Josef Haltrich
Es lebten einmal zwei Eheleutchen in einem Dorfe, die hatten so viele Kinder, dass ihnen schon alle Leute im Dorfe zu Gevatter gestanden waren. Als ihnen nun wieder zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, geboren wurden, so machte sich der Mann auf, um im nächsten Dorfe Gevattersleute zu suchen. Mitten auf der Straße fiel er aber vor Betrübnis und Müdigkeit nieder und schlief ein. Da kam ein Kaufmann mit seiner Frau in einer Kutsche gefahren, und wie dieser den Schlafenden sah, ließ er anhalten, um ihn zu wecken. Auf den Ruf erwachte der Mann nicht; da ging der Kutscher hin, rüttelte an ihm, so dass er nun die Augen aufschlug. Der Kaufmann fragte ihn sogleich, wer er wäre, und der Mann erzählte seinen Kummer; er habe so viele Kinder, dass ihm das ganze Dorf schon zu Gevatter gestanden, und da ihm jetzt wieder zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, geboren seien, so sei er im Begriff, auswärts Gevattersleute zu suchen. Der Kaufmann erbot sich sogleich, mit seiner Frau die Kinder aus der Taufe zu heben, doch unter der Bedingung, sie sollten ihm gehören, denn er selbst hätte keine Kinder. Der arme Mann war das wohl zufrieden, denn er hatte ja ohnehin Kinder genug, für die er sorgen musste. Sie zogen nun ins Dorf, und man taufte die Kinder: den Knaben Hani, das Mädchen Susi. Der Kaufmann nahm sie sogleich mit und fuhr in die Stadt; er erzog sie aber so, wie wenn es seine eignen Kinder wären, und die Kleinen nannten den Kaufmann Vater, seine Frau Mutter. Als sie größer waren, nahm der Kaufmann den Hani in sein Geschäft und seine Frau nahm Susi in ihre Hauswirtschaft. Beide führten sich so gut auf, dass der Kaufmann dem Jungen das ganze Geschäft und die Schlüssel in der Handlung und seine Frau dem Mädchen die ganze Küche und alle Hausschlüssel überließ; der Knabe war dem Kaufmann und das Mädchen seiner Frau die rechte Hand, und sie waren ihnen beide von Herzen lieb. Eines Tages trug es sich zu, dass der Kaufmann und seine Frau nach dem Mittagessen ausruhten, und die beiden Kinder blieben daheim. Da sie die Langweile überfiel, nahmen sie ein Spiel Karten, um sich damit zu unterhalten. Hani aber war so unglücklich, dass er immer verlor, zuletzt setzte er auch die Schlüssel von der Handlung; das Mädchen gewann auch diese. Da riss er im Ärger demselben die Schlüssel aus der Hand und schlug es auf die Stirne, dass gleich ein Blutstropfen hervortrat. Plötzlich erschien eine schwarze Gestalt und rief: „Darauf habe ich schon lange gewartet!“ fasste das Mädchen und verschwand mit ihm. Man kann sich denken wie sehr der Knabe erschrecken musste. Er rang verzweiflungsvoll die Hände und schlug sich an die Brust: „Was habe ich getan!“ Doch das war alles umsonst. Als der Kaufmann und seine Frau heimkehrten, fragte die letztere gleich: „Wo ist Susi?“ Zitternd gestand der Knabe alles. Die Frau war untröstlich und sprach zum Jungen: „Gehe mir aus den Augen, dass ich dich nicht sehe, da du mich um meine gute Tochter gebracht hast!“ Der Kaufmann hätte dem Knaben gerne verziehen; allein er wollte seiner Frau nicht zuwider sein, und so gab er ihm Geld auf die Reise.
Der Knabe zog traurig fort, und damit er sich nicht an sein Unglück erinnere, gab er die Handlung auf. Er kam in ein fremdes Land und wurde an dem königlichen Hofe Gärtner. Er führte sich aber hier so gut auf und sorgte so überaus für die Blumen der Königin, dass er bald ihr Lieblingsgärtner wurde.
