Adele Schopenhauer

Es war einmal ein altes Haus, darin lebten drei alte Jungfern. Sie hatten ein kleines Auskommen, das sie durch Spitzenklöppeln und feines Nähen zu vermehren suchten. Es gelang ihnen auch nach Wunsch; denn sonntags siedete das Huhn im blanken Kupfertopfe und an hohen Festen wurde Kuchen gebacken und ein großer glänzendbrauner Kalbsbraten empfing ihren Bruder, den Vicarius zu Großhörschau, wenn er nach der Messe in die Stadt kam, um die drei Schwestern zu besuchen und sich einen guten Tag zu machen. Der Vicarius war ein kleines, trockenes, verhutzeltes Männchen, dem der gute Tag mein Tage zu nichts half; er hatte blassblaue Augen, die er jedes Mal zum Himmel aufschlug, wenn von Glück die Rede war, und dabei seufzte er so ganz erbärmlich tief, dass die alten Jungfern mäusestill wurden und sogar die Katze gleich aufhörte zu spinnen.

Eines Abends saßen die drei guten Weiberchen in später Dämmerung beisammen und erzählten sich allerlei von guten und bösen Zeiten. Der Bruder Vicarius war eben mit seinem Blendlaternchen davon und nach seinem ziemlich entlegenen Kirchspiele zurückgegangen. Er hatte heute wieder einmal so schwer geseufzt, dass der Haushund zu heulen angefangen und es einen Stein in der Erde hätte erbarmen müssen, geschweige drei alte gute Jungferchen.

„Ach!“ sagte Pinchen, die älteste der drei Schwestern, „ich wollte doch, Bruder Vicarius hätte sich verändert und die schwarze Bärbel zur Frau bekommen, anstatt dass er geistlicher Herr geworden ist! Er hat sich immer noch nicht zufrieden gegeben. Hast du ihn heute abend seufzen gehört, Anne Marie? Es lässt ihm wieder keine Ruh.“

„Ja, ja!“ erwiderte die gutmütige kleine Schwester – es war die jüngste und frischeste unter den Geschwistern –, indem sie, so gut es ihre etwas kurzen Beinchen gestatteten, das dunkelnde Gemach aufräumte, der Katze die Bratenreste reichte und das Feuer, das zu erlöschen drohte, zur hellen Flamme anschürte, „ja, ja! es drückt ihn immer noch und ist doch jetzt so ein sechzehn Jahr Gras darüber gewachsen. Es wäre mir auch recht gewesen, obschon es wiederum ein Glück ist, dass wir nun einen geweihten Führbitter haben auf Erden zu Unserer Lieben Frauen im Himmel, die uns und unsere Sünde vertreten mag!“ Und damit setzte sich die gute Alte, ganz abgemüdet, auf ein niederes Stühlchen am Kamin; denn damals gab es noch keine kleinen Öfen wie heutzutage, und die haushohen Kachelöfen fand man nur in Herbergen oder öffentlichen Gebäuden.

„Jesus Maria Joseph!“ fuhr die mittlere Schwester, eine hagere, lange Xanthippengestalt, dazwischen, „ihr hättet wohl gern die faule Strunze, die böse Ilse, niemand will sie, die Bärbel, hier als Schwägerin im Hause! An nichts glaubt sie, arbeiten mag sie nicht, aber kommandieren tut sie den lieben langen Tag – Anne Marie! so schlage doch Licht an, es ist ja ganz schummerlich! Das Feuer raucht auch wieder! Du kannst doch gar nichts ordentlich machen, und alle Minuten hat man bei dir das Nachsehen! Ja, die schwarze Bärbel, hübsch war sie, das muss wahr sein, aber keine Christin!“

„Ob es nur wahr ist“, fragte Pinchen, „sie soll von Apolda weggezogen sein, weil der Landreiter gestorben ist. Gelt, er war auch der neuen Lehre, die Gott uns fern halte, zugetan? Habt Ihr neulich wohl mit angehört, was der Pater Remigius erzählte? An Geister glauben sie da drinnen im Weimarischen, nicht so an Gespenster, arme Seelen, die umgehen, bis sie ins Fegfeuer kommen, sondern –“

„Was du für dummes Zeug schwatzest, Kind!“ murmelte Agathe. „Alle Seelen müssen ins Fegfeuer. Bist du heute in der Seelenmesse gewesen für den Handschuhmacher Jobst? Morgen muss die Anne Marie hingehen!“

„Jawohl, Gott sei seiner armen Seele gnädig! Aber alle Seelen bleiben doch nicht im Fegfeuer, bis sie zu unserm Herrn ins Paradies kommen. Weißt du es nicht mehr, Agathe, wie der Brauer, der seinen Gesellen erschlagen und ins Gebräu geworfen hatte, wie der sieben Nächte über den Kirchhof, die Magdalenengasse hinauf, mit dem Braukessel auf dem Kopfe – oder nein, statt des Kopfes auf den Schultern –“

„Unsinn!“ eiferte Agathe. „Alle Seelen kommen ins Fegfeuer, und übrigens glauben die da drinnen auch an Kobolde und Hausgeister – Naturgeister nannte es der Pater Remigius.“

„Höre ‚mal“, flüsterte die kleine Dicke, „ist’s denn auch ganz gewiss nichts damit, Pine? Ich bitte dich, Kind, schlag Licht an! Sieh nur den Schrein da in der Ecke, er sieht aus wie ein alter grauer Mann, der sich duckt. Es läuft mir immer kalt den Rücken hinab, wenn ich so was höre von Kobolden. Hat dich der Alp schon ‚mal gedrückt, Pine? Herr Jesus, was guckt denn über den Tellersims?“

„Narretei und kein Ende!“ brummte Agathe, „es ist meine alte Haube, ich habe sie über den Essigkrug gehängt!“

„Aber“, fragte immer noch etwas verschüchtert Schwester Pine, „glaubst du denn nicht an den bösen Blick und an Hexen? Und dann gibt es noch all die gräulichen Geschichten vom Gottseibeiuns, der sich in eine schöne Buhlerin verwandelt –“

„Ja, das ist etwas ganz anderes“, versicherte jene; „das muss jeder rechtgläubige Christ zugestehen, dass Satans Macht in den verschiedensten Gestalten dem armen Menschen nachzustellen die Kraft hat. Ich habe schon hundertmal bei mir selbst gedacht, ob die schwarze Bärbel dem Bruder Vicarius nicht so irgend etwas beigebracht hat, dass er so entsetzlich fest an ihr halten musste? So eine Art Tränkchen –“

„Um Gottes willen, Schwester! ich bitte dich, sieh! da in der Ecke, da wirbelt und schwirbelt ‚was, so niedrig an der Erde hin. Seht ihr nichts?“

„Was die Dirne einem das Leben sauer macht! Was in aller Heil’gen Namen soll ich denn sehen? Ich sehe deinen Spinnrocken, den du angelehnt hast, und des Bruders graugrüne Pantoffeln, die er vergessen hat. Hui! der wird sich ärgern! Das Wetter ist so rau genug, und der Regen schlägt schon seit einer Viertelstunde ans Fenster.“

„Ich halt’s nicht aus!“ rief aufspringend die Anne Marie. „Ihr mögt sagen, was ihr wollt, es bewegt und regt sich dort in der Ecke. Ihr glaubt nicht daran, aber es ist noch außer uns etwas Lebendes im Hause. Ach du mein Heiland! wenn es nur kein armer verdammter Geist ist, wenn es doch lieber so einer wäre vom stillen Volke, von dem die Christel sprach, so ein Hüttchen oder Gütchen, so ein Naturgeist, von denen der Pater erzählte.“

„Willst du schweigen!“ fuhren Agathe und Pine die Erschrockene an. „Du rufst uns das Übel noch ins Haus mit deinem Geschwätz. Satan kann jede Form annehmen und durch dein leichtsinniges Reden lockst du ihn, dich zu versuchen.“

In dem Augenblicke schlug die Vesperglocke an; die drei Schwestern verstummten, nahmen still jede ihr Gebetbüchlein und ihren Rosenkranz und begannen leise das Ave Maria zu flüstern. Sie waren aber nicht weit vorgeschritten im andächtigen Werke, als drei deutliche Schläge an die Haustür jemanden meldeten, der Einlass begehrte.

