Ein Wintermärchen von Bernd Roßmüller
Der lange nordische Winter war noch nicht vorüber. Eis und Schnee hatten den Wald der Trolle noch immer fest im Griff. Der furchtbare Nachtwolf hielt die Sonne noch in seinem unterirdischen Verlies gefangen. Die Vögel waren noch nicht zurück von ihrem Flug über das Meer. Der Wald schlief. Doch ein seltsamer Traum, lies Claris erwachen. Das kleine Trollenmädchen war erst 276 Jahre alt und noch sehr unerfahren im Wald. Selbst während der Mittsommernacht, da die Sonne nicht einmal in die Nähe des Nachtwolfes kam, war sie nie weiter als ihr eigener Schatten von ihrer Höhle weggegangen. Warum auch, die älteren Trolle kümmerten sich doch um sie. In den letzen Wintern war es auch so, dass die anderen sie erst noch wecken mussten. Claris verschlief immer. Die alten Trolle glaubten, sie sei so sonderbar, weil sie erst kurz vor der langen Nacht unter ihrem Geburtsstein gefunden wurde. Daher erhielt sie auch ihren Namen. Claris, weil es so ein besonders hell leuchtender Stein war und Nocti, weil der Nachtwolf schon zum Sprung angesetzt hatte um die ermüdende Sonne wieder einzufangen. Wäre es nicht so ein sonderbar leuchtender Stein gewesen, hätten sie die kleine Trollinger, so nannten die Alten einen Jungtroll, womöglich übersehen und sie wäre erfroren.
Sie ging aus ihrer Höhle und freute sich schon darauf die Sonne zu sehen und die Vögel singen zu hören. Doch an Stelle von Schneeglöckchen und Krokussen im Sonnenlicht war da nur Finsternis und Kälte. „Warum sind die anderen noch nicht wach?“ dachte sie bei sich „haben sie dieses Frühjahr verschlafen? Oder bin ich einfach nur viel zu früh aus dem Winterschlaf erwacht? Ich werde losgehen und die anderen wecken. Bestimmt kommt dann die Sonne wieder, wenn wir sie alle rufen.“ Claris machte sich auf den Weg, die anderen zu wecken. „Hallo wo seid ihr? Aufstehen ihr Trolle, wir müssen den Frühling aus den Fängen des Nachtwolfes befreien.“ Sie ging weiter und weiter. Rief ihre Brüder und Schwestern, aber nur das beißende Heulen des Nordwindes antwortete ihr. Sie wurde traurig und wollte wieder in ihre Höhle gehen. Sie drehte sich um und erschrak „Oh nein, der Nordwind hat meine Spur verweht. Auch einen Schatten habe ich nicht, dem ich folgen könnte.“ Ziellos lief Claris immer weiter, bis sie an eine verlassene Höhle kam. Kaum drinnen wehte der Nordwind den Eingang zu. „Nun, dann werde ich mich hier wieder schlafen legen bis Frühling ist“ dacht Claris. Sie rollte sich zusammen und sprach den Nachtzauber, um wieder einzuschlafen. Zweimal, dreimal, viermal sagte sie die Zauberformel auf. Sie konnte einfach nicht einschlafen, denn kaum dass sie müde wurde, kam wieder dieser Traum. Es waren nur unklare Bilder die sie sah. Mehr Lichtspiele als erkennbare Dinge, doch sie ließen sie nicht einschlafen. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, werde ich hier vor Hunger und Kälte sterben. Niemand wird mich unter meinen Geburtsstein legen können und meine Seele wird einfach so vergehen. Ich werde nicht in tausend und einem Jahr wiedergeboren.“ Sie weinte und die Tränen, die sie weinte, gefroren in der kalten Höhle zu Eis. Wie Edelsteine lagen die gefrorenen Tränen da.