Nach der Arbeit pflegte er jeden Tag einmal an das Meeresufer zu gehen. Eines Tages, als er wieder am Ufer stand und auf das weite Meer hinschaute, hörte er eine Stimme „Hani! Hani!“ rufen, und dreimal tönte sie wider. „Hier bin ich!“ antwortete er. Da hob sich eine wunderschöne Jungfrau aus dem Meere und sprach: „Bist du ein Zwillingskind?“ – „Ja!“ – „Heißest du Hani?“ – „Ja!“ – „Ich bin eine Königstochter und heiße Susi (aber es war nicht seine Schwester, wie du leicht glauben könntest) und bin hierher verwünscht auf so lange, bis ein Zwillingskind, das Hani heißt, mich erretten will!“ – „Das will ich gerne!“ sprach Hani schnell. „So trauere denn neunundneunzig Tage in einem fort um mich; komme indes jeden Tag hierher, und wenn du dich gut gehalten, wirst du unter dem Stein immer ein Goldstück finden!“ Damit verschwand sie, und Hani kehrte heim; er trauerte aber getreu seinem Versprechen schon achtundneunzig Tage, und wenn er an das Meer kam, fand er immer unter dem Stein das Goldstück. Am neunundneunzigsten Tage geschah es aber, dass die Königin ein Fest gab, und dahin wurde neben andern Lieblingsdienern auch der Gärtner eingeladen. Er wäre gerne daheim geblieben, allein er dachte, das würde seine gute Königin kränken; er ging, nahm sich aber vor, keinen Anteil an der Freude zu nehmen. Während des Essens ging das auch gut; als aber nach der Tafel die Musik begann und alles tanzte, kam die Königin zu ihm und fragte, warum er nicht tanze. Alle Entschuldigungen halfen nichts; die Königin forderte ihn auf, mit ihr zu tanzen. Wie er noch immer nicht recht wollte, drangen seine Freunde heftig in ihn, er dürfe das der Königin nicht tun, er müsse tanzen; endlich machte er einen Reihen durch. Alsbald aber lief er mit klopfendem Herzen hinaus und eilte an das Meeresufer. Da war zum ersten Mal kein Goldstück unter dem Stein. Das Meer aber war trübe und in Aufregung, die Jungfrau stieg empor und rief in schmerzlicher Klage:
„Wehe, du hast mich nicht erlöst; von jetzt an bin ich auf den gläsernen Berg verwünscht, und von da wird mich wohl niemand erretten!“ Damit verschwand sie.
Der Junge ging weinend nach Hause und schloss kein Auge die ganze Nacht; am frühen Morgen ging er zur Königin und nahm Abschied, er müsse fort und die Jungfrau auf dem Glasberge erlösen, was es ihn immer koste. Auf dem Wege nahm er noch einen Diener zu sich, dass er nicht allein sei. Nachdem sie lange, lange gewandert waren, kamen sie endlich am Ziele an. Unten am Glasberge aber war eine Mühle, und die Müllerin war eine Hexe; sie kehrten in die Mühle ein und fragten, wo man denn auf den Glasberg hinaufsteige. „Da und da ist eine Treppe!“ sprach die Hexe, „was wollt ihr denn oben machen?“ Der Knabe wollte das nicht sagen, doch die Hexe merkte sich’s gleich und ging zu dem Diener und sprach: „Wenn ihr morgen die Treppe hin ansteigt und an der dritten Stufe seid, so stecke diese Nadel deinem Herrn in den Mantel, denn sonst könnt ihr nicht hinaufgelangen.“ Als sie am andern Morgen hin anstiegen, tat der Diener, wie ihn die Hexe geheißen hatte. Sogleich sprach der Junge: „Ich bin so schläfrig, ich will mich hierher ein wenig niederlegen!“ Da schlief er ein und schlief fest. Nur einmal kam die Jungfrau vom Glasberge hernieder und sah den Schlafenden und jammerte. „Wehe, wehe! auch von hier wirst du mich nicht erlösen; ich komme aber noch zweimal, und wenn du auch dann schläfst, so bin ich verloren!