Nachdem die Schwestern eine Weile überlegt, wer es wohl sein könne, zu so unpassender Stunde bei solchem Wetter, und ob es überhaupt ratsam sei, zu öffnen, überwog die Neugier, und die jüngste und älteste trippelten hinunter, um aufzuschließen; Agathe

aber folgte bis zum Treppensims, von dem aus sie die Lampe hinabhielt, um den Schwestern zu leuchten.

Als die Tür geöffnet war, trat ein etwa vierzehnjähriges feines Dirnchen ein, das ein Paar pechschwarze Augen zu Schwester Agathe aufschlug und einen Knicks machte. Ehe sie aber noch die roten Lippen zur Anrede zu öffnen vermochte, hatten Anne Marie und Pinchen zugleich ausgerufen : „Bärbel, Bärbel! wie sie leibt und lebt!“

„Ach nein!“ sagte nun die Kleine, indem ihr plötzlich die dunkeln Augen tief unter Wasser standen, „ach nein, sie lebt leider gar nicht mehr, und ich bin nur ihre Tochter. Am Mittwoch, früh halb neun Uhr, haben wir sie begraben. Und weil sie mir so oft von ihrer Jugend und ihren Jungfer Basen und dem Herrn Vetter Vicarius erzählt hat – und weil ich so ganz mutterseelenallein bin auf der Welt“ – hier ging ihr die Stimme in zitterndes Schluchzen über –, „so bin ich hergekommen, um die Jungfer Basen zu bitten, dass sie sich meiner annehmen und mir raten, was ich anfangen soll.“ Und damit machte sie wieder einen kleinen Knicks.

Schon während ihrer ersten Worte war Agathe mit der Lampe die Treppe herabgekommen und stand jetzt, das zierliche Mädchenantlitz scharf beleuchtend, vor der Sprechenden. Mit dem magern Arm die Messinglampe hoch emporhaltend, sah sie wunderlich genug aus, und ihre Tiefgewordenen harten Züge bildeten einen herben Kontrast zu der Anmut des armen Kindes, dem das Wort auf den Lippen erstarb. Ein sehr genaues Examen, das sie sogleich über dasselbe ergehen ließ, brachte indes keine weitere Auskunft. Schön Bäschen wusste selbst nicht recht, was eigentlich sie hergetrieben; am meisten war es wohl die Angst vor den vielen seit den Altstädter Unruhen sich noch umhertreibenden Aufrührern und Malkontenten.

Nach des Vaters Tode, der als Lanzknecht in Mainz im kurfürstlichen Regiment gestanden, waren Mutter und Tochter von Dorf zu Dorf endlich nach Apolda gezogen, wo ihm eine Muhme lebte, auf deren Erbschaft und Beistand er sie hoffend zu verweisen pflegte, wenn es ihnen schlecht ging. Kaum aber hatten sie einige Monde daselbst zugebracht, so rührte die Base der Schlag: sie blieb tot auf dem Flecke, ohne ein Testament gemacht zu haben. Mutter und Tochter lebten von da an kümmerlich von ihrer Hände Arbeit, bis erstere erkrankte und nach wenigen Wochen auch starb.

Die durch stets erneute Religionskämpfe erzeugten Unruhen, die Drangsale, der ein ganz einsames Mädchen während derselben ausgesetzt war, rechtfertigten den Versuch des armen Kindes, die einzigen ihr noch übrig gebliebenen Verwandten aufzusuchen. dass hierbei die Form ihres nach des Vaters Tode allmählich der neuen Lehre sich zuneigenden Christentums irgend Einfluss haben könnte, fiel ihr gar nicht ein; waren es doch Blutsfreunde, zu denen sie zog.

Und dann hatte Marianne einen so fröhlichen Mut! Die Sonne schien ihr immer ins Herz. Sie kam sich wie eine Weitgereiste vor, denn sie kannte Weimar und Apolda! ja, sie hätte nur fünf Jahre früher geboren zu werden gebraucht, um gar das Licht der Welt zuerst in Mainz zu erblicken, wo der Vater in Diensten des Kurfürsten stand, als er die Mutter ehelichte. Darum hatte das Soldatenkind auch des Vaters Keckheit und Wanderlust geerbt; so reiste sie denn in Gottes Namen frischweg zu den alten Geschwistern nach Erfurt, ohne erst deshalb bei ihnen anzufragen; sie meinte, dort müsse alles gut werden, wenn sie auch nicht eigentlich sagen könne wie. Als aber Schwester Agathe mit der Messinglampe so dicht vor ihr stand und ihr so scharf ins Gesicht leuchtete, hätte sie fast lieber geweint, wenn sich’s nur geschickt hätte in Gegenwart der Jungfer Basen! Ein Glück war es, dass diese sie ausfragten; sie hätte ja wahrhaftig sonst gar nichts zu sagen gewusst.

Über all dem Erzählen und Plaudern war die Nacht weit vorgerückt; das Mädchen ward bei Schwester Pinchen untergebracht, und es wurde still im alten Hause.

Nur der Anne Marie, die zu Ehren einer Großtante mit dem neuen Ankömmling dieselben Namen führte, kam es heute minder still vor als sonst. Sie hätte gern geschlafen, denn am nächsten Morgen fing ihre Wirtschaftswoche an: aber sie hörte sich’s draußen fortbewegen. Das war das Holz am Herd – es klang wie leises Spalten desselben. Ich hab’s vergessen, dachte Anne Marie – jetzt hebt’s den Wassereimer – nun klingt’s gerade wie Schlösserputzen – oder es reibt auf dem Eichenschranke herum – jetzt ist’s am gewundenen Fuß der Truhe!

Sie stand leise auf und wagte es, durchs Schlüsselloch zu blinzeln, sah aber nichts als einen matten Lichtstreifen und huschte ängstlich zurück ins Bett.

Die Turmuhr schlug sechs. Erschrocken fuhr Anne Marie auf; sie hörte die Leute schon aus der Frühmesse kommen und eilte ins Wohnzimmer. O, wie wird Schwester Agathe schelten, das sie schon am Montag verschlafen! Aber wie sonderbar! da lag heute auch nicht das mindeste Stäubchen – es war ja wie schon gekehrt! Bänke, Stühle und Tisch glänzten im Morgenstrahl, als habe sie stundenlang an ihnen gebohnt und gerieben. Das kleine Holz musste gestern gar nicht alle geworden sein, es lag davon noch viel unterm Herd; und auch Wasser war da, und wie frisch und klar! Heute hatte ja Anne Marie auch nicht das mindeste zu tun, und Agathe lobte sie obendrein beim Frühstück, das alles so gar wohl geraten.