Als sieben mal sieben Tränen gefroren waren, bemerkte Claris ein Leuchten an der Felswand ihrer Höhle. Der Berggeist kam zu ihr, sah die Tränen und stürzte sich gierig darauf. “ Gib mir die Edelsteine Trollinger! Sie sind in meinem Berg, also gehören sie mir.“ „Es sind keine Edelsteine“ sagte Claris „es sind nur Tränen.“ “ Tränen?“ fragte der Berggeist noch einmal „wieso Tränen?“ Weißt du, ich bin zu früh aufgewacht. Alle anderen schlafen noch und der Nachtwolf hält die Sonne noch immer gefangen. Auch diese Höhle hat der Nordwind zugeweht. Ich werde hier ganz allein und ohne Hoffnung auf Wiederkehr sterben.“ „Papperlapapp!“ sagte der Berggeist. „Dumme Trollinger du! Die Sonne muss längst schon wieder genügend Kraft haben, um sich für ein paar Stunden aus den Verließen des Nachtwolfes zu befreien. Du hast dich sicher nur verlaufen. Bist müde und hungrig und kommst dadurch auf so absurde Ideen. Warte hier auf mich. Ich werde zum Berggipfel gehen und selbst nachsehen.“ Daraufhin verschwand der Berggeist so plötzlich wie er gekommen war und mit ihm sein Licht. „Wohin sollte ich den gehen?“ dachte Claris bei sich. „der Eingang ist doch versperrt.“ Lange wartete Claris auf den Berggeist. Unerträglich lange, bis das Leuchten seiner Laterne die Höhle endlich wieder in ein dumpfes Licht tauchte. „Tja“ sagte der Berggeist nachdenklich “ Das sieht wirklich nicht gut aus da draußen. Jedenfalls nicht für deinesgleichen. Ich finde den Winter ja gut, weil ihr diebischen Trolle dann schlaft und nicht auf die Idee kommt, mir meine Schätze zu stehlen. Na und überhaupt Trolle…..“ Der Berggeist fuhr fort, Claris weiter zu beleidigen und sich über das Geschlecht der Trolle zu beklagen. Doch als er sich so richtig in Wut geredet hatte wurde er sehr ruhig und höflich und sagte zu Claris: „Gib mir die Tränen. Tränen sind aus Salz und Salz gibt es in meinem Berg nicht. Als Gegenleistung werde ich mit meiner Freundin Aurora reden und sie bitten, dir den Weg zu zeigen.“ „Welchen Weg?“ fragte Claris. „Vergaß ich das zu sagen? Nun das ist so: alle tausend mal tausend und ein Jahr bekommt der Nachtwolf so viel Kraft, dass er die Sonne in seinem Reich festhalten kann. Wenn niemand kommt und der Sonne hilft, wird ewige Nacht im Reich der Trolle bleiben. So wie es aussieht bist du der einzige Troll der wach ist und es liegt bei dir, was aus deinem Geschlecht wird. Bedenke, länger als ein Jahr und zwei Winter darf ein Troll nicht schlafen, sonst stirbt er. Keiner von euch käme unter seinen Geburtsstein zurück und von dem ach so stolzen Geschlecht der Trolle bliebe nur allein meine Erinnerung. Kein Troll würde jemals wiedergeboren. Ein durchaus verlockender Gedanke. Nie wieder diese hässlichen Trolls ertragen müssen und überhaupt…“ Der gehässige Berggeist brabbelte weiter Gemeinheiten in seinen Bart hinein und verschwand wieder im Felsen und das Licht seiner Lampe wich nach und nach wieder der Dunkelheit.
