In einem kleinen Haus, das wohl eine Viertelstunde abseits von dem übrigen Dorf auf der halben Berghöhe lag, wohnte mit seinem alten Vater ein junger Bauer namens Jörg. Es gehörten zu dem Haus soviel Acker und Feld, dass beide keine Sorgen hatten. Gleich hinter dem Haus fing der Wald an, mit Eichen und Buchen und so alt, dass die Enkelkinder von denen. die sie gepflanzt hatten, schon seit mehr als hundert Jahren tot waren. Vor dem Haus lag ein alter, zerbrochener Mühlstein – wer weiß, wie er dahin gekommen war. Wer sich auf ihn setzte, der hatte eine wunderschöne Aussicht hinab ins Tal, auf den Fluss, der das Tal durchströmte, und die Berge, die jenseits des Flusses aufstiegen. Hier saß der Jörg am Abend, wenn er seine Arbeit auf dem Feld getan hatte, den Kopf auf die Hände und die Ellbogen auf die Knie gestützt, oft stundenlang und träumte Und weil er sich wenig um die Leute im Dorf kümmerte und meist still und in sich gekehrt einherging wie einer, der an allerhand denkt, nannten ihn die Leute spöttisch den Traumjörg.
Je älter er wurde, desto stiller wurde er noch. Als sein alter Vater starb und er ihn unter einer großen, alten Eiche begraben hatte, wurde er ganz still. Wenn er dann auf dem alten, zerbrochenen Mühlstein saß, was er jetzt noch viel häufiger tat als zuvor, und hinab in das herrliche Tal sah, wie die Abendnebel an dem einen Ende hereintraten und langsam an den Bergen hinwandelten, wie es dann dunkler wurde und dunkler, bis zuletzt der Mond und die Sterne in ihrer ganzen Herrlichkeit am Himmel heraufzogen, wurde ihm recht wunderbar ums Herz. Denn dann fingen die Wellen im Fluss zu singen an, zuerst ganz leise, bald aber deutlich vernehmbar, und sie sangen von den Bergen, von denen sie kamen, vom Meer, wohin sie wollten, und von den Nixen, die tief auf dem Grunde des Flusses wohnen. Dann begann auch der Wald zu rauschen, ganz anders wie ein gewöhnlicher Wald, und erzählte die wunderbarsten Dinge. Besonders der alte Eichbaum, der an seines Vaters Grab stand, der wusste noch viel mehr als die anderen Bäume. Die Sterne aber, die hoch am Himmel standen, flimmerten und zitterten, als ob sie es gar nicht mehr aushalten könnten, in den grünen Wald und in den blauen Fluss herabzufallen. Doch die Engel, von denen hinter jedem Stern einer steht, hielten sie fest und sagten: „Sterne, Sterne, macht keine Torheiten! Ihr seid ja viel zu alt dazu, viel tausend Jahre und noch mehr! Bleibt im Lande und seid zu frieden!“
Es war ein wunderbares Tal! Aber alles das sah und hörte nur der Traumjörg. Die Leute, die im Dorf wohnten, ahnten nichts davon, denn es waren ganz gewöhnliche Leute. Dann und wann schlugen sie einen von den alten Baumriesen um, zersägten und zerspellten ihn, und wenn sie eine hübsche Klafter aufgerichtet hatten, sprachen sie: „Nun können wir uns wieder eine Weile Kaffee kochen.“ Und im Fluss waschen sie ihre Wäsche. Das war ihnen sehr bequem. Von den Sternen aber, wenn sie so recht funkelten, sagten sie weiter nichts als: „Es wird heute Nacht recht kalt werden, wenn nur unsere Kartoffeln nicht einfrieren.“ Versuchte es einmal der Traumjörg, ihnen eine andere Meinung beizubringen, so lachten sie ihn aus. Es waren eben ganz gewöhnliche Menschen.
