Aachener Märchen
Es gibt viele Länder auf der Erde, und alle sind ganz verschieden. Das Land, in dem der Knabe groß geworden ist, dessen Geschichte ich erzählen will, ist ganz anders als das unsere. Da scheint die Sonne so warm, dass die Blumen so groß wie Bäume werden, sie blühen in vielen und herrlichen Farben, und darüber gaukeln Schmetterlinge, deren Flügel wie kunstvolle Stickereien aussehen.
Vor vielen, vielen Jahren wohnte dort in einem kleinen Häuschen ein Knabe im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Seine Eltern waren tot, und er wohnte ganz alleine dort. Sein Gesicht war braun und schmal mit klugen, großen Augen, die an sehr dunklen Samt erinnerten. Früher war er einmal sehr glücklich gewesen, aber jetzt war er zumeist bedrückt, weil er so einsam war. Früher war Tanja öfter herübergekommen, die Tochter des Nachbarn. Er hatte ihr Puppen geschnitzt und Märchen erzählt.
Eines Tages zog sie mit ihren Eltern fort und kam nicht mehr wieder.
Oft ging Murei, so hieß der Knabe, vor die Tür des Hauses und sah der Straße nach, die in einem großen, dichten Wald endete. Er dachte daran, auf Wanderschaft zu gehen und packte also seine Habseligkeiten in ein großes, buntes Tuch. Er wählte die Dinge, die er mitnahm, sehr sorgfältig aus, damit es nicht zu schwer wurde. Dennoch fehlte nicht eine kleine Puppe, die das Mädchen einmal bei ihm liegen ließ. Er hatte sie selbst geschnitzt und hübsch bemalt. Sie trug ein dunkelrotes Kleidchen, das Tanjas Hand mit vielen bunten Fäden bestickt hatte.
Während Murei die Tür des Hauses schloss, fiel sein Blick auf den kleinen Gewürzgarten seiner Mutter, und er ging hin, brach einige Kräutlein ab, öffnete das Bündel und legte sie noch hinzu.
Und nun ging es auf die Wanderschaft, immer weiter, immer weiter. Doch sein Herz blieb unruhig und traurig. Er spielte hier und da ein Lied auf seiner Flöte, und das machte ihn dann wieder etwas fröhlicher.
In einer großen Stadt auf dem Marktplatz sah er einen großen Jüngling mit hellen Haaren und blauen Augen.
Murei erschrak sehr, einen solchen Menschen hatte er noch nicht gesehen. Er nahm in seiner Verwirrung die Flöte, und da wurde ein Lied aus seinem Schrecken, das geschah oft so. Er hatte ja niemanden, dem er etwas mitteilen konnte, und da er nur die Flöte besaß, wurde aus seinem Denken gleich eine kleine Musik. Der blonde Mann horchte auf, er wandte sich um und stand plötzlich vor dem Knaben. Nach einer geraumen Zeit sprachen sie miteinander. Sie hatten sich viel zu erzählen, jeder sprach von seiner Heimat.
„Es ist so wunderschön hier“, sagte der fremde Jüngling, „aber etwas fehlt hier, der Schnee, ohne ihn würde ich sterben.“ In demselben Augenblick hörte man ein lautes Geschrei, möglich, dass irgendwo auf dem Markt ein Streit entstanden war. Es war aber ein solches Gedränge, so dass die beiden auseinandergerissen wurden. So sehr sie nacheinander suchten, sie fanden sich nicht mehr.
So setzte Murei seine Wanderung fort.
„Schnee“, dachte er, „was mag das sein, Schnee?“ – Es ließ ihm keine Ruhe, wenn er mit irgend jemand sprach,
fragte er sogleich: „Weißt du, was Schnee ist?“ Doch niemand wusste es.
So traf es sich, dass er einmal bei einem weisen, alten Mann übernachtete, zu dem die Leute von weit her kamen, um sich einen guten Rat zu holen.
