schwäbisches Märchen

Es war einmal ein alter König, der hatte einen Sohn und drei Töchter. Eines Tages wurde er schwer krank, ließ den Prinzen zu sich rufen und sprach: „Lieber Sohn, ich fühle, dass ich sterben muss. Höre meinen letzten Willen: Meine drei Töchter, deine Schwestern, sollen nicht eher heiraten, als bis nach meinem Tode sechs Jahre dahingegangen sind. Versprich mir, dafür zu sorgen, dass dieser letzte Wunsch, den ich an euch und an das Leben habe, Erfüllung findet. Der Sohn versprach es dem Vater in die Hand, und bald darauf schloss der König seine Augen.

In der Folgezeit warben viele edle und reiche Prinzen um die schönen Prinzessinnen doch der junge König ließ es nicht zu, dass seine Schwestern heirateten, und sagte, sie müssten warten, bis die sechs Jahre herum seien. So waren nun schon drei Jahre vergangen, und gar mancher Freier war abgewiesen worden.

Da erschienen eines Tages drei vornehme Brüder und warben um die Schwestern des Königs; der eine hieß Donner, der andere Blitz und der dritte Wetter. Doch auch ihnen wurde die gleiche Antwort zuteil wie allen andern. In einem aber unterschieden sich die drei Brüder von den früheren Freiern: sie ritten nicht schon am selben Tage wieder nach Hause, sondern nahmen in der Nähe des Schlosses Quartier, damit sie die schönen Prinzessinnen so oft wie möglich sehen konnten. Als nun aber eines Tages der König verreiste, drangen sie ins Schloss ein, hoben die Prinzessinnen zu sich auf die wartenden Pferde und jagten mit ihrer holden Beute davon, über Wiesen und Felder fort in den dunkeln Wald. Als der König zurückkam und seine Schwestern nicht mehr vorfand, war er untröstlich. Er machte sich sogleich auf den Weg, sie zu suchen, und sollte er gehen müssen bis ans Ende der Welt.

Nachdem er lange Zeit vergeblich gewandert war, kam er in einen großen Wald. Er ging immer tiefer in ihn hinein, rief und suchte nach seinen Schwestern, konnte aber nirgends eine Spur von ihnen entdecken. Mit einemmal erblickte er auf einer Lichtung ein schönes Schloss. Und wie er ans Tor trat, rief ihm aus einem Fenster eine Stimme zu: „O Bruder, zu einer unglücklichen Stunde bist du ausgezogen und hierher gekommen! Kehre eilends um! Hier wohnt der Blitz und der ist mein Mann; wenn er heimkommt und dich findet, bringt er dich um!“ – „Ist mir diese Stimme nicht bekannt?“, dachte der König, schritt näher an das Schloss heran und erkannte seine älteste Schwester. Da freute er sich sehr über das Wiedersehen und blieb trotz allem Mahnen bei ihr. Während sie nun so miteinander sprachen und sich erzählten, wie es ihnen seit der Trennung ergangen war, kam der Blitz nach Hause. Der aber zeigte sich über den fremden Besuch gar nicht böse, sondern begrüßte den König freundlich und lud ihn ein, sein Gast zu sein, solange es ihm gefalle. Dazu sagte der König gerne „ja“, denn nun konnte er wenigstens für eine kurze Zeit bei seiner lieben Schwester bleiben.

Schwager Blitz unterhielt sich jeden Tag mit dem König und suchte ihm mit allerlei Spielen die Zeit zu vertreiben. Meistens schossen sie mit Pfeil und Bogen. Das Ziel aber, denkt euch nur! war eine ganze Stunde weit entfernt, und der Pfeil hatte die merkwürdige Eigenschaft, dass er immer wieder von selbst zurückkam, und dazu brauchte er jedes Mal zwei volle Stunden. Der König konnte sich nicht genug darüber wundern, zumal Blitz so zu schießen verstand, dass der Pfeil weit über das Ziel hinausging, am Ende des Tales mit feurigem Zucken tief in einen Felsen eindrang und dennoch immer wieder zurückkehrte. Acht Tage lang blieb der König bei Blitz zu Gast, dann reiste er weiter, um seine beiden andern Schwestern aufzusuchen.