“ Wie der Junge erwachte, war es Abend, und sie kehrten wieder in die Mühle. Die Hexe aber belohnte den Diener und sagte, er solle den andern Tag die Nadel nur ja wieder einstecken und seinem Herrn nichts sagen, was die Jungfrau gesprochen. Und so tat der Diener auch, als sie am Morgen wieder die Treppe hinan stiegen. Sein Herr musste sich wieder niederlegen und schlief. Die Jungfrau stieg abermals die Stufen herab, und als sie den schlafenden Jüngling sah, klagte sie: „Wehe, wehe! du wirst mich nicht erlösen; noch einmal komme ich und dann nicht mehr!“
Es war wieder Abend, als der Junge erwachte; sie mussten in die Mühle zurück, und die Hexe belohnte den Diener abermals und trug ihm aufs neue auf, den nächsten Tag nur ja die Nadel wieder einzustecken, und so geschah es. Der Knabe schlief auch zum drittenmal, als die Jungfrau erschien. „Wehe!“ rief sie, „jetzt bin ich weit hin verwünscht in die dunkle Welt, und von da kann mich wohl kein Sterblicher erretten. Sage das deinem Herrn“, sprach sie zum Diener, „und noch dies, er solle dem ersten Baum, den er nach dem Erwachen um sich sehe, die Krone abschlagen.“ Als der Knabe erwachte, rief er:
„O wie habe ich so schön geträumt, hast du nichts gesehen?“ Der Diener dachte: nun könne er wohl alles sagen, und erzählte, wie eine Jungfrau jeden Tag, wenn er geschlafen, erschienen sei und geklagt habe, dass er sie nicht erlösen werde und dass sie jetzt in die dunkle Welt verwünscht sei; sie habe ihm auch sagen lassen, er solle dem ersten Baum, den er gleich nach dem Erwachen sehe, die Krone abschlagen. Da weinte und klagte der Junge bitter und sprach zu seinem Diener: „Warum hast du mich nicht geweckt!“ Als er aber um sich sah nach dem Baum, war da keiner; nun erkannte er, dass damit der, untreue Diener gemeint sei; er zog sein Schwert und hieb ihm das Haupt ab.
Traurig wanderte er darauf fort und kam in ein anderes Königreich; hier trat er abermals in eine Handlung und erwarb sich in kurzer Zeit die Liebe seines Herrn. An einem Abend trat der Kaufmann zu ihm und sprach: „Zeige nun, was du kannst! Morgen ist der Geburtstag der Königin; sie geht einkaufen: jedes Jahr tut sie’s nur einmal, allein der Kaufmann, bei dem sie einspricht, wird dann reich und glücklich; schmücke das Gewölbe auf das schönste!“ Der Junge arbeitete mit allem Eifer; am Morgen wurde von dem königlichen Palast bis auf den Markt die Straße mit grünem Gewand belegt, und auch jeder Kaufmann legte von der Straße bis zu seinem Laden grünes Gewand. Da kam die Königin begleitet von vielen Jungfrauen auf der Straße her und sah überall hin und ging endlich in das Gewölbe, das ihr am schönsten erschien, hinein. Als sie den Jungen in der Handlung erblickte, blieb sie stehen, sah und sah, und sie wusste nicht recht, wie ihr war; auch dem Knaben kam es vor, als habe er die Königin noch gesehen. Endlich kam sie stracks auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und rief: „Hani, mein Bruder!“ Nun wurde er sogleich mit an den königlichen Hof geführt, und der König hatte große Freude und sprach zum Knaben, der ganz betrübt aussah: „Sei guten Muts, siehe, wenn du deine Schwester nicht geschlagen, hätte ich das gute Weib nicht, und anders durfte ich nicht zu ihrem Besitz gelangen!“ Da offenbarte ihm der Knabe, wie ihn etwas anderes so sehr betrübe; er habe eine schöne Jungfrau zweimal erlösen können und habe sie nicht erlöst; jetzt sei sie in die dunkle Welt verwünscht, und er möchte nun gerne auch dahin ziehen, wenn er nur den Weg wusste. „Da will ich dir gleich helfen!“ tröstete der König und nahm seine große Geißel und schlug dreimal in die Luft; sogleich erschienen eine Menge schwarzer Geister und riefen;