Wenige Augenblicke nachdem der Berggeist verschwunden war vernahm Claris ein gewaltiges Donnern. Der Berg erzitterte. Claris wurde hin und her geworfen und blieb kurz vor dem verschneiten Eingang liegen. „Merkwürdig“ dachte Claris „es ist als ob ein Licht durch den Schnee in die Höhle fällt.“ Eilig machte sie sich daran, den Schnee zur Seite zu schaffen. „Bestimmt ist die Sonne jetzt doch aufgegangen“ dachte sie bei sich. So schnell sie konnte grub sie sich mit ihren Händen durch den Schnee ins Freie. Ihr junges Herz raste vor Freude und Erwartung. Wie staunte sie aber, als sie ins Freie gelangte. Nicht die Sonne, sondern ein kaltes grünlich-blau bis rot schimmerndes Licht, dass wie eine Feder am Himmel tanzte war da. So ein Licht hatte Claris vorher noch nie gesehen. „Wer oder was bist du? Wo kommst du her?“ rief sie in die Nacht dem Leuchten entgegen. „Ich bin Aurora, das Nordlicht. Im Sommer bin ich zu schwach, um gegen die Sonne zu bestehen. Daher kennst du mich nicht. Der Berggeist hat mich gebeten, dir zu helfen.“ „Der böse Berggeist?“ fragte Claris „Ich dachte der will, dass alle Trolle sterben, damit er seine Ruhe hat?“ „Ach, lass dir doch von dem alten Grießgram nichts einreden. Der ist gar nicht so böse wie er immer tut. Der ist nur zu oft allein und daher etwas mürrisch geworden.“ antwortete Aurora. “ Er sagte mir, dass mein alter Widersacher, der Nachtwolf, die Sonne gefangen hält und nur du allein wach bist. Ich werde dir den Weg zeigen bis zum Eingang in das unterirdische Reich des Nachtwolfes. Nur bis dort kann ich dich begleiten. Wie heißt du eigentlich?“ wollte Aurora noch wissen. „Man nennt mich Claris, Claris Nocti.“ „Claris Nocti? Das heißt doch so viel wie: das Leuchten in der Nacht?“ fragte Aurora. “ Du heißt so, wie ich bin. Gemeinsam werden wir es schaffen.“ Claris huschte ein lächeln übers Gesicht. Flüchtig nur, aber doch vorhanden. Jetzt war Claris nicht mehr allein, und verlaufen konnte sie sich auch nicht mehr, denn jetzt hatte sie ja wieder einen Schatten, dem sie folgen konnte. So lief sie übermütig los. „Nicht so eilig“ rief ihr Aurora zu “ geh erst noch einmal in die Höhle, in der dir der Berggeist begegnete und nimm ein Stück Erz mit.“ „Ich will nicht mehr in diese dunkle Höhle“ sagt Claris ein wenig ängstlich. „Nur keine Angst kleine Trollinger“ sagte Aurora „Ich werde dir Licht geben.“ Sie nahm ihren Mut zusammen und ging wieder in die Höhle. Das erste Stück Erz, das sie fand, nahm sie und versteckte es in ihrer Jackentasche. „Claris, vor der Höhle liegt unter dem Schnee ein etwa faustgroßer, grau-weißer Stein. Such ihn und nimm ihn auch mit. Es ist ein Feuerstein, damit kannst du ein Feuer entzünden. Das wirst du brauchen.“ sagte Aurora noch. Als Claris den Stein fand, forderte Aurora sie auf, den Stein und das Erz so zusammenzuschlagen, dass sie sich nur kurz berühren. Die Trollinger tat es wie beschrieben und nach ein paar Versuchen fielen helle, heiße Funken zu Boden. „Schön! Schön!“ freute sich Claris und wollte gar nicht mehr aufhören „das ist schön, wie die hellen Punkte fliegen.“ Immer und immer wieder schlug sie die beiden Brocken aneinander und konnte sich gar nicht satt sehen. „Es wird Zeit aufzubrechen und den Nachtwolf zu suchen“ mahnte Aurora „der Weg ist noch weit und die Zeit wird immer weniger. Du hast nur noch 7 Tage, um den Nachtwolf zu überwältigen und die Sonne wieder zu befreien.“
