollte, notgedrungen folgen und kam nach kurzer Frist zu einem Haus in der Waldlichtung, vor dem eine schöne, junge Frau saß und eben die Waffen, welche die Knaben gebracht hatten, verwundert betrachteten.
Als sie den hohen, silberbärtigen Greis gewahrte, ward sie wie Purpur so rot und wollte, das Gesicht mit den Händen verbergend, ins Haus springen, aber es war zu spät, der Kaiser hatte sie schon erblickt und rief: „Was flieht Ihr vor mir, schöne Försterin, ich bin ein verirrter Jäger, der euch kein Leid tut, sondern der für etwas Trank und Speise herzlich dankbar wäre.“
Mit gesenkten Augen sprang sie da zum Brunnquell und brachte ihm kühlen Trunk und eilte darauf ins Haus, um auf dem Herd ein Mahl für den hohen Gast, den sie wohl erkannt hatte, zu bereiten. Eginhard war zu einem fernliegenden Waldsee gegangen, um zu fischen, und kam vielleicht erst abends nach Haus, und sie war deshalb in bangen Zweifeln, was sie tun und wie sie sich gebaren sollte, denn dem Kaiser war, das hatte sie wohl bemerkt, nicht bewusst, wo er sich befand, und er hatte sie sicherlich in keiner Weise erkannt, da sie in den sieben Jahren eine stattliche Frau geworden war, die mit dem braunen Antlitz und der vollen Gestalt kaum noch an die lilienweiße, schlanke Emma von ehemals erinnerte.
Das Herz schlug ihr stürmisch in der Brust in Furcht und in Freude, und sie wendete mit zitternden Händen den Speiß mit dem duftenden Rehbraten, den sie gerade so zubereitete, wie es ihr geliebter Vater dereinst von ihren Händen gewohnt gewesen war. Glücklicherweise kam ihr Mann jetzt nach Haus, er hatte Glück gehabt beim Fischfang und brachte köstliche junge Hechte, die er ins Kloster liefern wollte, nun aber, da ihm Emma das wundersame Ereignis mitteilte, alsbald zur Mahlzeit bestimmte. Er war der Meinung, dass man alles Gott anheimstellen und es darauf ankommen lassen solle, ob sie der Kaiser beim Mahl erkenne oder nicht.
Auch Eginhard war infolge des beständigen Aufenthaltes in Wald und Heide sehniger und breiter geworden; lange Locken umrahmten seine sonnverbrannte Stirne und seine geröteten vollen Wangen, und der Kaiser erkannte in dem stattlichen Förster mit dem wetterharten Gesicht seinen ehemaligen, schlankgewachsenen Geheimschreiber nicht, als ihm Eginhard den Willkommensgruß bot und ihn zu Tisch bat.
Emma zerlegte das Wildpret kunstgerecht, wie sie es einst zu Aachen geübt hatte, und schnitt dem Kaiser sein gewohntes Lieblingsstück, das sie ihm freundlich lächelnd auf den Teller legte. Karl freute sich ausnehmend; hier war, wie dereinstens in schönerer Zeit daheim in Aachen, alles wie er es liebte, das Gedeck und das schmackhaft zubereitete Wild mit der trefflichen Würze, die er seit Emmas Verlust nie mehr so wohlschmeckend bekommen hatte.
„O Emma!“ flüsterte er vor sich hin; eine Träne rollte ihm in den silberweißen Bart, und er schaute schweigend vor sich nieder, da er seine Rührung gerne verborgen hätte. Jetzt konnte sich aber Emma nicht mehr halten. „Denket Ihr vergangener Tage, teurer Vater? frug sie und streckte ihm die Arme entgegen.
„O Emma, Emma, süßes, teures Kind,“ rief da freudig aufspringend der Kaiser, „bist du es denn selbst? Habe ich dich, nach der ich mich schon so lange sehne, in Wahrheit wieder gefunden? Gesegnet sei diese Stunde für alle Zeit! Wie lange schon habe ich dir die Fehle verziehen und dich gesucht und sehe nun hier, wo ich es nicht geahnt hätte, dich wieder!“ Er bot auch Eginhard die Hand , der sie ehrerbietig küsste und dabei voll freudiger Rührung seinem kaiserlichen Herrn zu Füßen fiel. Karl hob ihn auf und wendete sich nun zu seinen beiden Enkelsöhnen, die verwundert den hoheitvollen Großvater anstaunten.