„Lieber, weiser Mann“, sprach Murei, „kannst du mir nicht sagen, was Schnee ist?“ – Der alte Mann lächelte. „Schnee“, sagte er nachdenklich, „das ist so, als wenn Tausende von winzigen Blüten auf die Erde fallen, sie sind weiß, und alles wird weiß davon, die Dächer, die Bäume, die Erde, alles. Und es fühlt sich kalt an wie nasse Steine.“
Die Augen des Knaben wurden immer größer. „Wie schön“, flüsterte er, „das muss ich sehen.“
„Aber nimm dich in acht“, sprach der alte Mann, „legst du dich in den Schnee hinein und schläfst, so bist du am Morgen selbst wie ein Stein, starr und kalt.“
Seit diesem Tage lebte Murei wie in einer Verzauberung, er dachte nur noch an den Schnee. So kam er immer mehr nach Norden, und als es Herbst wurde, wollte es der Zufall, dass er in die Kaiserstadt Aachen gelangte. Es war schon dunkel, als er durch das Stadttor schritt.
Er hörte einen sehr schönen Gesang und folgte diesem Klang, bis er ihn ganz erreichte. Plötzlich stand er im Kreuzgang des Domes, dieser war von vielen Kerzen ganz erleuchtet.
Die Menschen standen dicht aneinandergedrängt in schönen samtnen und seidenen Gewändern. Sie waren von der Musik so ergriffen, dass sie den Knaben nicht sahen.
Als die Feier beendet war, drängte alles dem Ausgange zu, und Murei schlüpfte unbemerkt hinaus.
„Das muss ja wohl das Land sein, wo der Schnee fällt“, dachte er glücklich, „ja, das muss es sein!“ – Nun kam er in eine Gasse, die sehr eng war, er klopfte an ein
Tor, das sogleich geöffnet wurde. Ein Mann mit einem langen schwarzen Bart fragte,. was er wolle. Murei fragte nach Arbeit, und der Mann nickte gutmütig und ließ ihn ein. Eine sehr schöne junge Frau gab ihm zu essen, sie wies ihm darauf eine Stube an, darin ein sauberes Bett stand und ein weiß gescheuerter Tisch mit Büchern. Bevor Murei einschlief, sah er hinein, er konnte die Buchstaben nicht lesen, aber sie waren so wunderbar gemalt, oft mit Gold unterlegt, darin kleine Engel schwebten und Blumen- ranken darum, dass es eine Lust war, sie anzusehen.
Am nächsten Tage nun sah er, dass der Mann ein Bäcker war. Murei half ihm, den Teig zubereiten. Der Mann war sehr schweigsam, man sah, dass ihn etwas drückte. Er kostete oft von dem Teig und schüttelte unmutig den Kopf.
„Es fehlt etwas in den Printen“, sagte er am Mittag zu seiner Frau, „es müsste noch etwas Besonderes hinein, aber ich habe alles versucht, ich weiß nichts mehr.“
„Der Ratsherr wird schon zufrieden sein“, sagte die junge Frau, „und zudem bei seiner eigenen Hochzeit wird er am wenigsten an die Printen denken. Vielleicht wird er noch nicht einmal merken, dass es ein ganz neues und besonderes Gebäck ist. Bis Weihnachten hast du ja noch Zeit, da wird uns schon etwas einfallen.“
Der Bäcker hatte auch eine kleine Tochter, die der Mutter an Schönheit nicht nachstand, aber so schlicht und lieb war, dass Murei sie sofort in sein Herz schloss. Sie erinnerte ihn ein wenig an die kleine Tanja.
An den langen Abenden spielte Murei auf seiner Flöte, und die Kleine saß vertraulich neben ihm. Murei erzählte nun Märchen, wenn es ernst und traurig war, liefen Tränen über die kleinen Wangen, und war es fröhlich, so klatschte sie in die Hände und lachte. Das war ein so feines und silberhelles Lachen, dass Mureis nachtdunkle Augen aufschimmerten, sie waren dann nicht mehr mit Samt zu vergleichen, sondern mit einer schweren glänzenden Seide.
Wenn der Wind dann durch den Kamin sauste, schmiegte sich die Kleine an ihn, und er streichelte über ihr dunkles Haar. So ging es immer näher auf Weihnachten zu.