Der Nachtwolf; sie hatte ja schon oft vom Nachtwolf gehört, doch da sie so eine Schlafmütze war, hatte sie noch nie erlebt, dass die Sonne nicht aufging. Sie folgte dem Weg, den Aurora ihr leuchtete. Kurz darauf kamen sie an einem alten Baum vorüber. In einem Astloch saß ein halb erfrorenes Mäuschen. Vor Kälte konnte es schon nicht mehr sprechen. Nur noch am blinzeln eines Auges sah Claris, dass es noch lebte. „Arme kleine Maus! Hast du den Weg in dein Loch nicht mehr geschafft? Komm, setz dich in meine Haare und wenn dir wieder warm ist, dann sagst du mir, wo dein Loch ist und ich bringe dich zurück zu deiner Familie.“ sagte Claris. Sie konnte es nicht ertragen, dass irgend jemand litt, auch nicht dieses Mäuschen. Nach einer Weile wurde dem Mäuschen wieder wärmer und es bat Claris, sie an der vierten Weide am See abzusetzen. Wie es der Zufall so wollte, war sie gerade als das Mäuschen dies sagte, bei den Weiden am See. Sie ließ dass Mäuschen herab und wollte schon weiter gehen, als ihr das kleine Tier zupiepste : Warte, kleine Trollinger, ich möchte dir zum Abschied etwas schenken, was du sicher gebrauchen kannst.“ Sie lief in ihr Loch und kam nach wenigen Augenblicken wieder heraus mit einem kleinen Knäuel Heu. „Gib gut darauf acht“ rief ihr das Mäuschen noch zu „es nährt die Funken.“ Mit diesen Worten verschwand es in seinem Loch und kam nicht wieder heraus. So verstaute Claris ihr Geschenk in ihrer Jacke bei den anderen Dingen und zog weiter. Nach einiger Zeit sah sie eine Fledermaus in einer Felsspalte. „Hilf mir, kleine Trollinger, sonst erfriere ich.“ sagte die Fledermaus. Vorsichtig befreite Claris die kleine Fledermaus und hängte sie unter ihre Jacke. Nach einiger Zeit fragte die Fledermaus: „Bist du Claris? Der Nordwind hat mir von dir erzählt und dabei bin ich fast erfroren.“ „Ja“ sagte Claris. „und ich bin auf dem Weg, den Nachtwolf zu suchen.“ und erzählte der Fledermaus, was sie schon alles erlebt hatte. „Setz mich bitte dort hinten in dem großen hohlen Baum bei meinen Verwandten ab. Wenn ich dir auf deiner Reise irgendwie helfen kann dann ruf mich einfach. Ich heiße Spitzohr und habe die besten Ohren im ganzen Trollenwald.“ sagte die Fledermaus „Ich wäre ja mit dir gekommen, doch jetzt brauche ich erst einmal etwas Schlaf.“ An dem beschriebenen Baum angekommen kletterte Claris hinein und hängte Spitzohr zu seinen Verwandten. Kaum das er hing schlief er auch schon tief und fest ein. Ganz leise stieg sie wieder herunter und ging den Weg weiter, den Aurora ihr wies.
Nach einer langen einsamen Wegstrecke sah Claris eine Eule, die sich in einem Dornbusch verfangen hatte. Ohne an ihre eigenen Finger zu denken befreite Claris die Eule aus ihrer misslichen Lage. „Ich danke dir Trollinger“ sagte die Eule „ohne dich wäre ich hier erfroren, verhungert oder der Fuchs hätte mich geholt. Wenn du je Hilfe brauchst, ruf nach mir. Ich habe die besten Augen im Trollenwald. Ach ja, mein Name ist Siehtsoviel. Um mich zu rufen entzünde ein Feuer, dessen Rauch wie ein -S- aussieht. Ich werde es sehen und dir zu Hilfe eilen. Leb wohl kleine Trollinger!“ Ein paar kräftige Flügelschläge und kurz darauf verschwand die Eule lautlos in der Dunkelheit.
So ging sie weiter und weiter. Viele Täler durchwanderte sie und auf genau so viele Berge stieg sie. Claris ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen.