„Ihr Schelme,“ sprach er lächelnd, „ihr habt heute gleich von Anbeginn an das Richtige getan, ihr habt mir die Waffen aus den Händen genommen, auf das ich in Frieden einziehe unter diesem traulichen Dache, der seligen Statt, die gesegnet sein soll für jetzt und immerdar.“
Während er noch sprach, erschollen Hörnerklänge durch den Wald laut und immer lauter, und bald zeigten sich unter den Bäumen Karls Jäger, die ihren Herrn mit Jubelruf begrüßten, als sie ihn heil und gesund unter der Pforte des Waldhauses stehen sahen.
„Da schauet!“ rief der Kaiser, als sie nahe gekommen waren, „was ich heute für einen guten Fang getan habe. Ich habe ein seltenes Wild aufgespürt, Emma, mein flüchtiges Rehlein, das mir schon so manches Jahr entsprungen war.“
Da neigten sich die Jäger alle tief und begrüßten mit hohen Freuden die wiedergefundene Herrin, die in so einfachem Gewande und doch so königlich vor ihnen stand, und in gleicher Weise ihren alten Genossen Eginhard, den sie mit seinem braunen, lockenumwallten Antlitz kaum wieder erkannten.
„Bescheidet unsere Wagen und Säumer hierher, “ rief Karl den Seinen zu, „und schaffet Wein zur Stelle, hier gibt es nur Wasser, und heute muß ich Rheinwein haben, um meinen Freunden ein würdiges Genügen zu tun.“
Bald war des Kaisers Wunsch erfüllt, und nun gab es fröhliches Weidmannsgelag, und für alle hatte Emma genug, die es sich nicht nehmen ließ, wiederum die Wirtin zu machen. Sie tafelten im Grünen, bis die Sonne niederging und die Nachtigallen in dem Waldtal sangen, und als der Mond heraufkam, ward den Jagdgesellen des Kaisers eine gute Lagerstatt in Laub und Moos bereitet, Karl selbst aber fand ein ruhsam Gemach im Waldhaus.
Am andern Morgen ließ der Kaiser zum Aufbruch blasen. Da weinte Emma und sprach: „Willst du denn sobald wieder von uns scheiden, teurer Vater?“ — „Ich scheide nicht von euch,“ lächelte da der Kaiser, „ihr ziehet mit mir nach Frankfurt und von dort nach meiner Pfalz zu Aachen, die mir jetzt aufs neue teuer ist, ich lasse euch nimmer von mir, solange ich lebe.“
Mit Freudentränen in den Augen vernahmen Emma und Eginhard diese Botschaft und rüsteten alsbald alles zur Fahrt, um gemeinsam mit dem Kaiser nach der alten Heimat zurückzukehren.
Als sie nun, etwas hinter dem kaiserlichen Jagdzug zurückbleibend, vom Walde zur Straße ritten, schaute Emma nochmals hinüber zu ihrem Waldhaus und grüßte wehmutsvoll die rauschenden Wipfel der Bäume. „Leb‘ wohl, o du Wald, du wonniger Wald, in dir möcht‘ ich dereinst begraben sein!“ rief sie und winkte zum letzten Mal der traulichen Stätte ihres jungen Glücks.
Bald waren Frankfurt und Aachen erreicht, und das junge Paar musste in des Kaisers eigenem Palast Wohnung nehmen, da Karl seine Tochter so viel als möglich um sich haben wollte.
Auch ihr Wunsch wurde wahr, Karl ließ noch zu seinen Lebzeiten an der Stelle, wo er seine geliebte Tochter wiedergefunden hatte, ein Kloster im Wald errichten, der nach Emmas Ausruf „Oduwald“ (Odenwald) genannt wurde. Emma wurde Patronin dieses Klosters und nach des Kaisers Absterben schenkte ihr Bruder, Ludwig der Fromme, durch eine besondere Urkunde ihr in dem Maingau die Gelände Mühlenstadt und Mühlenheim, in deren Marken das Kloster lag, das nach des Kaisers einstigem Ausruf „Seligenstadt“ geheißen ward.
Nach einem langen glücklichen und gesegneten Leben wurde sie dort bestattet und Eginhard ließ sich bei seinem Hingang ihr zur Seite betten. — Heute noch zeigt man in der verwitterten Klosterkirche die Stätte, wo die beiden Liebenden begraben liegen.
Hier schließt die Sage von Emma und Eginhard.
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