Er wanderte fort und fort durch den großen, dunkeln Wald und stand mit einemmal wieder am Rande einer Wiese vor einem herrlichen Schloss. Da rief ihm aus einem Fenster eine Stimme zu: „O Bruder, zu einer unglücklichen Stunde bist du ausgezogen und hierher gekommen! Kehre eilends um! Hier wohnt der Donner und der ist mein Mann; wenn er dich da fände, würde er dich ohne Gnade umbringen!“ Der König freute sich, dass er auch seine zweite Schwester gefunden hatte, ließ sich nicht bange machen und blieb da. Als der Donner aber heimkam und den Bruder seiner Frau sah, begrüßte er ihn freundlich und bat ihn, doch einige Tage hier zu bleiben, damit sie sich zusammen die Zeit vertreiben könnten. Der König nahm die Einladung gerne an, und Schwager Donner führte ihn gleich zu seiner Kegelbahn. Die war, denkt euch nur! zwei Stunden lang, und die geworfene Kugel kam nach jedem Wurf von selbst wieder zurück. Am Ende der Bahn, die in einer abgründigen, finstern Schlucht lag, drang sie mit Krachen und Dröhnen tief in eine Felswand ein, rollte zurück und brauchte zu diesem Weg jedes Mal vier volle Stunden.

Nachdem der König acht Tage lang bei seinem Schwager Donner sich aufgehalten hatte, zog er wieder weiter, um seine dritte Schwester zu suchen. Nach einigen Tagereisen kam er zu einem dritten Schloss, das grau und verwittert mitten in einem wilden Tannenforste lag. Aus dem Turmfenster rief ihm eine Stimme zu: „O Bruder, zu einer unglücklichen Stunde bist du ausgezogen und hierher gekommen! Rette dich, so gut du kannst! Dieses Schloss gehört meinem Mann, dem bösen Wetter; wenn er dich hier fände, würde er dich auf der Stelle umbringen!“ Der König aber beruhigte seine Schwester und blieb bei ihr, bis ihr Mann zurückkehrte. Wetter sah zuerst finster drein, wie er da den Fremden bei seiner Frau erblickte. Als sie ihm aber sagte, dass es ihr Bruder sei, der sie vor einer Stunde mit seinem Besuch überrascht habe, zeigte auch Wetter sein freundlichstes Gesicht und bat den Schwager, für ein paar Tage sein Gast zu sein. Und weil er mit Leib und Seele Jäger war, lud er den König ein, ihn auf die Jagd zu begleiten. Da sagte der König mit Freuden zu.

Als sie nun eines Tages im Walde jagten, erblickte der König plötzlich einen Hirsch; der war so stattlich und schön, wie er in seinem Leben noch keinen gesehen hatte. „Den muss ich erlegen! Koste es, was es wolle!“ dachte er und nahm sofort die Verfolgung auf. Doch der Hirsch schien ihn necken zu wollen; er ließ ihn immer ganz nahe herankommen, zielen und abdrücken, – im selben Augenblick aber, in dem der Pfeil von der Sehne schwirrte, war er verschwunden und setzte irgendwo zwischen fernen Bäumen gesund und munter davon. Das ging mehrere Stunden lang so fort, und der König merkte nicht, dass er seinen Jagdgefährten schon längst verloren hatte. Er befand sich mitten im dunkeln, fremden Wald und wusste nicht aus und nicht ein. Endlich kam er auf einen freien Wiesengrund und traf dort einen alten Schäfer mit seiner Herde an. Bei dem erkundigte er sich nach dem Weg und hörte nun, wie weit er sich vom Schlosse weg verirrt hatte. Er ließ sich mit dem freundlichen Schäfer in ein Gespräch ein, erzählte, wie er hierher gekommen, und auch das sonderbare Erlebnis, das er bei der Jagd mit dem Hirsch gehabt hatte. Da schüttelte der Alte lächelnd den Kopf und sagte: „Das war kein gewöhnlicher Hirsch, sondern Wetter, Euer Schwager! Er hat sich in den Hirsch verwandelt, um Euch zu täuschen und irrezuführen.“ – „Glaubt Ihr?“ fragte der König. – „Das glaube ich nicht nur, sondern das weiß ich gewiss“, antwortete der Schäfer. Da wollte der König sogleich heimkehren, ein großes Kriegsheer sammeln und seine Schwestern aus der Gewalt der drei zaubermächtigen Brüder befreien. Der Schäfer aber sagte: „Nein! Hört mich an und tut, wie ich Euch sage: Seht den großen Wald dort drüben; er ist des Wolfskönigs Reich. Durch ihn müsst Ihr hindurch, wenn Ihr den Zauberbann brechen wollt. Tretet Ihr aber unwissend in ihn ein, so werdet Ihr unversehens von wilden Tieren zerrissen. Darum nehmt dies Schaf aus meiner Herde, geht mit ihm bis an den Waldrand und ruft: ‚Wolfskönig, hier bringe ich dir ein Schaf!‘ – und Euch wird kein Leid zustoßen.“ – Der König tat, wie ihn der alte Schäfer geheißen, und der Wolfskönig trat heraus, bedankte sich freundlich und sprach: „Nun gehe ohne Furcht durch den Wald, und solltest du einmal Hilfe brauchen, so denke nur an mich; ich werde dir gerne zu Diensten sein.“ – „Ich danke dir auch und werde dein Anerbieten nicht vergessen“, sagte der König, verabschiedete sich und zog wohlgemut durch den Wald weiter.