Am fünften Tag sah sie ein Rentier, dass in einen See gefallen war. Es war einer dieser Seen, die eine heiße Quelle hatten, und daher nie ganz zufroren. Das Rentier hatte sich, um zu trinken, zu weit nach vorn gewagt und war im See eingebrochen. Die dünne Eisdecke am Rand der heißen Quelle konnte es nicht mehr tragen. In Todesangst versuchte das Tier, wieder auf die Eisschicht des Sees zu gelangen. Ohne zu zögern und ohne nachzudenken nahm sich Claris einen starken Ast und ging dem Rentier entgegen. „Beiß fest in den Ast, dann kann ich dich herausziehen!“ rief Claris dem Rentier zu. Da ihr Ast lang genug war, konnte sie am Ufer stehen bleiben. „beiß schon zu, du dummes Rentier“ rief sie immer wieder. „halt dich fest, sonst kann ich dir auch nicht helfen.“ Lange hielt das Rentier den Ast für eine weitere Gefahr, doch irgendwann, als das Rentier schon ganz erschöpft war, bemerkte es Claris, die seit langem versuchte, ihm zu helfen. Mit letzter Kraft biss es in den Ast und Claris zog so stark sie nur konnte. Endlich war es geschafft. Das Rentier war aus dem See befreit. Doch der Eisige Nordwind griff sofort nach seinem nassen Fell. „Bitte mach ein Feuer, sonst erfriere ich und alles war umsonst.“ bat das Rentier. „Wie macht man Feuer?“ fragte Claris „Ich habe noch nie Feuer gemacht. Ich kann das nicht.“ Claris wurde traurig, doch dann erinnerte sie sich an die Worte von Aurora: ,Es ist ein Feuerstein! Die beiden Brocken, die ich dabei habe, damit habe ich doch diese lustigen hellen Punkte gemacht.‘ Claris holte das Erz und den Feuerstein heraus und fing an Funken zu schlagen. Aber es brannte kein Feuer. „Na klar, ich dumme Trollinger, ich brauche Holz!“ So brach sie ein paar trockene Äste in Stücke, legte sie übereinander und fing wieder an, Funken zu schlagen. „Warum brennt diese blöde Feuer nicht? Will es, dass mein neuer Freund erfriert?“ Dann erinnerte es sich an die Worte des Mäuschens: „Es nährt die Funken…“ So nahm Claris ein Stück von dem Heu und legte es zu dem Holz. Nach ein paar Schlägen mit dem Feuerstein stieg Rauch aus dem Heu. Ohne es zu wollen, half nun sogar der Nordwind mit. Er blies so kräftig in die Glut, dass sich das Heu entzündete und hell lodernd brannte. „Leg vorsichtig ein paar Stücke von dem Holz darauf“ sagte das Rentier „und gib acht, dass du die Flamme nicht erstickst!“. Nun konnte sich das Rentier trocknen und auch Claris genoss die Wärme des Feuers. Claris erzählte auch dem Rentier von ihrer Reise und dem was sie schon alles erlebt hatte. Von der Maus, der Eule, der Fledermaus und natürlich auch von dem Berggeist und Aurora, die alles mit angesehen hatte. „Das Reich des Nachtwolfes liegt noch sehr weit von hier. Allein schaffst du es nicht mehr rechtzeitig. Lass mich noch etwas ausruhen und dann werde ich dich auf meinem Rücken dorthin tragen. Ich bin viel schneller als du. Nur eines musst du wissen, den genauen Eingang in sein Reich kenne ich nicht, den musst du dann wieder alleine suchen.“ sagte das Rentier und schlief ein. Nach einigen Stunden wachte das Rentier wieder auf und sagte: „Auf geht’s! Lass uns die Sonne befreien!“ Claris kletterte auf seinen Rücken. „Was ich vorhin vergaß, dir noch sagen wollte, ich heiße nicht Rudolf, sondern Flink und jetzt halt dich gut fest!