Als Jörg eines Tages wieder auf dem alten Mühlstein saß und bei sich bedachte, dass er doch auf der ganzen Welt mutterseelenallein sei, schlief er ein. Da träumte ihm, es hinge vom Himmel eine goldene Schaukel an zwei silbernen Seilen herab. Jedes Seil war an einem Stern befestigt. Auf der Schaukel aber saß eine reizende Prinzessin, die schaukelte sich so hoch, dass sie vom Himmel zur Erde herab- und von der Erde wieder zum Himmel hinaufflog. Jedes Mal, wenn die Schaukel bis an die Erde kam, klatschte die Prinzessin vor Freude in ihre Hände und warf ihm eine Rose zu. Aber plötzlich rissen die Seile, und die Schaukel mit der Prinzessin flog weit in den Himmel hinein, immer weiter, immer weiter, bis er sie zu letzt nicht mehr sehen konnte. Da wachte er auf, und als er sich umsah, lag neben ihm auf dem Mühlstein ein großer Strauß Rosen.
Am nächsten Tag schlief er wieder ein und träumte das gleiche, und beim Erwachen lagen wieder die Rosen da.
So ging es die ganze Woche hindurch. Da sagte sich Traumjörg, es müsse doch irgend etwas Wahres an dem Traum sein, weil er ihn immer wieder träumte. Er schloss sein Haus zu und machte sich auf, die Prinzessin zu suchen.
Nachdem er viele Tage gegangen war, erblickte er von weitem ein Land, wo die Wolken bis auf die Erde hingen. Er wanderte rüstig darauf zu, kam aber in einen großen Wald. Plötzlich hörte er hier ein ängstliches Stöhnen und Wimmern, und als er auf die Stelle zugegangen war, sah er einen ehrwürdigen Greis mit silbergrauem Bart auf der Erde liegen. Zwei hässliche, splitternackte Kerle knieten auf ihm und versuchten, ihn zu erwürgen. Da blickte er um sich, ob er nicht irgendeine Waffe fände, mit der er den Kerlen zu Leibe gehen könnte, und da er nichts fand, riss er in seiner Todesangst einen großen Baumast ab. Kaum jedoch hatte er diesen erfasst, da verwandelte er sich in seinen Händen in eine mächtige Hellebarde. Damit stürmte er auf die beiden Ungeheuer los und rannte sie ihnen durch den Leib, so dass sie mit Geheul den Alten losließen und fortsprangen.
Darauf hob er den ehrwürdigen Greis auf, tröstete ihn und fragte, war um ihn die beiden nackten Kerle hatten erwürgen wollen.
Da erzählte der Alte, er sei der König der Träume und aus Versehen etwas vom Wege ab in das Reich seines größten Feindes, des Königs der Wirklichkeit, gekommen. Sobald dies der König der Wirklichkeit bemerkt hatte, habe er ihm durch zwei Diener auflauern lassen, damit sie ihm den Garaus machten.
„Hast du denn dem König der Wirklichkeit etwas zuleide getan?“ fragte Traumjörg.
„Behüte Gott!“ versicherte der Alte. „Er wird überhaupt sehr leicht gegen andere ausfällig. Das liegt in seinem Charakter – und mich hasst er besonders.“ „Aber die Kerle, die dich erwürgen sollten, waren ja ganz nackt!“ warf Traumjörg ein.
„Jawohl“, sagte der König, „splitterfasernackt. Das ist so Mode im Lande der Wirklichkeit. Alle Leute gehen dort nackt, selbst der König, und schämen sich nicht. Es ist ein abscheuliches Volk! – Weil du mir nun aber das Leben gerettet hast, will ich mich dankbar gegen dich erweisen und dir mein Land zeigen. Es ist wohl das herrlichste der Welt, und die Träume sind meine Untertanen!“
Darauf ging der König der Träume voran, und Jörg folgte ihm. Als sie an die Stelle kamen, wo die Wolken auf die Erde hingen, wies der König auf eine Falltür, die so versteckt im Busch lag, dass sie gar nicht zu finden war, wenn man es nicht wusste. Er hob sie auf und führte seinen Begleiter fünfhundert Stufen hinab in eine hellerleuchtete Grotte, welche sich meilenweit in wunderbarer Pracht dahinzog. Es war unsagbar schön! Da waren Schlösser auf Inseln mitten in großen Seen, und die Inseln schwammen umher wie Schiffe. Wenn man in ein solches Schloss hineingehen wollte, brauchte man sich nur ans Ufer zu stellen und zu rufen:
„Schlösslein, Schlösslein, schwinun heran,
dass ich in dich ‚reingehn kann!“
Dann kam es von selbst an das Ufer. Aber es waren noch andere Schlösser da auf Wolken, die flogen langsam durch die Luft. Sprach man:
„Steig herab, mein Luftschlösslein,
dass ich kann in dich hinein!“,
so senkten sie sich langsam nieder. Außerdem waren noch Gärten da mit Blumen, die am Tag dufteten und in der Nacht leuchteten, schillernde Vögel, die Märchen erzählten,und eine Menge anderer, wunderbarer Dinge. Traumjörg konnte mit dem Staunen und Wundern gar nicht fertig werden.
