(aus 1001 Nacht)
Wie kam es zu diesen vielen schönen und abenteuerlichen Geschichten? Das ist bereits eine Geschichte für sich. Wer sie aber nicht nur hören will, sondern auch richtig miterleben möchte, der muss nun dem Erzähler in höchst fremdartige Länder folgen. Er sollte alles vergessen, was heute umgibt. Denn er darf nicht erwarten, dass die Menschen von Tausendundeiner Nacht genauso leben und wohnen und sprechen oder dass sie etwa denken wie er.
Die Menschen im Morgenland, die sich vor Jahrhunderten diese Geschichten
immer wieder aufs neue erzählten, hatten ihre eigenen Gewohnheiten und Sitten. Ein reicher Mann lebte damals im Überfluss, durfte auch viele Frauen heiraten und nicht nur eine. Wer aber arm geboren war, mochte noch so fleißig sein, er blieb sein ganzes Leben hindurch ein Habenichts. Nur in seinen Träumen und in diesen Geschichten konnte jedermann in goldenen Bergen des Reichtums wühlen. Darum wimmelt es in Tausendundeiner Nacht von märchenhaften Schätzen und gewaltigen Geistern, die einen über Nacht zum König machen. Und immer wieder sind es schwache und wehrlose Menschen, die es fertig bringen, allein durch ihre Güte oder ihren Verstand einen übermächtigen Herrscher zu besiegen. Einer von diesen Menschen ist die schöne Scheherezade, der es ohne jeden Kampf gelang, den wilden Sultan Scheherban zu fesseln – nämlich mit ihren spannenden Geschichten von Tausendundeiner Nacht:
Einst, vor schier undenkbar langen Zeiten, herrschte über die Inseln Indiens und Chinas der ebenso mächtige wie reiche Sultan Scheherban. Er galt als ein rechter Mann, der aber sehr streng darauf achtete, dass seine Befehle eingehalten wurden. Seiner Frau hatte er die Todesstrafe angedroht für den Fall, dass sie während seiner Abwesenheit ihre Zimmer verließ und mit anderen Männern sprach oder gar lachte.
Scheherban liebte seine Frau, wollte aber auch wissen, ob sie es wert war und seine Anweisungen getreu befolgte. Darum stellte er sie eines Tages auf die Probe. Der Sultan tat so, als ob er auf die Jagd zöge. Auch sein jüngerer Bruder Schahseman, der König von Samarkand in Persien war und ihn in dieser Zeit besuchte, ritt mit zum Tor hinaus. Bald aber kehrten beide heimlich zurück in den Palast. Von einem versteckten Fenster aus musste Scheherban mit eigenen Augen sehen, was die Sultanin nun während seiner Abwesenheit tat: Achtlos hatte sie ihr Zimmer verlassen. Sie vergnügte sich mit ihren Dienerinnen und Gästen im Garten des Palastes und lachte dabei, dass es dem Sultan wie Messer ins Herz schnitt.
Noch am selben Tag machte er seine furchtbare Drohung wahr. Er ließ die ungehorsame Sultanin köpfen und schwor sich, er wolle künftig nie mehr an die Ehrlichkeit und Treue irgendeiner Frau glauben. Der Großwesir erhielt darauf den Auftrag, ihm täglich ein schönes Mädchen aus einer vornehmen Familie des Landes in den Palast zu bringen, damit es seine Frau werden solle. Doch schon am nächsten Morgen nach ihrer Hochzeit wurde dann die Unglückliche wie die erste Sultanin hingerichtet. Auf diese grausame Weise wollte Scheherban erreichen, dass ihn keine Frau jemals wieder hintergehen könnte.
Schon Monate währte dieses sinnlose Morden. Angst und Schrecken erfüllten das Land, denn Hunderte von schönen Mädchen hatten bereits ihr junges Leben verloren. Aber niemand traute sich zu, den wilden Sultan zur Mäßigung zu bringen oder ihn gar zu zähmen.