“ sagte das Rentier und lief los. Flink machte seinem Namen alle Ehre. Viel schneller als der Nordwind blasen, konnte Flink laufen. So schnell, das Aurora fast nicht hinterherkam zu leuchten. Nach dem sie über ungezählte Berge gelaufen waren, hielt Flink an und sagte: „Hier irgendwo ist der Eingang ins Reich des Nachtwolfes. Von hier aus musst du allein weitersuchen, da ich zu große Angst habe. Ich werde aber hier warten, um dich wieder nach Hause zu tragen.“ Claris ging nun wieder allein weiter. „Aurora, kannst du den Eingang ins Reich des Nachtwolfes sehen?“ fragte sie ihre Begleiterin. „Nein, leider nicht. Das Licht, das ich mache, blendet mich selbst so sehr, dass ich nur wenig sehe. Wenn ich mein Licht nicht tanzen lassen würde, würde ich gar nichts sehen.“ sagte Aurora. „Frag die Eule. Sie hat die besten Augen im Trollenwald.“ „Wie war doch das gleich“ überlegte Claris „ein Feuer dessen Rauch wie ein -S- aufsteigt.“ Wie sie es gelernt hatte, wollte sie ein Feuer entzünden, doch hier im Gebiet der Nachtwolfes ging kein Lüftchen. Der Nordwind mied scheinbar diese Gegend. „Versuch es mit Pusten!“ sagte Flink. So gut sie konnte blies Claris in die Glut und siehe da, das Feuer brannte. Holz nachgelegt und abwarten. „Wie kriege ich das nur mit dem -S- hin?“ grübelte Claris. Da es absolut windstill war, stieg der Rauch kerzengerade nach oben. Sie redete auf den Rauch ein, als ob er sie verstehen könnte, blies ins Feuer, deckte das Feuer halb ab. Es half nichts. Der Rauch stieg weiter kerzengerade in den Himmel. „Krümme dich endlich du dummer Rauch“ schrie Claris den Rauch an und wirbelte mit den Händen, als wollte sie den Rauch verprügeln. Links und rechts und links und rechtes und noch mal und noch mal. Unbemerkt stieg der Rauch nun wie in Schlangenlinien auf, aber Claris bemerkte es nicht. Nachdem sie ihre Wut abreagiert hatte, setzte sie sich neben das Feuer. „Dann suche ich eben alleine!“ bockte sie mit sich. „Du hast mich gerufen?“ hörte Claris hinter sich eine vertraute Stimme sagen. Sie drehte sich um und sah zu ihren Erstaunen ihren Freund Siehtsoviel, die Eule. „Wie kommst du denn hier her?“ fragte Claris verwundert. „Du hast doch den Rauch als -S- aufsteigen lassen, wie wir es vereinbart hatten. Wie kann ich dir nun helfen?“ wollte Siehtsoviel wissen. „Hilf mir bitte den Eingang ins Reich des Nachtwolfes zu finden.“ bat sie. „Ich habe nur noch einen Tag Zeit die Sonne zu befreien.“ „Ist gut“ sagte die Eule „wenn ich etwas gefunden habe, rufe ich dich. Folge dann einfach nur meinem Schrei.“ Siehtsoviel flog auf und drehte erst einmal ein paar Runden. Sah hier nach und dort. Endlich rief er Claris zu sich. „Diese Höhle ist der Eingang ins Reich des Nachtwolfes. Von hier aus musst du allein weitergehen, denn die Höhle ist so Dunkel, dass selbst ich darin nichts sehen kann. Das kann nur eine Fledermaus.“ „Eine Fledermaus?“ staunte Claris „wie soll denn eine Fledermaus in dieser dunklen Höhle etwas sehen?“ „Nun, Fledermäuse sehen mit den Ohren. Sie rufen in die Dunkelheit hinein und können sich am Echo orientieren.“ sagte Siehtsoviel. „Ich muss nun wieder nach Hause. Wenn du mich noch einmal brauchst, dann weißt du ja wie du mich rufen kannst. Leb wohl und viel Glück!“ Genauso lautlos wie Siehtsoviel gekommen war, flog er auch wieder davon. „Liebe Aurora, kannst du mir nicht den Weg durch die Höhle erhellen?“ fragte Claris. „Nun, bis zur ersten Abbiegung reicht mein Licht, doch danach kann ich dir nicht mehr helfen.“ sagte das Nordlicht. So rief sie ihren Freund Spitzohr. Sehr laut schrie sie den Namen in die Nacht. Bestimmt hundert mal.