„Nun will ich dir noch meine Untertanen, die Träume, zeigen“, sagte der König. „Ich habe deren drei Arten: gute Träume für die guten Menschen, böse Träume für die bösen und Traumkobolde, mit denen ich zu weilen Spaß treibe, denn ein König muss doch auch seinen Spaß haben.“
Zuerst führte er ihn also in eins der Schlösser, das eine so verzwickte Bauart hatte, dass es förmlich komisch aussah. „Hier wohnen die Traumkobolde“, sprach er, „kleines, übermütiges, schabernackiges Volk. Tut niemandem etwas zuleide, aber neckt gern.“
„Komm einmal her, Kleiner“, rief er darauf einem der Kobolde zu, „und sei einmal einen einzigen Augenblick ernsthaft.“ Dann fuhr er fort, zu Traumjörg gewandt: „Weißt du, was der Schelm tut, wenn ich ihm ein mal ausnahmsweise erlaube, auf die Erde hinaufzusteigen? Er läuft in das nächste Haus, holt den erstbesten Menschen, der gerade wunderschön schläft, aus den Federn, trägt ihn auf den Kirchturm und wirft ihn kopf über hinunter. Dann springt er eiligst die Turmtreppe hinab, so dass er unten eher ankommt, fängt ihn auf, trägt ihn wieder nach Haus und schmeißt ihn so ins Bett, dass es kracht und er davon aufwacht. Dann reibt sich der den Schlaf aus den Augen, sieht sich ganz verwundert um und spricht: ,Ei du lieber Gott, war’s mir doch gerade, als ob ich vom Kirchturm herabfiele. Es ist nur gut, dass ich nur geträumt habe.'“
„Das ist er?“ rief Traumjörg. „Siehst du, der ist auch schon einmal bei mir gewesen! Wenn er aber wieder kommt und ich erwische ihn, soll’s ihm schlecht gehen.“ Kaum hatte er dies gesagt, so sprang ein anderer Traumkobold unter dem Tisch hervor. Der sah fast aus wie ein kleiner Hund, denn er hatte ein ganz zottiges Wämslein an, und die Zunge streckte er auch heraus.
„Der ist auch nicht viel besser“, meinte der Traumkönig, „er bellt wie ein Hund, und dabei hat er Kräfte wie ein Riese. Wenn dann die Leute im Traum Angst bekommen, hält er sie an Händen und Füßen fest, damit sie nicht fort können.“
„Den kenne ich auch“, fiel Traumjörg ein. „Wenn man fort will, ist es einem, als ob man starr und steif wie ein Stück Holz wäre. Will man den Arm aufheben, geht es nicht, und will man die Beine rühren, geht es auch nicht. Manchmal aber ist’s kein Hund, sondern ein Bär oder ein Räuber oder sonst etwas Schlinunes.“ –
„Ich werde ihnen nie wieder erlauben, dich zu besuchen, Traumjörg“, beruhigte ihn der König. „Nun komm einmal zu den bösen Träumen, aber fürchte dich nicht, sie werden dir keinen Schaden zufügen. Sie sind nur für die bösen Menschen.“ Damit traten sie in einen ungeheuren Raum, der von einer hohen Mauer umgeben und mit einer gewaltigen Tür verschlossen war. Hier wimmelte es von gräulichen Gestalten und entsetzlichen Ungeheuern. Manche sahen halb wie Menschen, halb wie Tiere, manche ganz wie Tiere aus. Erschrocken wich Traumjörg bis an die eiserne Tür zurück Doch der König redete ihm freundlich zu und sprach: „Willst du dir nicht genauer besehen, was böse Menschen träumen?“ Und er winkte einem Traum, der zunächst stand, das war ein scheußlicher Riese, der hatte unter jedem Arm ein Mühlrad.