Die gute kleine Dicke dankte innerlich ihrem Herrn; sie hätte gern über den Zusammenhang nachgedacht, wenn das Nachdenken nur überhaupt ihre Sache gewesen wäre.

Nach dem Frühmahl hielten die Schwestern Rat und beschlossen, die Nichte bei sich zu behalten; denn, meinte Agathe, ich werde etwas alt und kann doch nicht mehr alles allein tun! Anne Marie und Pine dachten heimlich, dass sie doch wohl das meiste täten, sagten aber kein Wort.

So blieb nun Marianne, das frische Dorfröschen, als Hausgenossin im alten Hause und nahm den drei guten Schwestern jeden Tag ein Stück ihrer Arbeit ab: Treppe und Sims, Herd und Geschirr, Schränke und Tische glänzten vor Reinlichkeit, und doch hatte das Mädchen noch Zeit übrig. Sie tanzte und hüpfte den ganzen Tag im Hause umher, besuchte die Messe, begleitete, trotz seinen Seufzern, den Vetter Vicarius sonntags ein gut Stück Wegs und trug ihm die Laterne vor, wenn er abends heimging. Freilich nahm sie dann Nachbar Seilers Hans mit zu ihrem Schutz; der war ja aber ein Kind von fünf-zehn Jahren und diente dem Vater als Ladenbursche; und der Vicarius meinte wieder glücklich zu sein, wenn er mit den beiden fröhlichen Kindern so hinging, vergaß zu seufzen und träumte in seine schönen Jugendtage sich zurück.

Am lieblichsten war Marianne in der Abenddämmerung, wenn sie, den guten Alten zur Seite, auf einem Schemel saß und am Rocken Seide spann, was ihr die Mutter gelehrt, und dabei erzählte oder sang: dann war’s, als ob die Flamme im Kamin zu dem holden Kinde sich neige; das Feuer brannte so still und geräuschlos: es hörte zu; die Gläser auf dem Simse klangen leise mit – oder was konnte es anders sein, das so liebwehmütig drein tönte wie eine Harmonikabegleitung? Und dann erzählte sie vom stillen Volke – es ist nur ein Märchen, sagte sie, – das unterm Herd wohnt und leise flüstert und die kommenden Schicksale heimlich bespricht. Die Menschen hören’s wohl, meinen aber, es ist die Suppe, die da kocht; und dann erzählte sie weiter von ihren kleinen Hochzeiten und Kindtauffesten.

„Gott verzeih dir das sündige Geschwätz!“ fuhr Agathe auf. „Wie können denn verdammte Seelen das Sakrament entweihen?“ und sie bekreuzte sich.

„Sie entweihen es nicht, Base!“ versicherte Marianne; „aber es sind auch keine verdammten Seelen, Gott hat sie lieb wie uns, aber er hat ihnen andere Pflichten und eine andere Bahn gegeben als uns Menschen; und wenn in einem Hause ein Segen gesprochen wird und ein Mitglied desselben taufen, weihen, trauen oder begraben lässt, so schließen sich die kleinen Leute hinten dem Zuge an und warten an der Kirchtür, bis der Segen gesprochen wird, denn ein kleiner Teil desselben fließt auf sie nieder. Gottes Segen ist ja so überschwenglich, der reicht für uns alle aus! Das mit eingesegnete kleine Geisterkind aber gehört von da an mit zu dem Hause, dem es angeweiht worden, besonders zu der Person, die ihm den Segen verschafft hat: es dient ihr und liebt sie, solange sie lebt.“

„Alle gute Geister!“ sprach der Nachbar Seiler, der indes hinzugetreten war. „Wo hat die Dirne das alles her?“

„Ich weiß es wahrhaftig nicht, Meister Miller!“ erwiderte die Kleine ganz weinerlich; „es ist mir alles so mit einem Male eingefallen; es war gerade, als flüsterte mir’s jemand zu. Aber es ist doch wohl nur ein Märchen!“

„Wenn du doch lieber auf deinen Spinnrocken sehen möchtest“, brummte Base Agathe.

„Aber es ist alles abgesponnen!“ sagte das Mädchen. „Wenn ich erzähle, dann geht’s erst recht schnell!“

„Ach!“ meinte die dicke Anne Marie, „wenn ich mich nicht so fürchtete, hörte ich gern zu. Es muss hübsch sein mit so einem Gütchen!“

„O ja!“ versicherte Hans, der eben gekommen und nur das Warum vergessen hatte und also wartete, dass es ihm einfiele; „aber es gibt auch Poltergeister, das heißt böse Hausgeister, die werfen nachts alles übereinander, verraten der Hausfrau, wenn die Magd einen Schatz hat, saufen den Kindern die Milch, den Alten das Bier aus; – hu! die sind schauerlich. Unten in Gevatter Hirpels Weinkeller sitzt einer, der ächzt und stöhnt, dass mir’s, wenn ich nur daran denke, kalt den Rücken hinauffährt –“

„Das ist ein Schauder“, sagte Anne Marie, „von dem hab ich gehört, dass er aussieht wie eine Ratte und doch auch wie ein klein Kerlchen. Wenn die andern Geister Leute einängsten, läuft er ihnen mit den spindeldürren Beinchen über das Rückgrat und tritt sie mit den kleinen eiskalten Klauen – wir sagen: es läuft einem der Tod übers Grab!“

„Aber warum willst du so hässlich von den Kleinen denken?“ fragte Marianne. „Du und ich haben der Großtante Namen; wer weiß, wir könnten schon ein gemeinschaftlich Gütchen von ihr ererbt haben! und ich will meinen Hausgeist künftig in Ehren halten, ein Schälchen Milch ihm hinsetzen alle Abend und Weihnachten einen Stollen ihm backen: es freut ihn, wenn er auch nichts davon genießt.“

Als aber über dem Reden Schwester Agathe ernstlich böse ward, schwiegen die beiden.

Es war um die Weihnachtszeit herum, als Marianne einst beim Schlage Mitternacht erwachte; eine liebliche Musik, so dünkte es sie, hatte sie erweckt. Der Mond schien durch die eingeschnittene Lilie des Fensterladens und legte seinen breiten Lichtstreif auf ihr Bett; am Ende desselben stand eine kleine graue Gestalt, deren Züge sie im Halbdunkel nicht zu unterscheiden vermochte. Als sie aufschreiend in die Höhe fuhr, war alles verschwunden. Das Glockenspiel vom Turme wiederholte die Melodie, die sie wach gerufen, doch in Tönen, die sie nie vorher gehört und die endlich, leise und leiser verklingend, ihre Gedanken wieder in Schlaf wiegten.

Am nächsten Morgen fiel ihr mit einem Male ein, dass heute ihr Geburtstag sei. O weh! mir wird niemand etwas schenken! seufzte sie, und zwei helle Tränen rollten in das Bettstroh, das sie eben umschüttelte. Die klaren Tropfen fielen auf den dunkeln Purpur eines Gegenstandes in der Streu, den sie nie vorher bemerkt. Sie zog ein Juwelenkap-

selchen hervor; es war altmodisch, mit Silber beschlagen und verschlossen. Marianne drückte versuchend am Schlosse hin und her: es sprang auf und eine wunderschöne Halskette von hellroten Karfunkeln und zwei Ohrenspangen blitzten ihr entgegen. Der Schmuck war in Silber und Gold gefasst; als sie am Schlosshäkchen nestelte, bemerkte sie ihren eigenen Namen, Marianne, und den richtigen Datum, nur die Jahreszahl darunter war um volle hundert Jahre älter, sie las 1423.

