Es war einmal ein armer Holzhauer, der hatte drei Töchter. Eine von ihnen blickte eines Tages aus dem Fenster, und da sah sie ein vorübergehender Landmann. Das Mädchen gefiel ihm so, dass er sich bei den Nachbarinnen erkundigte, ob sie noch unverheiratet wäre, und als er hörte, dass dem so sei, bat er sie, für ihn um das Mädchen zu werben. Der Vater war mit dem Antrag zufrieden und gab sie ihm.
Als nun das Mädchen in das Haus ihres Mannes kam, wie war da dieser glücklich! Er übergab ihr einen Schlüsselbund mit hundertundeinem Schlüssel und sagte zu ihr, sie könne hundert Zimmer öffnen, das hunderteinte aber dürfe sie nicht aufmachen; das sei auch nicht nötig, denn es wäre ganz leer. »Kurzum«, sprach er, »da der Schlüssel dir doch zu nichts nütze ist, so gib ihn mir lieber zurück!« Die junge Frau öffnete die hundert Zimmer und fand darin große Schätze. Als sie diese genügend angestaunt hatte, fragte sie sich, warum ihr wohl so große Reichtümer anvertraut worden wären, das eine Zimmer jedoch nicht. Sie gab nun acht, wo ihr Mann den Schlüssel für dieses Zimmer hinlegte, nahm ihn dann und öffnete das Zimmer. Sie sah sich darin um und sah nichts als vier leere Wände und ein Fenster, das auf die Straße ging. »Da seh‘ einer einmal meinen Mann!« sprach sie. »Wozu hat er wohl das Fenster auf die Straße hinaus? Damit ich aber nicht hinaussehe, hält er das Zimmer verschlossen.« Sie setzte sich also an das Fenster, hatte aber nicht lange gesessen, so sah sie eine Leiche vorüberkommen. Dieser folgten jedoch keine weinenden Anverwandten oder Freunde, so dass die junge Frau selbst zu weinen anfing bei dem Gedanken, dass es ihr auch so gehen könnte, wenn ihr Mann niemand von ihrer Familie zulassen würde. Als nun die Leiche beerdigt und die Leute fort waren, sah sie, wie ihr Mann auf den Begräbnisplatz kam und dort sein Kopf so groß wurde wie ein Scheffel, und in dem Kopf hatte er drei Augen, seine Hände wurden so lang, dass sie die ganze Welt zu umfassen schienen, mit ellenlangen Nägeln an den Fingern, und dann fing er an, den Leichnam auszugraben und zu verzehren. Bei diesem Anblick tat sie sich Gewalt an, bis sie die volle Gewissheit hatte, dass er ihn wirklich verzehrte; dann aber wurde sie von einem heftigen Fieberschauer ergriffen und musste sich zu Bett legen.
Nach längerer Zeit kehrte der Mann nach Hause zurück, ging seiner Gewohnheit nach in das verschlossene Zimmer, schaute sich um und bemerkte die Spur von Schritten und das geöffnete Fenster. Sogleich eilte er in das Zimmer seiner Frau und rief: »0 du Bestie! Du hast also wirklich das Zimmer geöffnet und erkannt, dass ich der Dreiauge bin! Nun kommst du mir nicht mehr lebendig aus meinen Händen, denn ich werde dich fressen. « Als die junge Frau sah, wie die Sache stand, verließ sie ihr Bett und machte sich zur Flucht bereit. Inzwischen ging Dreiauge in die Küche, machte ein großes Feuer an, nahm einen großen Bratspieß und rief seiner Frau zu: »Sei so gut und komm, denn der Bratspieß erwartet dich! Was soll ich tun, da ich nun einmal geschworen habe, dich auf diese Weise zu töten und zu verspeisen? Sonst hätte ich dich gleich so verschlungen.« – »Vergib mir, Herr«, antwortete sie, »ich gehöre dir ja noch zu jeder Zeit. Darum flehe ich dich an, lass mich noch zwei Stunden am Leben, bis ich Buße getan und gebetet habe; dann magst du mich verzehren.« Der Dreiauge genehmigte ihr die Bitte, und die junge Frau schlich sich leise weg, nahm den Schlüssel für jenes Zimmer, und nachdem sie es geöffnet hatte, sprang sie durch das Fenster auf die Straße hinunter. Dort lief sie immerfort, um jemand zu treffen, der sie rette, und so traf sie endlich einen Mann, der einen Karren schob, den flehte sie an, sich doch ihrer zu erbarmen und sie aus den Händen eines Dreiäugigen, der sie verfolgte, zu retten. »Wohin soll ich dich stecken, um dich zu retten, liebes Frauchen?« sagte der Karrenschieber. »Der Dreiäugige wird dich bei mir entdecken und mich mitsamt meinem Pferde auffressen. Aber laufe weiter, so wirst du einen Kameltreiber des Königs finden, der kann dich vielleicht retten.« Da lief sie denn aus Leibeskräften weiter, bis sie den Kameltreiber einholte, den sie ebenfalls um Rettung vor dem Dreiauge anflehte. Wirklich erbarmte er sich ihrer, nahm einen Ballen Baumwolle vom Kamel herab und versteckte sie darin.