„Erzähle, was du heute nacht tun wirst!“ herrschte ihn der König an. Da zog das Ungeheuer den Kopf zwischen die Schultern und den Mund bis zu den Ohren, wackelte mit dem Rücken wie einer, der sich so recht freut, und sagte grinsend: „Ich gehe zum reichen Mann, der seinen Vater hungern ließ. Als der alte Mann sich eines Tages auf die steinerne Treppe vor dem Haus seines Sohnes gesetzt hatte und um Brot bat, kam der Sohn und sagte zum Gesinde: ,Jagt mir einmal den Hampelmann fort!‘ Da gehe ich nun nachts zu ihm und ziehe ihn zwischen den beiden Mühlrädern durch, bis alle seine Knochen hübsch kurz und klein gebrochen sind. Ist er dann so recht geschmeidig und zappelig geworden, so nehme ich ihn am Kragen, schüttle ihn und sage: ,Siehst du, wie hübsch du nun zappelst, du Hampelmann!‘ Dann wacht er auf, klappert mit den Zähnen und ruft: ,Frau, bring mir noch ein Deckbett, mich friert.‘ Und wenn er wieder ein geschlafen ist, mache ich’s noch einmal!“ Als Traumjürg das hörte, drängte er mit Gewalt zur Tür hinaus, den König nach sich ziehend, und rief: „Nicht einen Augenblick länger bleibe ich hier bei den bösen Träumen. Das ist ja entsetzlich.“ Und der König führte ihn nun in einen prächtigen Garten, in dem die Wege von Silber, die Beete von Gold und die Blumen von geschliffenen Edelsteinen waren. Hier gingen die guten Träume spazieren. Das erste, was er sah, war eine blasse, junge Frau, die hatte unter dem Arm eine Arche Noah und unter dem andern einen Baukasten.
„Wer ist denn das?“ fragte Traumjörg. „Die geht abends immer zu einem kleinen kranken Jungen, dem die Mutter gestorben ist. Am Tage ist er ganz allein, und niemand kümmert sich um ihn. Aber gegen Abend geht sie zu ihm, spielt mit ihm und bleibt die ganze Nacht. Er schläft immer schon sehr früh ein, darum geht sie auch so zeitig. Die anderen Träume gehen viel später. – Komm nur weiter, wenn du alles sehen willst, dann müssen wir uns sputen!“
Sie gingen nun tiefer in den Garten hinein, mitten unter die guten Träume. Es waren Männer, Frauen, Greise und Kinder, alle mit lieben und guten Gesichtern und in den schönsten Kleidern. In den Händen trugen viele von ihnen alle möglichen Dinge, die sich das Herz nur wünschen kann. – Auf einmal blieb Traumjörg stehen und schrie so laut auf, dass alle Träume sich umsahen.
„Was hast du denn?“ fragte der König.