Die hat unserer Großtante angehört, sagte sie leise und nachdenklich – und so haben wir wohl auch denselben Geburtstag! Und plötzlich fing sie wieder an, gar herzlich zu lachen, und lachte, lachte in einem fort, bis ihr die hellen Tränen in den Äuglein standen. Und, kicherte sie, wir haben auch ein Hüttchen oder Gütchen, die Großtante und ich, und das graue Männchen, das diese Nacht an meinem Bette stand, hat mir den Schmuck gebracht. Schön Dank! sagte sie, immer noch lachend, und machte wieder ihren kleinen Knicks, dann aber lief sie geschwind, es den Jungfer Basen zu erzählen.

Die Basen trauten ihren Ohren kaum; sie wurden ganz still, und Pinchen ward ausgeschickt, um den Bruder Vicarius zu holen; Agathe aber bekreuzte sich.

Das Geheimnisvolle und Wunderbare des Geschenks regte Marianne unbeschreiblich auf. Sie vermied, weiter davon zu reden, aber das Geisterhafte des Ereignisses wirkte fort in ihr.

Spätabends schlich sie in das Wohnzimmer zurück und stellte dem Gütchen Semmel und Milch hin; am nächsten Morgen war beides verschwunden, nur ein Rosmarinstängel lag an der Stelle. „Von Seilers Hans!“ meinte Pinchen, aber Marianne wusste das besser.

Und wirklich schien ein zartes Band das holde Kind einer höhern Welt zu verbinden; das ganz seltsame Gelingen in all ihrem Tun fesselte selbst des Seilers scharfe Zunge und zog alle nähern Freunde des alten Hauses und seiner Einwohner unwiderstehlich zu ihr hin; und sogar fern stehende Bekannte wandten sich in kleinen Verlegenheiten gern an die hübsche Dirne, die immer half, immer das rechte Wort, den besten Rat und Handgriff hatte; dem kranken Kinde, der nicht milchgebenden Kuh brachte das Mädchen nach kurzem Besinnen Hülfe, und wohin sie die weißen Finger steckte, fassten sie das Glück.

„Sie findet Gnade bei Gott und Menschen!“ sagte seufzend der Vicarius. „Auch bei Euch, Oheim!“ ergänzte lachend die Kleine – und hatte Recht.

Indessen war es dem Bruder Vicarius seit Auffindung des alten Familienschmucks sehr bedenklich ums Herz. In seines Ältervaters Messbuche stand wirklich der darauf angegebene Geburtstag der Großtante angemerkt, die aus Liebesgram früh gestorben. Der Schmuck – dessen konnte er selbst sich noch aus der Kinderzeit erinnern – war in der Familie der Nibelungenhort, der verlorene Schatz, gewesen; Großvater, Großmutter und sogar die Eltern hatten oft davon erzählt. – Ein Goldschmied, dem der Vicarius jetzt den einen Ohrenreif gezeigt, hatte einen großen Wert desselben angegeben. Seitdem brannte die rote Sammetkapsel dem frommen Vicarius in der Tasche, und die Karfunkeln blitzten ihn an wie feurige Teufelszungen, die nach seiner Seele lechzten. Er kämpfte lange und schwer mit sich, ob er der Kleinen nicht sogleich den Schmuck abnehmen solle, um sie vom Versucher zu erlösen. Nein, sagte er endlich, leise im Zimmer auf und ab gehend und fast unhörbar auftretend, als wolle er niemanden stören, sie soll das gute Werk selbst tun, den Mammon opfern und dafür ein Kirchlein bauen zu Ehren der Mutter Gottes mit dem Schwert im Herzen; darin wollen wir beten für die Seele der Großtante und für die ihrer Mutter, die vielleicht doch glücklicher geworden wäre, wenn – da überkam ihn das Seufzen; er blickte ganz verschämt in eine Ecke und fing an, sein Brevier zu lesen.

Marianne ahnte gar nicht, was ihr bevorstand. Eine Stunde vor Christmetten schlich sie auf Strümpfen zurück in die Wohnstube, in deren Winkel ein Christkripplein gar schön aufgeputzt war zu Ehren des morgenden Festes. Seilers Hans, sie und noch ein Kind aus der Nachbarschaft wollten die anbetenden Hirten an demselben vorstellen; sie hatten ein schönes Lied einstudiert, und ihre mitgebrachten Opfergeschenke sollten die Bescherung abgeben, deren Gebrauch damals eben begann, für die Geschwister. Den ganzen Abend hindurch hatte sie aufgeputzt und geordnet, und nun trieb es sie nochmals zurück, nachzusehen, ob auch gewiss nichts fehle.

Als sie aber vom Gang aus durch ein daselbst angebrachtes Fensterlein in die Wohnstube schaute, fesselte ein nie vorher empfundenes grausendes Erstaunen sie an die Stelle. Atemlos blickte sie hinein: das ganze Zimmer war hell, obschon kein Licht darin brannte, und zu Füßen des Krippleins saß das nämliche graue Männchen, das ihr den Karfunkelschmuck gebracht. Es war noch jung und hatte doch schon alte Züge im Feingeschnittenen, nachdenklichen Gesicht; die zarten Hände waren wie Lilien anzusehen, und der grau bestiefelte vorgestreckte Fuß erschien fast kleiner als der ihre. Das Röckchen des Männchens schimmerte grauseltsamlich, er erinnerte an Wasser und an Spinngewebe; den Kopf deckte ein graues Hüttchen, das am Rock befestigt war und zurückgeworfen einer Kapuze glich. Die graue Gestalt saß auf der ersten Stufe des kleinen Aufbaues und flüsterte mit einem andern, doch grobem Gesellen seiner Gattung, der vor ihm stand und etwas Wurzelähnliches in den geschnörkelt schiefen Beinchen hatte; dieser trug einen braunen Rock, der, wie von Ratten angefressen, fetzenhaft um ihn herschlotterte, und eine Mütze von Rattenfell, an der man den Kopf des Tieres sah.

Während dieses heimlichen Zwiegesprächs fuhr plötzlich das Fenster schrillend auf, und mit einer Ladung schwirbelnder Schneeflocken huschte eine dritte, noch wunderlichere Gestalt ins Gemach und zu den andern hin. Es war eine Frau, deren ganzer Körper aus Schleiern zu bestehen schien, sogar das Gesicht schien bei jeder Bewegung überflort zu werden. Sie sprach in einem etwas singenden Tone, der an eine Glasharmonika erinnerte:

„Über Stock und Stein gesäuselt, Hin und her vom Wind gekreiselt, Komm ich, Nebelwitwe, ich. Ihr seid warm, hu! wie friert mich!

Mit Eisblumen hab ich die Fenster geschmückt, Den Hof, und den Stall, und den Brunnen beschickt, Eiszapfen am Dache ringsum aufgehangen, Den bellenden Hund und die Katz eingefangen; Hab mit meinen Schleiern die Treppen gefegt Und rings alle Reiser zu Bündeln gelegt; Die Milch angehaucht, dass sie morgen leicht rahmt; Die Blätter gehäufelt, auf dem Weg, den ihr kamt; Die Hefe gehoben, das Bier eingesegnet, Die Luke geschlossen, wo’s jüngst eingeregnet, Das Stroh wie von selbst um den Keller gehäuft Und das kleinste der Hälmchen aus dem Wege geschleift. Dann spann ich zu Ende den Flachs dort am Rocken Und wärmte das Öl, dass die Pendel nicht stocken

Und zeitig erwecken zur heiligen Mette Die schläfrigen Menschen im weichlichen Bette.