„Was steht zu Befehl?“ Als aber der König sie übersehen und gezählt hatte, sprach er: „Es fehlt einer!“ – „Ja“, riefen sie, „der ist flügellahm; er war die vergangene Nacht in der dunkeln Welt!“ Unterdessen war der auch herbeigekommen. „Also du warst in der dunkeln Welt“ – „Ja, mein König!“ – „So wirst du auch den Weg wohl wissen; nimm hier meinen Schwager und führe ihn dahin!“ Da fasste ihn der Geist und flog mit ihm durch die Luft; es wurde immer dunkler, dunkler, endlich war es stockdunkel wie die Mitternacht; da kamen sie an ein düsteres Schloss.
Auf dem Wege hatte der Junge dem Geiste seinen Kummer erzählt, und dieser hatte ihm gesagt, was er tun solle. Vor der ersten Türe des Schlosses würden zwei Heubäume über ihm zusammenbrechen, allein er dürfe nicht erschrecken, es geschehe ihm nichts; vor der zweiten Türe stünden zu beiden Seiten zwei Löwen, die würden ihn zu verschlingen drohen, allein er solle sich nur nicht fürchten, sie täten ihm nichts! Wenn er zur dritten Tür hineinkäme, solle er unter das erste Bett rechts hineinkriechen und was man ihm auftrage, genau tun, sich aber durchaus nicht erschrecken! Der Geist blieb vor dem Schlosse stehen, der Knabe ging hinein; die Heubäume krachten an der ersten Türe über ihm zusammen, doch er fürchtete sich nicht;
die Löwen sperrten ihre Rachen auf, doch er ging mutig zwischen ihnen hindurch; da kam er ins dritte Zimmer und legte sich unter das bezeichnete Bett. Nur einmal fingen die Verwünschten, die ringsherum lagen, an, ihr Schicksal zu erzählen und zu jammern, wie sie nun schon so viele Jahre dalägen und niemand käme, sie zu erlösen. Endlich erzählte auch die Jungfrau, unter deren Bett der Junge lag, und das war gerade Susi:
ein guter Junge habe sie zweimal schon zu erlösen gesucht, wenn der nur den Weg hierher fände, so würde er sie wohl erretten! Freilich müsste er etwas Schweres vollbringen: Punkt zwölf Uhr müsste er sie umarmen, dann müsste sie sich sogleich in eine Schlange verwandeln, ihn fest umklammern und beißen wenn er aber bis ein Uhr aushielte, so seien sie erlöst.
Als es nun zwölf schlug, sprang der Junge unter dem Bett hervor und umarmte die Jungfrau; sogleich ward sie eine Schlange und umschlang und biss ihn, dass das Blut rann; er aber hielt ruhig aus; endlich schlug es eins, und es erfolgte ein lauter Donnerschlag. Plötzlich wurde es licht wie am Tage, und alle Verwünschten standen auf und waren erlöst und fielen ihrem Retter zu Füßen und dankten ihm. Er aber führte die Jungfrau an der Hand hinaus; da nahm. sie der Geist und führte sie zum König; der war sehr froh, und nachdem der Junge mit der erlösten Jungfrau Hochzeit gehalten, zog er dahin, wo die dunkle Welt gestanden und wo jetzt ein großes blühendes Reich war, das dem Vater seiner Susi gehört hatte und dann verwünscht worden war, und er herrschte noch lange als König über Land und Leute.
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