Hans-Christian Andersen
Es gab einmal ein altes Schloß mit morastigen Gräben und einer Zugbrücke. Sie war öfter aufgezogen wie hinabgelassen; nicht alle Gäste, die kommen, sind gut. Schießscharten und Löcher zogen sich unterm Dach entlang; durch die konnte man hinausschießen oder kochendes Wasser oder sogar geschmolzenes Blei auf den Feind herabschütten, wenn er zu nahe kam. Hoch waren die balkengedeckten Räume drinnen, und das war gut des vielen Rauches wegen, der aus dem Kaminfeuer hervorqualmte, das von nassen Holzklötzen unterhalten wurde. An der Wand hingen Bilder gepanzerter Männer und stolzer Frauen in schweren Kleidern. Die stolzeste von ihnen allen wandelte lebend im Schlosse umher; sie hieß Mette Mogens, sie war die Besitzerin des Schloßes.
Am Abend nahten Räuber; sie schlugen drei ihrer Leute tot, den Kettenhund ebenfalls, und darauf banden sie Fraun Mette mit der Hundekette an der Hundehütte fest, setzten sich selbst in die Halle und tranken den Wein aus ihrem Keller und all das gute Bier.
Frau Mette stand angebunden an der Hütte; sie konnte nicht einmal bellen.
Da kam ein junger Räuber; still hatte er sich hinabgeschlichen; es durfte nicht bemerkt werden, denn sonst hätten sie ihn erschlagen.
»Frau Mette Mogens!« sagte der Bursche, »kannst du dich dessen entsinnen, wie einst mein Vater zur Zeit deines Gatten auf dem hölzernen Pferde reiten mußte? Damals batest Du für ihn, wenn auch ohne Erfolg. Er sollte sich zum Krüppel sitzen. Aber du schlüpftest hinab, wie ich jetzt hinabgeschlüpft bin; selbst legtest du einen Stein unter jeden seiner Füße, um ihm einen Ruhepunkt zu verschaffen. Niemand sah es, oder sie stellten sich wenigstens alle, als ob sie es nicht sähen; warst du doch die junge, die gnädige Frau. Mein Vater hat es mir erzählt, und ich habe es in meinem Herzen bewahrt, aber nicht vergessen! Nun befreie ich Dich, Frau Mette Mogens!«
Darauf zogen sie Pferde aus dem Stalle und ritten in Regen und Sturm, um Freundeshilfe herbeizuholen.
»Das war eine reiche Bezahlung für den geringen Dienst, den ich dem Alten erwiesen habe!« sagte Mette Mogens.
»Was im Herzen bewahrt ruht, ist darum noch nicht vergessen!« erwiderte der junge Mann.
Die Räuber wurden gehängt.
In einsamer Gegend lag ein altes Schloß; noch heute liegt es da; es war nicht jenes der Frau Mette Mogens, es gehörte einem anderen hochadeligen Geschlechte.
Die Geschichte spielt in unserer Zeit. Die Sonne scheint auf die vergoldeten Spitzen des Turmes. Kleine waldige Inseln liegen wie Blumensträuße auf dem Wasser, und ringsum schwimmen wilde Schwäne. Im Garten wachsen Rosen; die Schloßfrau ist selbst das feinste Rosenblatt, das in Freude erglänzt, in der Freude über eine gute Tat. Nicht nach außen, nicht in die Welt hinein fällt der Freudenstrahl, sondern tief in die Herzen dringt er hinein; in ihnen ruht er wohlverwahrt, aber nicht vergessen.
Nun kommt sie vom Schlosse und geht nach dem Tagelöhnerhäuschen auf dem Felde. Darin wohnt ein armes gelähmtes Mädchen; das Fenster des kleinen Stübchens liegt nach Norden; nie scheint die Sonne hinein; sie kann nur ein Stückchen Feld überschauen, das durch den hohen Grabenrand abgeschlossen wird. Aber heute ist Sonnenschein darin, Gottes warme schöne Sonne scheint hinein, sie kommt von Süden her durch das neue Fenster, wo vorher nur Mauer war. Die Gelähmte sitzt im warmen Sonnenschein, sieht Wald und Meeresufer, die Welt ist ihr so groß und schön geworden, und zwar durch ein freundliches Wort der freundlichen Schloßfrau.
»Das Wort war so leicht, die Tat so klein!« sagte sie, »aber die Freude, die ich empfand, war unendlich groß und segenbringend!«
Und deshalb übt sie soviel Gutes, denkt an alle in den armen Häusern und in den reichen, wo es ja auch Betrübte gibt. Es ist im Verborgenen und im Geheimen geübt; aber von Gott ist es nicht vergessen.
Ein altes Patrizierhaus liegt in der großen geschäftigen Stadt. Darin gab es Stuben und Säle; in sie treten wir nicht hinein, wir bleiben in der Küche. Warm und hell ist es da, rein und sauber. Das kupferne Geschirr ist spiegelblank, der Tisch wie poliert, der Gußstein wie ein frisch gescheuertes Küchenbrett. Eine einzige Magd hat das alles getan und doch noch soviel Zeit gefunden, sich rein anzuziehen, als wollte sie in die Kirche gehen. Sie hat eine Schleife an der Haube, eine schwarze Schleife; das deutet auf Trauer. Sie hat ja aber niemand, für den sie Trauer anlegen könnte, weder Vater noch Mutter, weder Verwandte noch einen Bräutigam; sie ist eine arme Magd. Einmal war sie verlobt, das war mit einem armen Mann; sie liebten einander innig. Eines Tages kam er zu ihr.
»Wir haben beide nichts!« sagte er; » die reiche Witwe drüben im Keller hat warme Worte zu mir gesprochen; sie will mich in Wohlstand versetzen, aber du allein lebst in meinem Herzen. Wozu rätst du mir?«
»Zu dem, wovon du glaubst, daß es Dein Glück ist!« sagte das Mädchen. »Sei gut und freundlich gegen sie; sei aber eingedenk, daß wir uns von der Stunde an, wo wir uns trennen, nicht wieder sehen dürfen!«
Darauf vergingen ein paar Jahre; eines Tages begegnete sie auf der Straße ihrem früheren Freunde und Bräutigam; er sah krank und elend aus; so daß sie sich nicht enthalten konnte, ihn zu fragen: »Wie geht es Dir?«
»Über die Maßen gut und auskömmlich!« erwiderte er, »die Frau ist gut und brav, aber du erfüllst mein Herz. Ich habe einen schweren Kampf gekämpft, bald ist er zu Ende! Erst vor Gottes Thron sehen wir uns wieder.«
Eine Woche ist vergangen, da stand diesen Morgen in der Zeitung, daß er gestorben wäre; deshalb trägt das Mädchen Trauer. Sein einstiger Bräutigam ist, wie dort zu lesen steht, von Frau und drei Stiefkindern durch den Tod geschieden, das klingt, als ob da ein Sprung wäre; und doch ist das Metall rein.
Die schwarze Schleife deutet die Trauer an; des Mädchens Antlitz deutet sie noch mehr an; im Herzen ruht sie verborgen, wird aber nie vergessen!
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