Ach! dürft ich hier weilen, mit ihnen verkehren, Sie schützen, beraten, sie schelten und lehren! Ich bin nur der Geist, der in stockfinstrer Nacht Das Haus, Hof und Brunn’n und die Schwelle bewacht!“

Der braune Bursche, der ihre Rede mit steigender Ungeduld angehört, fuhr nun heiser lachend dazwischen:

„Im Keller, im dunkeln, munkeln, Die Menschen schrecken, necken, Das ist mein Spiel und Ziel. Knacken, knurren, knarren, Heulen, fahren, scharren, In tiefen Spalten Verhalten, schalten, Und auf sie harren, Um sie zu narren, Mit Knistern und Flüstern, Den alten Geschwistern Ein Angst und Graus, Das lieb ich im Haus. Ihr esst vom Teller, Ich hock im Keller In stillem Grimme, Bloß eine Stimme. Wie eine Ratte in dunkler Falle – Ist’s noch nicht alle?“

Da aber richtete sich das kleine graue Gütchen auf und sah den wilden Wurzelmann stirnrunzelnd an. „Du Unhold!“ drohte es, „du weißt, dass du nur in dieser einen Stunde deine ehemalige Gestalt zeigen darfst; morgen bist du ja nur eine Stimme, ein ächzender Laut, ein knarrendes Tor, ein Echo im Keller – und heute verschwendest du dich an dem nutzlosen Ärger? Ich bitte euch, steht mir lieber beide zur Seite, helft mir mein Segensschwesterlein schirmen und behüten! Du, werte Nebelwittib, sprich mit der Frau Holle am Brunnen, dass auch sie uns beisteht, und du, wilder Bursch, schreck mir’s Jungfräulein nicht! Es ist’s wert auf alle Weise; es achtet uns Geister allerwege in Haus und Hof. Es hat gar eine gute Hand und zerbricht kein Band, das uns Geister an das alte Haus, an den alten Herd bindet. Mir setzt sie allabendlich Milch und Weck vor die Tür und ihr Aug tut mir nicht weh, und ihre Zunge reißt nicht an meinem Dasein hin und her; sie neckt, zerrt und quält mich nicht unnütz in den Tag hinein.“

„Ja, das ist wahr“, knarrte der Wurzelmann, „sie höhnt auch mich nicht, schimpft mich nicht; wenn ich murmele und ächze, schlägt sie still ein Kreuz, aber sie jagt mich nicht mit bösen Verwünschungen in mein Kellerloch zurück. „

„Sie tritt kein Hälmchen nieder und kein Käferlein tot auf meinen Wegen“, sprach die Nebelwitwe. „Sie freut sich, wenn ich ihr spinnen helfe, und braucht mich doch wenig, denn es ist gar ein dralles flinkes Ding!“

„Darum halten wir sie in Ehren!“

Und nun huschten alle drei zusammen und flüsterten heimlich weiter. Das Gespräch wurde unhörbar.

„Aber hüte dich!“ sagte endlich die Nebelwitwe, einen schneeweißen Zeigefinger in die Höhe hebend.

„Ja, ja! hüte du dich!“ grinste der Wurzelmann, „dass du nicht auch eine bloße Stimme wirst! Hi, hi, hi! eine Stimme im Kellerloch! Hi, hi, hi!“

Mariannen versagte der Atem; sie schloss die Augen, um nicht mehr zu sehen. Nach einer Weile ermannte sie sich und lief zurück in ihre Kammer. Eben schlug die erste Glocke an: „Christ ist geboren!“ und nun die zweite, nun die kunstreich geläutete Quint, und wie Engelstimmen noch einmal darüber die kleinen silbernen Campanellen, und mitten darin unterschied sie deutlich die eben gehörten drei Geisterstimmen, die ein Trio sangen: „Preis und Ehre dem Menschengebornen, dem Herrn!“

Mariannen brachen die Knie zusammen; sie betete still das Credo mit, da tönte ein leises, wie auf Luftwellen getragenes „Amen!“ in ihr Ohr – wie ein Hauch berührte etwas ihre Stirn – ihr schwanden die Sinne.

„Marianne! Mädchen! He, Marianne! Die Mette!“ klang es dazwischen; und der kleine Vicarius stand an der Türe und hinter ihm Schwester Agathe, die mit Mühe des guten Tages wegen das Schelten unterdrückte. Und alle begaben sich in die Kirche, und nach der Frühmette kamen die Freunde und Nachbarn, das Kripplein zu beschauen und den Morgenimbiss mit den Geschwistern zu teilen; und die Kinder sangen ihr Hirtenlied und übergaben ihre Geschenke; Mariannen aber war während des Singens beständig, als übertöne eine Oberstimme das Lied, wie vorhin die Campanelle das Glockengeläute.

„Liebes Kind!“ sagte am andern Morgen der Vicarius, „es ist ein heiliger Tag heute, gar geschickt zur frommen Überlegung und Besprechung. Nicht, als wollte ich dich schelten, nicht, als dächte ich dabei an mich“ – er seufzte –, „aber du hast ein wunderseltsamlich Glück gehabt, ein ängstlich Glück, das, hätte sich’s vor zwanzig Jahren ereignet“ – er seufzte sehr und sah nieder auf das Brevier in seiner Hand – es war aber, als habe er Mut gefunden in diesem Augenblick, denn plötzlich richtete er die blassblauen Augen ganz fest auf Mariannens rosiges Antlitz: „Weißt du es ganz gewiss“, fragte er mild, „dass dieser Schmuck“ – er nahm ihn vom Tische – „der nämliche ist, den die Großtante verloren, und nicht ein Afterbild, eine Versuchung des Bösen, die Gott zulässt, auf dass du sie überwindest?“

„Ich weiß wohl, Ohm!“ schluchzte die Kleine, „Ihr haltet mich des schönen Schmucks nicht wert.“

„Marianne!“ sagte der Vicarius, und ein heftiges Zittern überflog seine eckige Gestalt, „ich frage dich, ob du überzeugt bist, dass dies der nämliche Schmuck ist, den der Kurfürst der seligen Großtante an ihrem Geburtstage als Brautgeschmeide geschenkt und der plötzlich spurlos verschwunden war und bis jetzt es blieb – den du aber gefunden haben willst.“

„Oheim!“ flüsterte das Mädchen, „ich habe ihn gefunden.“

„Und du weißt nicht, wer ihn gebracht?“ Dem armen Vicarius schwindelte, er musste sich an die Lehne des Sessels halten.

„Ohm! was habe ich Euch getan?“

„Kind! Kind! ich frage, was hat man dir getan? Marianne, wie kam der Schmuck in deine Hand?“

„Oheim!“ erwiderte Marianne, sich stolz aufrichtend, „was ich gewiss weiß, habe ich Euch gesagt; was ich aber vermute, ist so erstaunlich, so träumerisch – ich weiß es nicht, ich fühl es nur hier in meinem Herzen.“

„Sprich!“ sagte der Vicarius, indem er seinen Rosenkranz hervorzog und die Augen niederschlug.