Als er eine Weile gewandert war, kam er an einen See. Da lag ein schöner roter Fisch am trockenen Ufer und schlug verzweifelt mit dem Schwanze. „Du armer Kerl!“ sagte der König, hob ihn voll Mitleid auf und setzte ihn wieder ins Wasser. Der Fisch schwamm aber nicht gleich davon, sondern sprach: „Ich danke dir und will es dir lohnen. Wenn du einmal in Not bist, so denke nur an den Fischkönig; dann werde ich dir zu Hilfe kommen.“ – „Vielen Dank!“ antwortete der König und setzte seine Reise fort.

Als er am andern Tag so gemütlich den Weg dahinging, sah er eine Hornisse vor seinen Füßen liegen. Sie lag auf dem Rücken und konnte sich nicht wieder von allein in die Luft erheben. Andere hätten wohl das Tier zertreten; der König aber, der ein gutes Herz für alle Geschöpfe hatte, hob es auf und ließ es fliegen. Doch ehe die Hornisse weiterflog, bedankte sie sich und sprach: „Ich bin der Hornissenkönig. Wenn du je einmal in Not gerätst, so denke an mich; ich werde dir sogleich zu Hilfe eilen.“

Nach mehreren Tagen erreichte der König das Ende des Waldes. Er kam auf eine Wiese und fand dort eine Hütte und darin ein altes Mütterchen. Das nahm ihn freundlich auf. Und weil er müde und hungrig war, blieb er da, um sich ein wenig zu erholen. Die alte Waldfrau aber war eine weise Zauberin und die Mutter der drei Brüder Donner, Blitz und Wetter. Als die Nacht hereingebrochen war, kamen die drei zu ihrer Mutter in die Hütte. Wie erstaunt waren sie da, als sie ihren Schwager, den König, in dem großen Gastbett neben dem Ofen liegen und schlafen sahen. Besonders Wetter machte große Augen und sagte: „Wie kommt denn der hierher? Ich dachte, er findet nie mehr aus meinem Walde heraus, in dessen finsterste Gründe ich ihn auf einer Hirschjagd verlockt habe!“ – „Er muss geheime und mächtige Gehilfen haben!“ entgegnete die Zauberin. „Es gibt nur eine Rettung für uns: Wir müssen ihm eine Aufgabe stellen, die so schwer ist, dass er sie nicht erfüllen kann. Andernfalls ist es um uns und unsere Herrschaft geschehen!“ – „Weißt du eine solche Aufgabe, Mutter?“ fragten die drei Söhne. „Ja, hört zu. Ihr sollt euch in den kommenden Nächten in Pferde verwandeln, und die will ich ihn dann hüten lassen. Versteckt euch aber ja gut im Wolfswalde, dass weder er noch sonst jemand euch finden kann! Denn sonst ist es aus mit uns!“ – „Ja, so wollen wir’s machen!“ sagten die Brüder; „er wird zum letzten Mal so gut geschlafen haben, wie er es gerade tut!“ Wenn aber nur wahr gewesen wäre, was die Zauberin und ihre drei Söhne glaubten! Doch der König schlief nicht, hatte alles wohl verstanden, was sie da miteinander besprochen hatten, und merkte es sich gut.

Am andern Morgen sagte die alte Zauberin zum König: „Dafür, dass ich dir Essen und Nachtquartier gebe, musst du drei Nächte lang auf der Weide draußen meine Pferde hüten.“ – „Das will ich gerne tun“, antwortete der König. Als es nun Abend geworden war, nahm sie ihn mit hinaus vor die Hütte, wo drei prächtige Pferde im Sande scharrten und sagte: „Führe sie auf die Weide. Sieh aber wohl zu, dass dir keines verloren geht!“ Der König versprach, gut auf sie Acht zu geben, und trieb sie in die Koppel. Sie weideten auch einige Stunden lang ganz ruhig, und der König ließ sie nicht aus den Augen. Auf einmal aber waren alle drei spurlos verschwunden. „Wie wird es dir ergehen?“ dachte besorgt der König und suchte die Pferde überall, bis der Tag anbrach. Doch alles Suchen war vergebens. Da überfiel ihn eine große Angst vor der Strafe der Zauberin, und er seufzte: „Wenn jetzt nur der Wolfskönig da wäre und mir helfen könnte.“ Kaum hatte er dies vor sich hin gesagt, stand auch schon der Wolfskönig vor ihm und fragte, was er wünsche. Da klagte ihm der König seine Not; der Wolfskönig beruhigte ihn aber, ging fort und sandte alle seine Knechte aus, die den ganzen Wolfswald nach den drei Pferden durchsuchten. Es dauerte nicht lange, da fanden sie, tief in einer Felsenhöhle versteckt, die drei Pferde und führten sie vor den König.