„Ich weiß nicht“, sagte der Bäcker zu seiner Frau, „in Mureis Zimmer ist ein so wunderlicher Duft, ich könnte dauernd meine Nase hineinstecken, so schön finde ich das. Du müsstest doch einmal nachsehen, was er in seinem Bündel hat.“ Die Frau wollte es nicht. „Das geht uns gar nichts an!“ sagte sie. Als sie einmal ganz alleine im Hause war, dachte sie: „Ob ich nicht einmal nachsehen soll? Schließlich ist er doch wie unser eigenes Kind.“
Da fand sie nun die Kräutlein aus dem Garten seiner Mutter. Und da kam ihr ein sonderbarer Gedanke. Sie nahm die Kräuter mit in die Küche, zerschnitt sie in winzige Stückchen und mischte sie unter den Printenteig, der fertig und zubereitet in Kübeln stand. Mit großer Freude sog sie am frühen Morgen den Duft ein, der das ganze Haus von den frischgebackenen Printen erfüllte. „Wie ist denn das“, rief der Mann, „nun schmecken die Printen so, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Und sonderbarerweise schmecken sie nach dem Duft in Mureis Zimmer.“ Da erzählte die Frau, was sie gemacht hatte, und der Mann war glücklich und ganz gerührt über die Liebe und Klugheit seiner Frau.
Als sie nun Murei wecken wollten, war er verschwunden, auch das Bündelchen war fort. Die Frau weinte sehr, und der Mann zündete eine Laterne an, um Murei zu suchen, denn es war noch dunkel draußen.
Er ging durch die ganze Stadt, nirgendwo fand er Murei. So gelangte er auf den Lousberg, eine bewaldete Anhöhe ganz in der Nähe der Stadt. Er war ganz verzweifelt und dachte über vieles nach. Da fing es an zu schneien, zuerst nur ein paar tanzende dünne Flocken, aber dann wurde der Schnee immer dichter, so dass kein Weg mehr zu erkennen war. Der Mann war schon ganz mutlos, er stolperte über einen kleinen Hügel, jedoch beim näheren Hinsehen bemerkte er, dass es Murei war. Seine Gestalt war fast völlig eingeschneit. Der Mann nahm den Knaben in seine Arme und trug ihn nach Hause. Dort legten sie Murei in ein großes geschnitztes Bett und deckten ihn sorgfältig zu, doch Murei erwachte nicht. Er lag ganz still da, die großen Augen waren fest geschlossen. Das kleine Mädchen saß stumm vor seinem Bett und rührte sich nicht, es wollte weder essen noch trinken und blickte unverwandt in sein trauriges Gesicht. Die Mutter bemühte sich sehr um Murei, doch er erwachte nicht.
Es ging immer näher auf Weihnachten zu. In der Stadt herrschte ein fröhliches Treiben. Der junge Ratsherr hielt Hochzeit, und er war so glücklich, dass er Fässer Wein unter die Leute verteilte. Eine Menge von Kindern stand vor dem Rathaus und sang. Als der Ratsherr und seine Braut von den Printen kosteten, sahen sie einander verwundert an. „Hast du schon so etwas gegessen?“ fragte er. Die Braut schüttelte den Kopf. „So etwas Feines noch nicht“, antwortete sie, „wer hat das gebacken?“ „Unser lieber Aachener Bäcker“, sagte der Ratsherr, „aber solche Printen hat er noch nie gebacken, sie schmecken so eigenartig. Weißt du, ich war einmal sehr weit fort von hier, in einem Land, wo immer die Sonne scheint. Daran erinnert mich das seltsame Gebäck; wüsste ich nur, woher das kommt?“
Darauf nahm er einen großen Korb Printen, ging an das Fenster, öffnete es und stülpte den Korb um, gerade dort, wo die
Kinder standen. Die verteilten die Printen untereinander und liefen singend nach Hause. Am Abend sprach man überall von den neuen Printen. Der Ratsherr übersandte dem Bäckermeister zum Dank zwei wunderschöne weiße Schimmel mit einem Wagen aus Silber. Die kleinen Fenster waren mit schmalen Goldstreifen abgesetzt, die von leuchtenden Perlen übersät waren. Doch der Bäcker blieb traurig, denn Murei schlief immer noch, und die junge Frau schlich mit verweinten Augen durch das Haus. Das kleine Mädchen saß auf der Bettkante und hielt des Knaben Hände ganz fest, als müsse er dadurch erwachen.