„Schrei nicht so herum!“ beschwerte sich Spitzohr als er ankam „Oder willst du, dass ich taub werde?“ Dann berichtete Claris von ihren Erlebnissen und bat die Fledermaus, ihr in der Höhle zu helfen. „Pass auf“ sagte Spitzohr „ich fliege einmal durch die Höhle durch und erkläre dir danach, wie du gehen musst.“ Sprach‘s und flog auf. Die Zeit verging und Spitzohr kam und kam nicht wieder. Nach Stunden kam Spitzohr zurück und erläuterte Claris den Weg: „Die Höhle ist zweimal tausend Schritte lang. Die ersten tausend Schritte sind in absoluter Dunkelheit. Der zweite Teil des Weges wird durch die Sonne schon erleuchtet. Der Weg ist aber recht einfach zu finden. Streck deine Arme weit aus. So weit, dass du beide Seiten der Höhle berühren kannst und taste dich so langsam vorwärts. Es gibt viele Gabelungen in der Höhle. Geh immer abwechselnd erst links, dann rechts, wieder links dann rechts und immer so weiter. So findest du den Weg sofort. Pass aber auf, dass dir die Sonne nicht die Augen verbrennt, wenn du ins Reich des Nachtwolfes eintrittst. Jetzt wird mir wieder kalt. Ich werde zurückfliegen in meinen Schlafbaum. Viel Glück und komm mal wieder bei mir vorbei!“ sagte die Fledermaus noch, als sie schon im Abflug war. Wie ihr gesagt wurde, breitete Claris die Arme aus und ging in die Dunkelheit. Erst links, dann rechts, wieder links und noch einmal rechts und immer so weiter, bis sie zum Ausgang der Höhle kam. Das Licht der Sonne blendete sie und sie kniff ganz fest die Augen zu. „Liebe Sonne, ich bin gekommen um dich zu befreien. Kannst du mir sagen wie, ich dir helfen kann zu entkommen und auch, wo der Nachtwolf ist?“ fragte Claris. „Wer bist du?“ fragte die Sonne zurück. „Ich bin Claris, doch wir haben keine Zeit zum plaudern, sonst wirst du auf ewig hier eingeschlossen bleiben und alle Trolle werden sich einfach auflösen, ohne wiedergeboren zu werden. Also noch mal: wie kann ich dir helfen?“ antwortete Claris und die Sonne antwortete: „Der Nachtwolf ist recht groß und stark, aber nicht besonders klug. Versuch ihn abzulenken, während du mich hier heraus lässt.“ Noch ehe Claris alles verstanden hatte, stand der Nachtwolf vor ihr und knurrte: „Was willst du hier? Ich werde dich fressen, weil du meine Ruhe gestört hast.“ Claris nahm all ihren Mut zusammen „Nachtwolf, gib die Sonne wieder frei, sonst müssen alle Trolle sterben!“ Der Nachtwolf lachte: „Ha, du kleine Trollinger willst mir, dem Nachtwolf, Vorschriften machen? Mir? Ha, so etwas komisches habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Ha. Weißt du was, ich hatte es satt, im Dunkeln zu hausen und darum habe ich mir die Sonne gefangen. Die Sonne gehört jetzt mir!“ Claris griff in ihre Tasche und suchte irgend etwas, womit die den Nachtwolf bändigen könnte. Doch neben dem Feuerstein und dem Erz war da nur noch ihr Gold und sie erinnerte sich daran, wie sehr ihr der Glanz des Goldes gefiel, als sie es zum ersten mal im Sonnenlicht funkeln sah. „Nein!“ sagte sie zu sich. Ohne Gold sieht mich doch kein anderer Troll mehr an. Doch wenn ich es nicht hergebe, gibt es vielleicht bald keine Trolle mehr.