Die Alte staunte nicht wenig, als der König ihr die Pferde wiederbrachte. „Nun bin ich aber müde und möchte mich ein wenig ausruhen“, sagte er, zog Rock und Stiefel aus und legte sich auf sein Lager. Da hörte er, wie die Frau in der Stube draußen zu ihren Söhnen sagte: „Versteckt euch heute Nacht auf dem Grund des Sees; dort können die Boten des Wolfskönigs nicht hinkommen.“

Am Abend bekam der König wieder die drei Pferde zu hüten, führte sie hinaus auf die Koppel und gab wohl Acht auf sie. Ein paar Stunden lang weideten sie fromm wie Lämmer vor seinen Augen; dann aber waren sie ganz plötzlich wieder verschwunden. Diesmal aber blieb der König ganz ruhig und sagte: – „Nun könntest du mir helfen, lieber Fischkönig.“ Kaum hatte er diese Worte vor sich hin gesprochen, stand auch schon der Fischkönig da und fragte ihn, was er wünsche. Da erzählte der König, wie es ihm seither ergangen war und in welch großer Not er sich nun befinde. „Sei ohne Sorge!“ sagte der Fischkönig und gab sogleich allen Fischen den Befehl, den großen See bis in die letzten Schlupfwinkel hinein zu durchsuchen. Und richtig! – sie fanden die drei Pferde tief auf dem Grunde unter einem gewaltigen Stein verborgen und brachten sie dem König. Der dankte dem Fischkönig von Herzen für seine Hilfe und führte sie dann wohlgemut vor die Hütte der alten Zauberin.

Die konnte vor Staunen gar keine Worte finden; der König aber begab sich in seine Kammer und legte sich nieder, um auszuruhen. Da hörte er, wie die Mutter ihre drei Söhne wieder schalt, weil sie sich nicht besser verborgen hatten. Sie aber entgegneten: „Hätte der Fischkönig ihm nicht geholfen, so hätte uns in alle Ewigkeit niemand finden können!“ – „So versteckt euch heute Nacht hoch in den Wolken; dahin kann euch weder der Fischkönig noch der Wolfskönig folgen!“ sagte die Mutter. „Das eine aber lasst euch gesagt sein: Findet euch der König zum dritten Male, dann hat meine und eure Macht über die Menschen für immer ein Ende!“

Der König hatte jedes Wort der Unterhaltung wohl verstanden und merkte sie sich gut. Am Abend trieb er die drei Pferde wieder auf die Wiese und sah ihnen mehrere Stunden lang beim Weiden zu. Auf einmal waren sie wieder spurlos verschwunden. „Habt keine Sorge“, sagte der König lächelnd, „ich weiß schon, wo ihr zu finden seid! Diesmal wird der Hornissenkönig mir aushelfen können.“ Kaum hatte er dies gesagt, kam auch schon der Hornissenkönig angeflogen und fragte, auf welche Weise er ihm dienen könne. Als der König ihm Bescheid gegeben hatte, befahl der Hornissenkönig seinen hunderttausend Hornissen, den ganzen Himmel zu durchstreifen und alle Wolken zu durchsuchen, solange, bis sie die drei Pferde fänden. Da brausten die Hornissen wie der Wind davon. Lange, lange suchten sie vergebens. Endlich aber fanden sie hoch oben in einer schwarzen Wolke die drei Rosse und führten sie ihrem Herrn und Meister zu. Der übergab sie sogleich dem König, und als der sie der Zauberin zum dritten Male zurückbrachte, wurde sie sehr traurig und sprach: „Du hast die Aufgabe, die ich dir stellte, besser gelöst, als ich dachte. Nimm dafür ein anderes, merkwürdiges Pferd zum Geschenk an. Es bringt dir Glück und trägt dich sicher nach Hause.“ Wie aber staunte der König, als er dieses Pferd sah! — denn es war aus Holz und hatte vier Köpfe. Und während er das seltsame, schreckliche Wesen betrachtete, hörte er eine dunkle Stimme sprechen: „Nimm dein Schwert und haue damit dem Tier seine vier Köpfe ab, so werden deine Schwestern aus der bösen Zaubermacht der Alten und ihrer drei Söhne befreit sein!“ Der König gehorchte der Stimme, und alsbald stand ein schönes, gesatteltes Pferd vor ihm. Er ritt zu den drei Schlössern im Walde, befreite seine Schwestern und nahm so viel Gold und Edelsteine aus den verborgenen Schatzkammern mit sich, dass er dadurch zum reichsten König der Welt wurde. Dann ritt er auf seine heimatliche Burg, nahm die drei Schwestern zu sich und lebte mit ihnen froh und glücklich bis an sein Ende.

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