„Ich glaube, das Gütchen hat ihn irgendwo hergeholt und ihn mir geschenkt.“

„Alle guten Geister loben Gott!“

„In Ewigkeit, Amen!“ erwiderte Marianne.

Die kleine verhotzelte Gestalt des Vicarius schlotterte vor gewaltigem Zittern; er war von der unmittelbaren Gegenwart des Bösen überzeugt, der schon die Klauen nach dem ewigen Heil des geliebten Kindes ausstrecke – aber dennoch ermannte er sich und sprach mit lauter Stimme die Formel, die den Satan beschwört und austreibt. „Hebe dich weg, verfluchtes Höllenblendwerk!“ schloss er; „und du, meine Tochter, bitte die Vier-zehn Nothelfer um ihre Fürbitte, auf dass deiner armen jungen Seele kein Schade geschehe!“

Und mit gewaltiger Hand ergriff er das Mädchen und drückte sie nieder, dass sie auf die Knie fiel neben ihm; aber die Steine, die er hielt, blieben unverändert und das Mädchen sah, verwundert und erschreckt, bald auf ihn, bald auf den Schmuck, indem ihre blühenden Lippen die nur halb verstandenen lateinischen Worte wiederholten, die er ihr vorsprach.

„Gib den Mammon der Kirche, Marianne!“ sagte der Alte nach einer Weile; aber die Kleine schüttelte den Kopf und ihre Tränen flossen unaufhaltsam.

In demselben Augenblick schlug der schon mehre Male erwähnte Harmonikaton an beider Ohr; er klang stärker denn je vorher.

„Seht Ihr’s?“ sagte das Mädchen, „er gibt mir recht; gewiss, der Schmuck ist mir bestimmt!“

Da flog die Tür auf, und mit lautem Jammerton traten die drei Schwestern ins Zimmer; sie brachten die Scherben des großen Glaspokals, aus welchem der Vicarius bei feierlichen Gelegenheiten zu trinken pflegte, der plötzlich oben auf dem Tellersims in tausend Stücke zersprungen war. Die Realität überwog auch hier wie in den meisten menschlichen Dingen. Vor lauter Mutmaßen und Bedauern des Unglücks ward die wichtigere Frage vergessen.

Marianne schlich still davon mit ihrem Schmuck; als sie aber in ihr Kämmerlein trat, sagte sie: „Du hast es übel genommen, dass sie schlecht von dir dachten, Gütchen!“ – indem stand die kleine graue Gestalt vor ihr.

Marianne hatte oft versichert, dass sie bei seinem Anblick durchaus kein Grauen empfunden. Ein Paar tiefblaue Augen blickten aus dem feinen bleichen Gesichte so unbeschreiblich nah sie an, als müsse sie der Körper des Wesens berühren, dem sie angehörten – aber dennoch war nur Luft vor ihr. Der Graue legte den Zeigefinger auf die Lippen und sah sie wohl eine Minute schweigend an. Und obgleich er kein Wort gesprochen, wusste Marianne alles, was er meinte, und wusste es mit einer Gewissheit, wie nie ein armer Menschenblick sie zu geben vermag. Ja, Marianne wusste nun, dass sie nicht allein in der Welt war, dass ein liebendes schützendes Auge um sie sei und sie behüte; Marianne wusste, warum ihr das Leben so viel leichter ward als all den andern um sie; es war ihr aber auch ganz deutlich, dass dies zarte, von keinem Wort berührte Band, das einer Geisterwelt sie einte, durch kein Erwähnen je entweiht werden dürfe.

Sie trat einen halben Schritt zurück und legte die Hand auf ihr schlagendes Herz, – auch über ihre Lippen war kein Ton gekommen, aber es war ihr zumute, als habe sie dem Gütchen ein ewiges, unverbrüchliches Schweigen heilig gelobt.

Von da an gestaltete sich Mariannens Leben schön und schöner. Alle Morgen weckten sie liebliche Klänge, alle Abend wiegten sie sie ein. Alle ihre kleinen häuslichen Geschäfte förderte eine unsichtbare Hülfe; alle ihre kleinen Wünsche erfüllten sich wie von selbst. Ging sie in den Garten, bog sich ihr der Zweig entgegen, der die schönste Rose trug; die reifste und vollkommenste Frucht fiel ihr stets in die Hand. In der Kirche, Spinnstube, ja selbst auf den selten nur besuchten Wallspaziergängen, an jedem Lustorte, bei jedem Schauspiele, dem ihr junger Sinn sie zutrieb, bildete sich immer ein freier Raum für sie, sogar im dichtesten Menschengedränge; und kein Schatten von Gefahr, kein Krankheitshauch, kein Verlust berührte ihr sorglos frisches Sein. War’s ein Wunder, dass Marianne sich bald an die ihr jetzt täglich erscheinende Gestalt des grauen Männchens gewöhnte und alle Scheu, alle Furcht vor demselben schwand?

Nur wenn sie schlief, sprach das Gütchen im Traume zu ihr; am Tage begnügte es sich, plötzlich vor ihr aufzutauchen, wobei es nie verfehlte, ihr durch den auf die feinen Lippen gedrückten Finger Schweigen aufzuerlegen. Und Marianne schwieg; denn das Gespräch mit dem Oheim hatte sie verletzt. Vom Schmuck war auch vorläufig nicht mehr die Rede; der Vicarius hatte ihn Schwester Agathe übergeben, ohne jedoch von seinem frommen Plane abzustehen, dereinst ein Kirchlein aus dessen Erlös zu stiften – nur waren die Zeiten zu unruhig geworden und das Luthertum hob selbst im klosterreichen Erfurt sein ernst drohendes Antlitz. Der Vicarius betete und wartete still auf bessere Tage.

So vergingen ein paar Jahre. Da geschah es, dass des Seilers ältester Sohn, der als Geheimschreiber bei einem hochadeligen Herrn in Diensten stand, mit demselben nach Erfurt kam, Mariannen kennen lernte und sie sehr lieb gewann. Der Aufenthalt seines Gebieters in der Stadt dauerte einige Monate; der junge Mann besuchte während dieser Zeit das Haus der drei Schwestern sehr fleißig und erwarb bald ihre und des Bruders Vicarius Neigung durch sein sittsames und ehrenfestes Betragen. Von seiner Liebe sagte er freilich kein Wort; denn so verschieden er auch die Stunden seines Kommens wählte, er traf Mariannen nie allein. Und selbst als es ihm ein paar Mal nach langen Berechnungen gelang, das liebe Mädchen am frühen Morgen unter einem Vorwande noch beim Aufräumen der kleinen Wohnung zu überraschen, setzte sich immer ein sonderbares Etwas seinen Wünschen entgegen. Bald liefen plötzlich bei ganz gelindem Feuer alle Töpfe über, bald entstand draußen auf dem Flur ein furchtbares Gepolter, oder es riss wohl gar alle Fenster der Wohnstube zugleich auf; ein andermal brach das Teller-brett ohne alle sichtbare Veranlassung zusammen und der Lärm zog die drei alten Schwestern in ihren Schlafhauben und Nachtjacken, ja einmal sogar den Bruder Vicarius mit Blitzeseile ins Gemach.

So war denn der Johannistag herangekommen, an welchem ein großes Fest die Fürsten und den Adel in einem schönen Garten versammeln sollte, der auch den niedern Ständen geöffnet blieb. Marianne wünschte sehr, einem dort stattfindenden Umzuge und Schauspiel beizuwohnen, und da die Geschwister vom Meister Seiler dazu aufgefordert waren und noch andere Bekannte und Hausfreunde der kleinen Gesellschaft sich anschlossen, ward einmütig bestimmt, den Nachmittag dem Anschauen all dieser Herrlichkeiten zu widmen.