Inzwischen hatte der Dreiäugige den Bratspieß gehörig glühend gemacht und rief: »He da, wo bist du? Komm her, es ist Zeit! « Da aber die Frau nicht kam, so suchte er sie überall, fand sie jedoch nirgends.
Endlich sah er das offene Fenster in dem bewussten Zimmer, da sprang er hinaus, wie er gerade stand und ging, und nachdem er sich rechts und links umgesehen hatte, lief er die Straße entlang. Als er den Karrenschieber erblickte, schrie er ihn an: »He da! Warte ein bisschen, ich will dich und dein Pferd auffressen.« Alle, die ihn unterwegs auf der Straße sahen, starben entweder vor Angst oder fielen in Ohnmacht. Der Karrenschieber aber hielt an, als er den Anruf des Dreiäugigen hörte. Dieser sagte dann zu ihm: »Hast du nicht eine junge Frau vorbeilaufen sehen?« – »So wahr Gott lebt, ich habe nichts gesehen, Herr«, antwortete jener. » Aber laufe weiter, so wirst du einen Kameltreiber treffen; vielleicht hat der sie gesehen.« Der Dreiäugige lief weiter, rief den Kameltreiber an und richtete an ihn die nämliche Frage. »Ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen«, antwortete der Treiber. Da kehrte der Dreiäugige wieder um und sagte: »Ich will doch noch einmal zu Hause ordentlich suchen.« Als er dort angelangt war und sie wieder nicht fand, überlegte er bei sich und sprach: »Ich will den glühenden Bratspieß mitnehmen und bei dem Kameltreiber noch einmal genaue Nachsuchung halten.« Er nahm daher den Bratspieß auf die Schulter, sprang wieder zum Fenster hinaus und rannte dem Kameltreiber nach. Dieser und die junge Frau waren vor Angst dem Tode nahe, aber sie ließen sich nichts anmerken. »Rasch«, befahl der Dreiauge dem Treiber, »lade unverzüglich alle Ballen ab!« Und der Mann musste gehorchen. Dann stieß der Dreiäugige den Bratspieß in einen Ballen nach dem andern, wobei er auch zu dem kam, in welchem seine Frau versteckt war. »Jetzt ist’s gut«, sprach er endlich, »nun kannst du weiterziehen.« Sobald er sich entfernt hatte, fragte der Kameltreiber die junge Frau, wie es ihr ergangen wäre und ob der Dreiäugige sie mit seinem Bratspieß getroffen hätte. »Freilich«, entgegnete sie, »er hat mich am Fuß ganz ordentlich verwundet, aber ich habe den Spieß mit Baumwolle abgewischt, so dass keine Blutspuren daran sichtbar waren.« – »Sorge dich nicht!« sagte der Treiber. »Der König ist ein guter Mann, und wenn ich dich zu ihm bringe, so wird er dich heilen lassen.«
Als der König von der Geschichte erfahren hatte, sprach er zu der jungen Frau. »Was fürchtest du, meine Liebe? In meinem Palast kann dir der Dreiäugige kein Leid zufügen.« Hierauf ließ er einen Arzt holen, der sie verband. Sobald sie wiederhergestellt war, bat sie, man möchte ihr eine Arbeit zuweisen, damit sie nicht müßig gehe. Auf die Frage, was sie denn verstünde, erwiderte sie, sie könne sticken. Man gab ihr ein Stück weißen Samt, Seide, Perlen und Goldfäden, und sie stickte ein herrliches Tuch, das den König auf seinem Throne und mit der Krone auf dem Haupte zeigte. Als sie mit der Arbeit fertig war und ihr Werk dem König zeigte, geriet er außer sich über die Kunst, mit der die Stickerei ausgeführt war. Nachdem die junge Frau noch mehrere Proben ihres außerordentlichen Könnens abgegeben hatte, sprach der König eines Tages zur Königin: »Eine bessere Schwiegertochter als diese junge Frau könnten wir schwerlich finden. Was macht es aus, dass sie nicht aus königlichem Geblüt ist? ist sie sonst doch so geschickt und verständig und so hübsch, dass sie auch unserm Sohn gefallen wird.