Da begannen die Glocken des Domes zu läuten, sehr laut und feierlich.
Die Frau nahm sich ein Herz, sie griff nach ihrem Gebetbuch und einer schönen Wachskerze und ging in die Kirche. Der Mann folgte ihr schweigend. Das Geläute der Glocken wurde immer mächtiger, fast erbebten die kleinen Häuser davon, und die Fenster klirrten ein wenig, gerade, als wenn sie sich mitfreuten.
Da geschah es, dass Murei die Augen aufschlug. Er sah zuerst in die veilchenblauen Augen des Mädchens. Murei lächelte.
„Hab ich so lange geschlafen?“ fragte er, denn er erinnerte sich an nichts mehr. Da erzählte ihm das kleine Mädchen alles, was geschehen war, und Murei hörte aufmerksam zu. Er richtete sich in seinem Bett auf und sagte: „So hat meine liebe Mutter es doch gut mit mir gemeint. Ich dachte schon, sie hätte mich verlassen, da ihre Kräutlein plötzlich in dem Bündel fehlten. Aber was ist es so dunkel hier, willst du nicht die Vorhänge vor den Fenstern ein wenig zurückziehen?“ Das Mädchen sprang auf Lind schob das schwere blaue Tuch von den Scheiben.
Zur gleichen Zeit fing es draußen an zu schneien. Mureis Hände zitterten, er sah verwundert in die weiße Welt hinaus. „Schnee“, – sagte er leise, „das ist der Schnee!“
Das Mädchen nickte. „Der Schnee ist schön“, sagte es sinnend, „aber sag mal, Murei, was ist eigentlich Schnee?“
Der Knabe überlegte und sprach: „Blüten sind es, lauter kleine Blüten.“ „Blüten?“ flüsterte das Mädchen. „Mutter sagt, es sind Sterne.“
Wenn es Blüten sind, fallen sie wohl aus dem Himmelsgarten,
wenn es dort Frühling ist, und dann erfrieren sie in der Luft und werden so, wie sie jetzt sind. Schön, dass sie aus dem Himmel zu uns kommen!“
Da öffnete sich die Tür, und die Eltern traten in die Stube. Sie waren sehr glücklich, als sie die beiden so fröhlich vor sich sahen. Sie setzten sich zu ihnen und erzählten von dem silbernen Wagen mit den weißen Pferden. In diesem Wagen sollte Murei jedes Jahr in seine Heimat fahren und ihn ganz mit den Kräutlein aus seiner Mutter Garten füllen.
Der Knabe freute sich darüber sehr, und das Mädchen fragte:
„Nimmst du mich denn mit?“ Murei nickte. „Du musst es mir versprechen!“ rief das Mädchen.
Murei öffnete sein Bündelchen, nahm die kleine, geschnitzte Puppe heraus und legte sie in die Arme des Mädchens.
„Das will ich dir schenken“, sagte er, „wenn du wirklich glaubst, dass ich dich mitnehme!“
Der sanfte Blick des Mädchens wurde ganz tief und klar.
„Ach wie schön“, sagte es, „die Puppe hat deine Augen.“ – Darauf ging es hinaus, und kurz hernach hörte man draußen ihr helles Stimmchen.
Murei sah draußen vor dem Fenster den silbernen Wagen stehen.
Auf dem ersten Schimmel saß das Mädchen. Es hatte die Puppe in ein Stück gelbe Seide eingeschlagen, aber das Stück war viel zu lang und hing bis auf den Boden hernieder, schräg über ihr hellblaues Kleidchen, das am Rande mit einer zarten hellroten Ranke bestickt war. Die weißen Schneeflocken tanzten durch die Luft, dass es fast wie schwebende Blüten aussah.
Da schloss der Knabe einen Augenblick lang die Augen, um das, was er sah, festzuhalten. Und er bewahrte es sein Leben lang wie eine kleine Kostbarkeit in seinem Herzen.
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