„Da ist ja meine Prinzessin, die mir so oft erschienen ist und mir die Rosen geschenkt hat!“ rief Traumjörg voll Freude. „Freilich, freilich!“ erwiderte der König, „das ist sie. Nicht wahr, ich habe dir immer einen sehr hübschen Traum geschickt? Es ist beinahe der hübscheste, den ich habe.“
Da lief Traumjörg auf die Prinzessin zu, die gerade wieder auf ihrer kleinen goldenen Schaukel saß und sich schaukelte. Sobald sie ihn kommen sah, sprang sie herab und ihm gerade in die Arme. Er aber nahm sie an der Hand und führte sie zu einer goldenen Bank. Da setzten sich beide hin und erzählten einander, wie hübsch es sei, sich wieder zu sehen. Als sie damit fertig waren, fingen sie wieder von vorne an. Der König der Träume ging mittlerweile auf dem großen Weg. der schnurgerade durch den Garten führte, auf und ab, die Hände auf dem Rücken, und sah zuweilen nach der Uhr, weil Traumjörg und die Prinzessin immer noch nicht mit dem fertig waren, was sie sich zu erzählen hatten. Zuletzt ging er doch zu ihnen und sagte: „Kinder, nun ist es genug! Du, Traumjörg, hast noch weit nach Hause, und über Nacht kann ich dich nicht hier behalten, denn ich habe keine Betten, weil die Träume nicht schlafen, sondern nachts immer zu den Menschen auf die Erde gehen müssen. Du, Prinzesschen, du musst dich Fertigmachen. Zieh dich heute einmal ganz rosa an, und nachher komm zu mir, damit ich dir sage, wem du heute erscheinen und was du ihm sagen sollst.“
Als Traumjörg das hörte, wurde er auf einmal so mutig wie noch nie in seinem Leben. Er stand auf und sagte mit fester Stimme: ,.Herr König, von meiner Prinzessin lass‘ ich nie und nimmermehr Entweder Ihr müsst mich hier unten behalten oder Ihr müsst sie mir mit auf die Erde geben. Ich kann ohne sie nicht leben, dazu habe ich sie viel zu lieb.“ Dabei trat ihm in jedes Auge eine Träne, so groß wie eine Haselnuss.
„Aber Jörg, Jörg“, erwiderte der König, „es ist ja der allerhübscheste Traum, den ich habe! Doch du hast mir das Leben gerettet, so sei es denn. Nimm deine Prinzessin und steige mit ihr hinauf auf die Erde. Sobald du oben angelangt bist, nimm ihr den silbernen Schleier vom Kopf und wirf ihn mir durch die Falltür wieder herab. Dann wird deine Prinzessin von Fleisch und Blut wie ein anderes Menschenkind sein. Jetzt ist sie ja nur ein Traum!“
Da bedankte sich Traumjörg auf das herzlichste und sagte: „Lieber König, weil du nun einmal so überaus gut bist, so möchte ich wohl noch eine Bitte wagen. Sieh, eine Prinzessin habe ich nun, doch es fehlt mir das Königreich. Und eine Prinzessin ohne Königreich ist ganz unmöglich Kannst du mir nicht eins verschaffen, wenn es auch nur ein ganz kleines ist?“
Darauf antwortete der König: „Sichtbare Königreiche, Traumjörg, habe ich zwar nicht zu vergeben, aber unsichtbare. Davon sollst du eins haben, und zwar eins der größten und herrlichsten, die ich besitze.“
Da fragte Traumjörg, wie es mit den unsichtbaren Königreichen beschaffen wäre, doch der König bedeutete ihm, er würde das schon alles erfahren und sein blaues Wunder erleben, so schön und herrlich sei es mit den unsichtbaren Königreichen.