„Du! Nachtwolf! Ich will dir einen Tausch anbieten.“ rief ihm Claris zu. Sie holte ihr Gold heraus und hielt es ins Licht. „Wenn du die Sonne frei lässt, schenke ich dir dieses leuchtende Gold. Es ist auch zehnmal mehr Wert, als die Sonne.“ „Lass sehen“ sagte der Nachtwolf und kam näher. Claris bemerkte den gierigen Blick des Nachtwolfes und warf die Goldklumpen so weit sie nur konnte weg. Der Nachtwolf drehte sich sofort um, um das Gold einzusammeln. Während der Nachtwolf noch beschäftigt war, öffnete Claris die Gefängnistür und ließ die Sonne frei. Als die Sonne in der Höhle verschwunden war, merkte der Nachtwolf, dass er überlistet wurde. „Das Gold leuchtet nicht von allein. Betrug! Ich will meine Sonne wiederhaben!“ tobte der Nachtwolf. Er lief der Sonne hinterher und am äußeren Ende der Höhle bekam er sie noch einmal zu fassen. Erbittert kämpften sie miteinander. Mit seinen scharfen Krallen und Zähnen riss der Nachtwolf der Sonne tausend mal tausend Funken heraus, die sofort zum Himmel stiegen. Nach einer kurzen Weile kam auch Claris wieder aus der Höhle. Sie packte den Nachtwolf am Schwanz und zog so lange bis er die Sonne freigab. Er war zu erschöpft, um Claris noch etwas anzutun. Flink hatte den Lärm mitbekommen und kam auch zur Höhle. Er hielt den Nachtwolf mit seinem mächtigen Geweih in Schach. Die Sonne war inzwischen auch schon zum Himmel aufgestiegen. Claris merkte, wie ringsum alles in helles Sonnenlicht getaucht wurde.
„Claris!“ rief die Sonne „Claris, ich danke dir für die Rettung. Ich werde nun wieder für euch Trolle scheinen und wenn ihr euren Schlaf haltet, werde ich wie schon seit Ewigkeiten ins Reich des Nachtwolfes steigen. So sind alle zufrieden. Doch dir, Claris, möchte ich noch ein Geschenk machen. Die vielen Funken, die mir der Nachtwolf ausgerissen hat, will ich am Himmel verteilen und wenn ich im Reich des Nachtwolfes bin, werden sie weiterhin für dich und alle anderen Trolle leuchten.“ Danach verstummte die Sonne auf ewig. Der vom Kampf geschwächte Nachtwolf zog sich in sein Reich zurück um seine Wunden zu versorgen und auch Aurora war nicht mehr zu sehen.
Flink brachte Claris wieder zu ihrer eigene Höhle, wo schon zwei andere Trolle nach ihr suchten. Claris erzählte, was sie erlebt hatte, doch es wollte ihr keiner so recht glauben. Jedenfalls nicht bis zum Abend, denn als die Sonne sich wieder zurückzog waren da Tausende Lichter am Himmel.
Claris hatte viel gelernt in den letzten Tagen. Sie hat gelernt, dass sie den Tieren helfen muss, wenn sie sich selber helfen will. Sie hatte gelernt wie, wichtig Freunde sind und sie hatte gelernt, dass die Welt größer ist, als ihr eigener Schatten.
Zufrieden setzte sie sich vor ihre Höhle und schaute in den Nachthimmel. Kein Wölkchen war an diesem Abend zu sehen. Sie sah all die Funken und ein sehr breites Lächeln kam auf ihr Gesicht, denn nur sie allein wusste, dass all diese Funken nur für sie leuchten.
Dieses Märchen wurde mir von Bernd Roßmüller [Lautnhals@t-online.de] zur Verfügung gestellt.
Das Copyright von diesem Märchen liegt ausschließlich bei Bernd Roßmüller © 2000
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