« Die Königin war mit diesem Vorschlag einverstanden, und man ließ die junge Frau kommen, um ihr den Plan zu eröffnen. Sie jedoch fing an zu weinen und sprach: »Wie könnt ihr an so etwas denken? Mein Glück wäre zwar groß, aber wenn der Dreiäugige das hört, dann frisst er mich und euren Sohn auf. Wollt ihr aber trotzdem eure Absicht ausführen, so lasst einen sieben Treppen hohen Oberstock bauen, am Fuße eine Grube machen und diese dann mit einer Matte zudecken, auch alle Treppen mit Talg einschmieren. Endlich wäre es noch gut, wenn die Hochzeit ganz heimlich des Nachts gehalten würde, so dass niemand davon erführe. « Der König befahl, alles so zu richten. Obwohl sich die Vorbereitungen für die Hochzeit im geheimen vollzogen, erfuhr dennoch der Dreiäugige davon und beschloss, sich zu rächen. Als am Abend nach der Trauung alle zur Ruhe gingen, schlich er sich ins Zimmer der Braut, um sie zu holen und zu verschlingen. Er streute etwas Erde von einem Grabe auf das Bett des Prinzen, der der Gemahl der jungen Frau geworden war; nun konnte dieser nicht erwachen. Als die Frau den Dreiäugigen an ihrem Bette sah, stieß sie vergeblich ihren Gemahl an; der Dreiäugige aber packte sie und sagte: »Sei doch so gut und stehe auf, liebe Frau, der Bratspieß erwartet dich. Was soll ich machen, da ich einmal geschworen habe, dich gebraten zu verzehren? Sonst würde ich dich gleich hier auf der Stelle auffressen.« Hierauf nahm er sie bei der Hand und fing an, mit ihr die Treppen hinunterzusteigen. Als sie die ersten drei hinter sich hatten, sprach sie zu ihm: »Ich bitte dich, gehe voran, denn ich habe Furcht.« Er gab nach, damit sie kein Geräusch mache und die andern wecke, sonst hätte er sie gepackt. Als sie sich aber auf der untersten Treppe befanden, hielt sich die junge Frau mit der einen Hand an dem Geländer fest und gab zugleich mit der andern Hand dem Dreiäugigen einen solchen Stoß, dass er auf dem Talg ausglitt und in die Grube fiel, wo sich ein Löwe und ein Tiger befanden, die ihn auf der Stelle zerrissen. Die Furcht aber, welche die junge Frau in dem Augenblick empfand, wo sie ihm den Stoß versetzte – denn sie sprach zu sich selbst: »Wenn er nicht in die Grube gefallen ist, wird er gleich wieder heraufkommen und mich fressen!« -, hatte so auf sie gewirkt, dass sie ohnmächtig umsank. Als es nun Tag wurde und der König aufgestanden war, so wartete er, dass das junge Paar gleichfalls auf stünde; allein dies geschah nicht. Da sprach er zur Königin: »Ich will doch einmal nachsehen, was sie machen.« Er kam in das Schlafgemach und fand seinen Sohn scheinbar tot, die junge Frau ohnmächtig auf der Treppe. Der sogleich herbeigerufene Arzt brachte jedoch beide rasch wieder zur Besinnung. Nun erzählte die junge Frau, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Da ließ der König gleich in der Grube nachsehen, was aus dem Dreiäugigen geworden sei, aber der war von den wilden Tieren restlos auf gefressen. Nun erst wurde eine fröhliche Hochzeit gehalten, welche unter lautem Jubel vierzig Tage und ebenso viele Nächte dauerte und wo wir die Gäste gelassen haben, als wir hierherkamen.
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