Marianne war schon früh auf, denn um elf Uhr sollte zu Mittag gegessen werden, damit den Frauen Zeit zum Putz verbleibe und dem Bruder Vicarius kein Abbruch an seiner

gewohnten Pflege geschehe, denn begleiten mochte der fromme Mann die Seinen nicht. Er wolle mit Philax das Haus hüten, meinte er.

Da fehlte plötzlich Philax, der treue, wachsame Haushund. Nach vielem Suchen fand man ihn tot an der Kellertür. Marianne brach in helle Tränen aus und wollte im ersten Schreck das Fest gar nicht besuchen; auch Pinchen, die sogleich für ihre Katze fürchtete, war aller Mut entfallen. Es ward ernstlich vom Aufgeben des ganzen Spaßes geredet, denn Bruder Vicarius musste ja nun das Haus verschließen, da der Hofwächter fehlte; doch brachte Seilers Hans durch Bitten das alles ins gleiche, und unter Tränen begaben sich die Schwestern an ihren Putztisch.

Aber, hilf Himmel! welch neues Ungewitter, als Schwester Agathe nach wenigen Minuten totenbleich mit ihrer zerrissenen Spitzenhaube ins Wohnzimmer zurückkehrte. Es war nicht zu begreifen, wer das kostbare, noch von ihrer Mutter ererbte Prachtstück so ganz unchristlich zerfetzt haben konnte – denn zerfetzt war es, das war unleugbar. Sogar Marianne gestand ihrer so geschickten Nadel kaum die Möglichkeit einer Heilung dieser Wunden zu.

Das arme Mädchen ward feuerrot. Hastig stürzte sie in ihre Kammer und warf, in Tränen aufgelöst, sich auf ihr Bettchen. Das alles bist du, Gütchen! schluchzte sie; ich habe wohl diese Nacht im Traum dein trauriges Gesicht gesehen, ich weiß ganz genau, wie du mir gesagt, ich solle nicht zum Fest! Und den armen Ludger, der sich so gefreut hat, mich zu begleiten, den kannst du vollends nicht leiden und gönnst ihm nichts! Aber ich sage dir’s, rief sie, rasch aufspringend und mit dem kleinen Fuß den Boden stampfend, – selbst wenn du mir meinen schönen Schmuck forttragen und noch soviel Unfug anrichten solltest – ich will zum Fest; und dass du mich nur verstehst, du kleiner Unhold: ich will und Ludger soll mich begleiten!

Ein klagender, zitternder Laut ergoss sich, wie auf Luftwellen widertönend, durchs ganze Gemach; dann ward alles ganz still und Marianne fuhr mit der Hand aufs Herz, als hätte sie Tränen gesehen, die sie erweckt. Still, sagte sie, selbst halb weinend, und morgen will ich wieder gut sein! und damit huschte sie hinüber zu den Geschwistern.

Aber am andern Morgen dachte Marianne nicht an das Gütchen; sie war ihm weder gut noch böse – sie war auch gar nicht von seinen Tönen erweckt worden, denn sie hatte ja gar nicht geschlafen! Draußen im Herrengarten, wohin das arme Hausgütchen ihr nicht folgen konnte, hatte es ihr der schöne Ludger gesagt, wie lieb er sie habe, und dass ihm sein Herr eine gute Geheimschreiberstelle im Rat verschaffen wolle, die ihren Mann nähre und dessen Frau noch dazu.

Marianne war ganz entsetzlich rot geworden, was sie aber erwidert – das wusste sie gar nicht; aber sie wusste, dass er diesen Morgen um zehn Uhr hinübergehen wolle nach Großhörschau zum Vicarius, um seine Worte anzubringen.

An diesem Vormittage musste Schwester Pinchen alles allein besorgen, Marianne brachte nichts zustande.

Gegen zwölf Uhr erschien der mit Schweiß bedeckte atemlose kleine Vicarius, um den Schwestern den Fall vorzulegen und das Mädchen darauf anzusehen, ob es denn wirklich eine Hausfrau vorstellen könne; ihm war sie immer noch das vierzehnjährige Kind. Aber freilich, freilich, seufzte er und sah die obere Gardinenfalbel an, freilich, ihre Mutter war auch eben sechzehn Jahre alt geworden, als – ich die heiligen Weihen empfing.

Schwester Agathe war außer sich über den Unsinn der Jugend; Schwester Pinchen weinte und wusste nicht warum; Schwester Anne Marie sagte ganz trocken: „Wenn sie ihn gern nimmt, kann ich mir’s recht hübsch denken, so eine blutjunge Frau Amtsschreiberin zu sein.“ – Und am Ende, nachdem Marianne ja gesagt und noch ganz unbe-

schreiblich viel röter geworden war als das erste Mal, kam um zwei Uhr der Freier und schied abends unter den Tränengüssen der Schwestern und den himmelanstürmenden Seufzern des Vicarius – als Mariannens Bräutigam.

Als Marianne später wie gewöhnlich ihr Zimmerchen betrat, lag das graue Männchen totenbleich, in sein Mäntelchen gewickelt, am Fußende ihres Bettes und hatte die Hut-kapuze über die Ohren gezogen. Es weinte, und sein Schluchzen klang grausig durch die Nacht. Zum ersten Male schauderte Mariannen vor seiner Nähe und sie dachte daran, dass sie nicht zu Bett zu gehen sich getraue, solange er da war. Zum ersten Mal kam ihr das Gütchen wie ein kleiner Mann vor. Es weinte leise fort und sah sie immerfort mit dem nämlichen wehmütigen Blicke an. Marianne setzte sich auf einen Schemel und lehnte das Haupt rückwärts an ihr Bett; von der gestrigen Nachtwache übermüdet, schlief sie endlich ein. Sogleich war ihr, als wachse das graue Männchen; es streckte und dehnte sich bis zur Größe eines etwa zwölfjährigen Knaben aus, dann ergriff es ihre Hand. „Marianne“, sprach das Gütchen, „ich kann nicht sterben vor Schmerz, aber wenn du Ludger heiratest, werde ich dich verlassen und sehr elend sein.“ Marianne schüttelte den Kopf im Schlafe. „Weißt du denn nicht“, fuhr es, immer leiser flüsternd, über sie hingebeugt fort, „dass ich dich mehr liebe als alles im Himmel und auf Erden? Weißt du nicht, dass uns derselbe Segen durch deine Geburtsstunde vereinigt und dass der Neugesprochene Segen dich von mir trennt, dich in ein anderes Haus führt, über das ich keine Gewalt habe? Marie! o Marie Anne!“ Dem Mädchen ward furchtbar beklommen, sie schrie im Schlaf: „Ludger! Ludger!“ und erwachte vom Tone ihrer Stimme. Alles war dunkel; sie glaubte geträumt zu haben und eilte zu Bett.

Aber der Traum schlang dennoch seine dunkeln Ranken immer wieder in die bunte heitere Gegenwart. Marianne fühlte sich bedrückt und hatte doch nicht den Mut, ihrem Bräutigam zu gestehen, was sie quäle. Im Hause aber war es plötzlich unheimlich geworden; nachts warf es die Türen, stöhnte und ächzte, wie in Sterbelauten; aller Segen schien aus der kleinen Hauswirtschaft gewichen; umsonst plagten sich die drei Schwestern den ganzen Tag; jedes Lieblingsgericht brannte an; immer war die Suppe versalzen, war der Flachs am Rocken zerzaust. Nachts klopfte es den Vicarius aus dem Schlafe oder legte mit Zentnerschwere der armen Marie sich auf die Brust.