„Mit den gewöhnlichen, sichtbaren“, sagte er, „ist es doch zuweilen eine sehr unangenehme Sache. Zurn Beispiel: Du bist König in einem gewöhnlichen Königreich, und frühmorgens tritt der Minister an dein Bett und sagt: ,Majestät, ich brauche tausend Taler fürs Reich.‘ Darauf öffnest du die Staatskasse und findest nicht einen Heller darin! Was willst du dann anfangen? Oder ein anderes: Du bekommst Krieg und verlierst, und der andere König, der dich besiegt hat, heiratet deine Prinzessin, dich aber sperrt er in einen Turm. So etwas kann in einem unsichtbaren Reich nicht vorfallen!“
„Wenn wir es aber nicht sehen“, fragte Traumjörg, noch immer etwas betreten, „was kann uns dann unser Königreich nützen?“
„Du sonderbarer Mensch“, sagte der König darauf und hielt den Zeigefinger an die Stirn, „du und deine Prinzessin, ihr seht es schon. Ihr seht die Schlösser und Gärten, die Wiesen und Wälder, die zu dem Königreich gehören, wohl! Ihr wohnt darin, geht spazieren und könnt alles damit machen, was euch gefällt. Nur die anderen Leute sehen es nicht.“
Da war Traumjörg hoch erfreut, denn es war ihm schon etwas ängstlich geworden, ob die Leute im Dorf ihn nicht scheel ansehen würden, wenn er mit seiner Prinzessin nach Haus käme und König wäre. Er nahm sehr gerührt Abschied vom König der Träume, stieg mit der Prinzessin die fünfhundert Stufen hinauf, nahm ihr den silbernen Schleier vom Kopf und warf ihn hinunter. Darauf wollte er die Falltür zumachen, aber sie war sehr schwer. Er konnte sie nicht halten und ließ sie zufallen. Da gab es einen großen Krach, und es vergingen ihm auf einen Augenblick die Sinne. Als er wieder zu sich kam, saß er vor seinem Häuschen auf dem alten Mühlstein und neben ihm die Prinzessin. Sie war von Fleisch und Blut wie ein gewöhnliches Menschenkind. Sie hielt seine Hand, streichelte sie und sagte: „Du lieber, guter Mensch, du hast dich so lange nicht getraut, mir zu sagen, wie lieb du mich hast! Hast du dich denn vor mir gefürchtet?“
Und der Mond ging auf und beleuchtete den Fluss, die Wellen schlugen klingend ans Ufer, und der Wald rauschte. Doch sie saßen noch immer und schwatzten. Da war es plötzlich, als wenn eine kleine ganz schwarze Wolke vor den Mond träte, und auf einmal fiel etwas vor ihre Füße nieder wie ein großes zusammengelegtes Tuch. Dann leuchtete der Mond wieder in vollem Glanze. Sie hoben das Tuch auf und breiteten es auseinander Es war aber sehr fein und viele hundert Male zusammengelegt, so dass sie viel Zeit brauchten. Als sie es vollständig auseinandergefaltet hatten, sah es aus wie eine große Landkarte. In der Mitte zog sich ein Fluss hin, und zu beiden Seiten waren Städte, Wälder und Seen. Da merkten sie, dass es ein Königreich war, das ihnen der gute Traumkönig vom Himmel hatte herunterfallen lassen. Und als sie nun ihr kleines Häuschen besahen, war es zu einem wundervollen Schloss geworden, mit gläsernen Treppen, Wänden von Marmor, Tapeten aus Samt und spitzen Türmen mit blauen Schieferdächern. Da fassten sie sich an und gingen in das Schloss hinein, und als sie eintraten, waren schon die Untertanen versammelt und verneigten sich tief. Pauken und Trompeten erschollen, und Edelknaben gingen vor ihnen her und streuten Blumen. Da waren sie König und Königin.
Am anderen Morgen aber lief es wie ein Feuer durch das Dorf, dass der Traumjörg wiedergekommen sei und sich ein Frau mitgebracht habe. „Das wird auch was recht Gescheites sein“, sagten die Leute. „Ich habe sie heute früh gesehen“, fiel einer von den Bauern ins Wort, ,als ich in den Wald ging. Sie stand mit ihm vor der Tür. Es ist nichts Besonderes, eine ganz gewöhnliche Person, klein und schmächtig. Ziemlich ärmlich war sie angezogen. Wo soll’s denn am Ende auch herkommen! Er hat nichts, da wird sie wohl auch nichts haben!“
So schwatzten sie, die dummen Leute, denn sie konnten nicht sehen, dass es eine Prinzessin war. Und dass sich das Häuschen in ein großes, wundervolles Schloss verwandelt hatte, bemerkten sie in ihrer Einfalt auch nicht, denn es war eben ein unsichtbares Königreich, was dem Traumjörg vom Himmel herabgefallen war. Aus diesem Grunde kümmerte er sich auch nicht um die dummen Leute, sondern lebte in seinem Königreich mit seiner lieben Prinzessin herrlich und vergnügt. Und sie bekamen sechs Kinder, eins schöner als das andere. Das waren lauter Prinzen und Prinzessinnen. Niemand aber wusste es im Dorf, denn dort waren die Leute viel zu einfältig, um es zu sehen.
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