Nun hatte der Großwesir zwei Töchter, die Scheherezade und Dinarzade hießen. Besonders Scheherezade, die ältere, stand seinem Herzen nah, denn sie war nicht nur außerordentlich schön, sondern auch ungewöhnlich klug und redegewandt, weil sie viele Bücher las. Eines Tages sagte sie zu ihrem Vater:
»Würdest du deiner Tochter auch eine große Bitte erfüllen?«
»Was in meiner Macht liegt, tue ich gern für dich«, antwortete der Großwesir. »Ich erfülle dir jeden Wunsch, wenn er nicht unvernünftig ist.«
Da sagte Scheherezade: »Der Grausamkeit des Sultans muss endlich Einhalt geboten werden. Bitte sorge dafür, dass ich ihn heiraten darf.«
»Was fällt dir ein « rief der Großwesir entsetzt. »Du weißt doch, dass der Sultan jede Frau am Morgen nach der Hochzeit umbringen lässt.«
»Eben weil ich es weiß, darum trage ich dir meine große Bitte vor«, sagte Scheherezade. »Vielleicht gelingt es mir, Scheherban von seiner Unmenschlichkeit zu heilen. Doch wenn ich es nicht kann, möchte ich lieber sterben, als dieses grausame Spiel noch länger mit anzusehen.«
Mit allen Mitteln der Überredung versuchte der Großwesir seine Tochter von ihrem Vorhaben abzubringen, schließlich gab er nach und sagte: »So muss ich also dafür sorgen, dass du in dein Verderben ziehst. Ich werde unserem Herrn Deinen Wunsch melden, mach du dich inzwischen bereit.«
Sultan Scheherban seinen Großwesir angehört hatte, fragte er verwundert: „Ausgerechnet du willst mir die liebste deiner Töchter opfern? Erwartest du dass ich bei ihr eine Ausnahme mache? Großwesir, morgen früh werde dir den Befehl geben, Scheherezade töten zu lassen wie ihre Vorgängerinnen. Doch wenn du dann zögerst, geht es dir selbst an den Hals.«
„Herr“, antwortete der Wesir, »so schwer es mir fällt, ich bin bereit, dir wie zu gehorchen.« Dann ging er fort, um seine Tochter zu holen.
Ehe Scheherezade das Elternhaus verließ, zog sie aber noch die Schwester beiseite und flüsterte ihr zu: »Dinarzade, ich gehe jetzt zum Sultan, um seine Frau zu werden. Heute abend will ich ihn jedoch bitten, dass er dich kommen lässt, damit ich noch eine Nacht meines Lebens in deiner Gesellschaft verbringen kann. Wenn du dann bei mir bist, so schlage mir vor, ich solle dir zum Zeitvertreib eine von meinen Geschichten erzählen. Alles Weitere wirst du schon sehen. Ich hoffe nämlich, mit meiner List den wilden Sultan zu zähmen.«
Mit diesem Plan im Herzen erschien Scheherezade vor dem Sultan. Er freute sich über ihre Schönheit, empfing sie sehr freundlich, führte sie in den Prunksaal und gab das Zeichen für den Beginn ihres Festes. Nach einiger Zeit begann Scheherezade bitterlich zu weinen. Scheherban fragte sie nach dem Grund ihres Kummers und hörte: »Herr, ich denke an meine jüngere Schwester, die ich sehr habe. Leider konnte ich mich heute von ihr nicht verabschieden und möchte gern noch ein einziges Mal sehen.«
Sogleich ordnete der Sultan an, dass auch die zweite Tochter des Großwesirs in seinem Palast willkommen sei. Und kaum war Dinarzade dort eingetroffen, zeigte Scheherezade plötzlich ein heiteres Gesicht. Als dann die Nacht hereinbrach, saß die Schwester zu ihren Füßen und sagte: »Liebe Scheherezade, erzähle mir doch eine von deinen schönen Geschichten, damit uns die Zeit bis zum Morgen besser vergeht.«
Scheherezade fragte darauf den Sultan, ob er etwas dagegen hätte. Scheherban
war einverstanden und blieb bei den Schwestern, um zuzuhören. Nun begann Scheherezade mit einer sehr langen Geschichte, die aber auch sehr mitreißend und sehr spannend war. Der Sultan merkte nicht, wie die Stunden verstrichen. Als die Erzählerin erst etwa in der Mitte ihres abenteuerlichen Berichtes war, dämmerte schon der Morgen. Da unterbrach sich Scheherezade und sagte: „Jetzt folgt eigentlich der schönste und spannendste Teil. Wenn mein gnädiger Herr es also gestattet, will ich die Erzählung dann in der nächsten Nacht beenden.“ Scheherban war viel zu neugierig auf die Fortsetzung. Er beschloss, die Hinrichtung um einen Tag zu verschieben, und gab Scheherezade die Erlaubnis, am Abend fortzufahren.