„Wir haben einen Poltergeist!“ flüsterte die kleine Alte, und allabendlich beteten alle drei gegen den Versucher.

Da ergrimmte der Vicarius. „Es ist der Höllenschmuck, der uns all den Jammer ins Haus zieht. Lasst uns den Mammon opfern!“ Aber Marianne war nicht dieser Meinung. Ludger fragte sie nach dem Schmucke. „Sie hat ihn geerbt“, sagten ausweichend die Schwestern. Marianne schwieg. Die Kapsel ward geholt – die große Kostbarkeit des fürstlichen Schmucks machte den Geliebten erstarren. Auch er schwieg, aber ein düsterer Nebel breitete sich über seine Stirn – er fing an, Mariannen mit eifersüchtigem Blick zu bewachen. Es war um Frieden und Glück geschehen.

Das arme Mädchen litt unbeschreiblich. Am Tage ließ sich das Gütchen nicht mehr sehen, aber sie fühlte seine Nähe und sah es im Traum immer bleicher werden. Der Vicarius nahm in der Stille seine Beschwörungsformeln vor; Anne Marie besprengte das ganze Haus mit Weihwasser.

Ludger wünschte eine Erklärung von seiner Braut; sie selbst schien sie zu vermeiden. Sie fühlte, dass sie ihm ihr Verhältnis zum Gütchen nicht eingestehen könne; sie scheute sich, ihr Wort zu brechen, und fürchtete, Ludgern werde grauen vor ihr.

Eines Abends folgte er ihr auf den Flur – der nächste Sonntag war zu ihrer Trauung anberaumt –, Ludger ergriff ihren Arm, zog ihn an seine Brust und bat sie flehentlich, ihm

nichts zu verbergen, ihm zu sagen, woher der Schmuck, was sie beunruhige, warum seine Liebe sie nicht mehr glücklich mache.

Im Innersten zerrissen, war Marianne eben im Begriff, ihm alles zu sagen, da befiel sie plötzlich eine unerklärliche ungeheure Angst – die Knie brachen ihr zusammen und sie wäre zu Boden gesunken, hätte sie Ludger nicht in seinen Armen aufgefangen und mit tausend süßen Liebesworten ans Herz gedrückt. Da tat es hinter oder zwischen ihnen einen furchtbaren Fall; Marianne schaute, tödlich erschreckt, auf – ein Teil der Decke war eingestürzt, und aus Tür und Fenster des Wohnzimmers drang ein heftiger Rauch. „Feuer! Feuer!“ rief es in der Gasse. Beide eilten in das Gemach zurück; aber ach! schon brachen aus allen Ecken zwischen dem Holzgetäfel Flammen aus; das musste schon tagelang so still hingebrannt haben, nun war’s mit einem Male eine Feuersbrunst. Vorhänge, Betten, alles, alles ergriff das züngelnde tückische Element. Entsetzt eilten die alten Schwestern herbei; Nachbarn drangen von allen Seiten ein, um retten zu helfen; Wächter und Soldaten tobten umher; Pumpen und Eimer wurden geholt – vergebens! Das alte Haus brannte und brannte und ohne alles Geräusch – schauerlich still – brannte es aus bis auf die nackten, kalten Mauern, die am Morgen so starr die Geschwister anschauten wie das Skelett ihres Glücks, wie das Wrack all ihrer gesunkenen Hoffnungen.

Der arme kleine Vicarius stand ganz allein mitten im Schutt und schüttelte seufzend und traurig das Haupt. Da schlich Marianne leise hinzu und bat ihn, mit ihr in das teilweise noch erhaltene Hintergemach zu treten, das er selbst zu bewohnen pflegte, wenn er über Nacht in der Stadt blieb. Dort sank das arme gequälte Kind, mitten unter dem Geröll und den Brandspuren, in die Knie und beichtete nicht dem Ohm, nein, dem Geistlichen alles.

Der arme Mann war tief ergriffen und bewegt; sein strenger Glaube musste sie einer großen Schuld zeihen und ihr schwere Buße auferlegen, weil sie nicht sogleich in den Schutz der Kirche geflüchtet und dem Verkehr mit einem Wesen sich entzogen, das der Vicarius nur wie einen bösen Geist betrachten konnte und das ja, leider! nun wirklich zu einem solchen geworden war. Er legte also Mariannen auf, ihrem Verlobten alles zu gestehen. „Auch was ich außerdem noch über das arme Gütchen weiß, mag er erfahren!“ schluchzte Marianne; „denn ich weiß, dass der arme graue Geist für die Rache, die er an mir genommen, und für sein leidenschaftliches Übertreten der Gesetze, welche die Geisterwelt von der unsern trennen, schwer gestraft und auf Jahrhunderte zu einer bloßen Stimme, zum Echo seiner eigenen Qual geworden ist. Ihr aber, Ohm! mögt nur das Haus aufbauen und in Ruhe wieder bewohnen, grau Gütchen wird Euch nimmer stören, und ich will in ein Kloster gehen, für seine Erlösung zu beten.“

Mit dem Vorschlage, ins Kloster zu gehen, war der kleine Vicarius sehr zufrieden; er brachte auch sogleich den alten Plan zur Sprache, ein Kirchlein vom Erlös des Schmucks zu bauen. Aber ach! der Schmuck war verschwunden; und obgleich der Schutt und die ganze Brandstätte genau untersucht wurden, fand er sich nimmer und nimmermehr.

Aber etwas anderes und weit Köstlicheres fand sich: der Friede. Als Marianne ihrem Bräutigam alles gestanden und ihn gefragt hatte, ob es ihm nicht graue vor einem Mädchen, das mit Geschöpfen einer andern Welt verkehrt, als sie ihm sogar sein Wort zurückgeben wollte und ihm sagte, sie werde in ein Kloster gehen, um für ihn, für sich und das graue Gütchen zu beten, da schlang er beide Arme fest um sie und sprach Doktor Luthers schöne Worte aus: „Wir glauben all‘ an einen Gott!“ und versicherte sie, dass er nimmer von ihr lassen werde, und dass ihm sein hoher Gönner Geld zugesagt, mit wel-

chem er mit dem kleinen Vicarius gemeinschaftlich das alte Haus wieder aufbauen wolle; und wenn es fertig sei und stattlich und frisch sich wieder erhoben habe, dann solle Hochzeit sein, und sie alle würden dann glücklich darin sein wie sonst.

Und so geschah’s im Jahre 1526. Und am Hochzeitabend, als alle Gäste Glück wünschend das schöne Paar umringten, erhob sich leise, leise eine wunderliche Musik, wie noch kein Mensch je sie gehört, und man konnte nicht unterscheiden, waren es Sing-Stimmen oder Glockenlaute, die so überaus herrlich erschallten; aber allen, die es hörten, war zumut, als hätten die Töne geklungen wie Worte des Segens.

Und sie verklangen leise und immer leiser und schöner.

Das junge Ehepaar aber lebte noch lange froh und glücklich im wieder aufgerichteten alten Hause mit den alten Geschwistern. Vom Gütchen hat man nimmermehr etwas gehört.

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