Der Großwesir hatte diesen Morgen mit Schrecken erwartet, doch er bekam keine Anweisung, das Todesurteil an seiner Tochter vollstrecken zu lassen. Als er dann sah, wie der Sultan nur heiter seinen Regierungsgeschäften nachging, fasste der Wesir Mut. Scheherban aber konnte den Abend kaum erwarten. Als er sein Schlafzimmer betrat, saßen dort schon die beiden Schwestern, und Scheherezade begann sofort ihre unterbrochene Geschichte weiterzuerzählen.
Mitten in der Nacht war sie dann zum guten Ende ihrer Erzählung gekommen, doch Dinarzade sagte nun rasch: »Schwester, ich möchte noch eine Geschichte .hören ehe es Morgen wird.« Der Sultan hatte den gleichen Wunsch, den ihm Scheherezade nur zu gern erfüllte. Sie wusste es aber so einzurichten, dass genau im spannendsten Moment die Sonne des neuen Morgens aufging. Der Sultan wollte natürlich unbedingt erfahren, wie es weiterging, und musste sich nun von der klugen Scheherezade bis zum kommenden Abend vertrösten lassen. Durch diese List erreichte die Tochter des Großwesirs, dass Scheherban ihre Hinrichtung von Tag zu Tag und von Woche zu Woche verschob. Jeden Abend wusste sie etwas Schöneres zu erzählen, begann immer neue Geschichten, aber stets so geschickt, dass beim Morgengrauen das Ende der Handlung noch längst nicht zu erkennen war.
So vertrieb sie tausendundeine Nacht hindurch mit ihrer Schwester dem Sultan die Zeit. Als sie dann auch die letzte ihrer Geschichten erzählt hatte, warf sich Scheherezade dem Sultan zu Füßen und sagte: »Mein Herr und Gebieter, jetzt habe ich dir alle Geschichten erzählt, die ich kenne, und ich merke dir an, dass sie dir gefallen haben. Nun bitte ich dich, schenke mir zum Lohn für dieses Vergnügen mein Leben.«
Scheherban hatten die Erzählungen längst von seiner wilden Verbitterung geheilt. Er liebte dieses schöne Mädchen und glaubte wieder an das reine Herz einer Frau. Mit seinen Händen zog er Scheherezade zu sich empor und sagte:
»Dich hat Allah zu mir geschickt, um mich von meinem Wahn zu befreien. Du sollst meine Frau sein und noch lange mit mir in Glück und Freuden leben.«
Darauf beschenkte der Sultan den glücklichen Großwesir, der ihm seine Tochter fast geopfert hätte. Dann schickte er eine Nachricht zu seinem Bruder Schahseman und bot ihm darin Dinarzade als Frau an, die ebenso schön und fast so klug wie ihre Schwester war. Von seinem fernen Reich Samarkand in Persien kam Sultan Schahseman so schnell wie möglich herbei. Das prächtige Hochzeitsfest der beiden Brüder mit den schönen Töchtern des Großwesirs wurde noch lange Zeit von den Dichtern besungen. Viele Tage lang jubelte Scheherbans Volk, weil die Zeit des Schreckens endlich vorbei war. Die schönsten und abenteuerlichsten Geschichten, die Scheherezade dem Sultan erzählt hat, wurden für alle Zeiten und alle Menschen in den Märchen von Tausendundeiner Nacht festgehalten.
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