Englisches Märchen
Wer von der Höhe der Zinnen von Nottingham, der festen Stadt, herabblickt, erkennt in der Ferne einen dunkelgrünen Waldstreifen. Das ist der Sherwood, der sich weit durch das englische Land zieht. Dort lebte zur Zeit des Königs Richard, den alles Volk wegen seines hochgemuten, tapferen Wesens „Löwenherz“ nannte, als Waldvogt Herr Hugh Fitzooth von Locksley. Er war ein Nachfahre der angelsächsischen Geschlechter, die einst mit ihren Drachenschiffen zur britischen Insel gestoßen waren und dort seither als Freisassen gelebt hatten. Als dann vor drei Menschenaltern die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer das Inselreich in ihre Gewalt gebracht hatten, waren die angestammten Sachsen gezwungen, sich der Befehlsgewalt der Normannen zu beugen, aber deren Herrschaft war verständnisvoll und milde gewesen, solange Richard Löwenherz sie ausübte. Er war gerecht und großherzig, und darum liebten ihn auch die Sachsen. Keiner der königlichen Statthalter, der Grafen und Barone, missbrauchte seine Gewalt, denn sie sahen sich von dem rechtlich denkenden König Richard überwacht. Das wussten die Sachsen dem Normannenkönig zu danken, und besonders hatte er ihre Zuneigung gewonnen, seit er ihnen die alten Rechte – vor allem das Jagdrecht – wiedergegeben hatte.
Doch nun war König Richard außer Landes, er machte einen Kreuzzug in das Heilige Land, um das Grab des Erlösers vor dem Zugriff der „Ungläubigen“ zu schützen. Als Stellvertreter hatte er seinen Bruder, den Prinzen Johann, eingesetzt und ihm die Regentschaft übertragen.
Der Prinz – das Volk nannte ihn verächtlich ,“Johann-ohne-Land“ – war ein schlechter Sachwalter des Willens seines königlichen Bruders. In seinem Hass gegen die heimatstolzen Sachsen, die sich nicht der Fremdherrschaft beugen wollten, schrak Johann nicht davor zurück, ihnen angestammte Rechte zu versagen. Leichtfertig setzte er sich darüber hinweg, dass König Richard ihnen das alt überlieferte Recht zu jagen ausdrücklich zugestanden hatte, und er verbot ihnen die Jagd; der hartherzige Prinz wusste genau, dass ein Sachse ohne sie nicht leben kann.
Seit Johanns neue Gesetze galten, hatte Hugh von Locksley sein Amt als königlicher Waldvogt verloren. Er musste sich darüber im klaren sein, dass die Vögte des Prinzen Johann jede Übertretung des Verbots mit unnachsichtiger Härte ahnden würden, denn der Prinz hatte ihnen eingeschärft, notfalls jeden Trotz mit Gewalt zu brechen.
In bitterer Unzufriedenheit hauste der sächsische Edeling mit Frau und Kind, seinem Sohn Robert, den sie Robin nannten, in seiner festen Burg am Rande des riesigen Waldes. Der Sherwood war seine Welt, von den Vorfahren ererbt, und er war von Jugend auf gewohnt, hier zu jagen – nun war ihm durch Prinz Johanns ungerechtes Verbot alles Lebensglück zerstört.
Wie König Richard seinen Grafen und Baronen milde und gerechte Verwaltung befahl und diese überwachte, so betrieb Prinz Johann mit aller Strenge die Durchführung seiner neuen Befehle. In der festen Stadt Nottingham hatte er als seinen Vogt den Grafen de Lacy eingesetzt, einen grimmigen, hartherzigen Mann, der wie sein Herr die Sachsen hasste. Er misstraute dem Gehorsam des Waldvogts von Locksley, und heimlich ließ er Herrn Hugh Fitzooth überwachen – er hoffte, man werde ihn bei einer gesetzeswidrigen Handlung überraschen und dann strenger Strafe zuführen können.
Die Mutter wollte, dass der Sohn Geistlicher würde, doch für den standesstolzen Edeling gab es keine Frage, dass Robin im Walde lebte wie er. „Jäger will ich werden wie der Vater“, sagte auch Robin selbstbewusst, „und unserm König Richard, wenngleich er Normanne ist, will ich dienen, denn er ist ein guter König, und ich will mit ihm hinausziehen und große Taten vollbringen.“
Der Vater wusste, was ein sächsischer Edeling an Waffenkunst beherrschen muss. Von ihm lernte Robin die Kunst, mit dem Wolfsspieß zu werfen, vom Vater lernte er die Kunst des Bogenschießens, in der Herr Hugh Fitzooth Meister war, und der Vater nahm ihn in harte Lehre, um ihn im Stockfechten zu unterweisen. Später sollte an die Stelle des schweren Eichenknüppels das Sachsenschwert treten.
Harte Tage, harte Wochen waren es für Robin, so hart, dass mancher Jüngling vielleicht den Wunsch der Mutter erwägen würde, Bücher zu lesen, um Geistlicher zu werden.
Nicht so Robin. Wenn er abends mit lahmen Gliedern und zerschundenen Knochen auf sein Lager sank, dann dachte er nicht zurück, sondern nur vorwärts: Wie hätte ich dem Schlag besser ausweichen können, wie treffe ich des Vaters Stock härter, um ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Bald war Robin Hood, erst sechzehn Jahre alt, unübertrefflich im Stockfechten, im Werfen mit dem Wolfsspieß, im Bogenschießen.
Graf de Lacy, der Sheriff des Landes, hatte in seiner Stadt Nottingham ein Wettschießen mit dem Bogen angesagt. Nur widerwillig war Herr Hugh der Aufforderung gefolgt. Robin begleitete den Vater. Die beiden wussten nicht von der Absicht des Sheriffs: mit einer Niederlage in dem Preisschießen wollte er ihr Ansehen herabsetzen. Er war fest überzeugt, dass Red Gill, der Führer seiner Leibgarde, den Wettkampf gewinnen werde.
Die Zuschauer beim Wettschießen jubelten laut, als die Besten sich zur Entscheidung stellten. Immer weiter hatte man die Scheibe abgerückt, immer mehr der Bewerber waren ausgefallen. In der Ehrenlaube saß Prinz Johann. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, das Festspiel zu besuchen.
Nun standen, wie vorausgesehen. nur noch drei der Besten auf dem Platze. Es war Gill, der Rothaarige, es war Hugh Fitzooth, der sächsische Freisass, es war Robin, sein Sohn.
Der Herold trat in die Schranken: Die Scheibe wurde jetzt auf hundert Schritt Entfernung gerückt. Es ging um die letzte Entscheidung.
„Den ersten Schuss hat Red Gill!“ Laut klang des Herolds Stimme über den Platz.
Der Aufgerufene trat vor, hob den Bogen, legte den Pfeil ein und zielte lange. In der fürstlichen Laube verfolgten Prinz Johann und sein Sheriff voller Spannung den schwirrenden Pfeil. „Das nenne ich eine Leistung!“ rief der Regent begeistert: „Auf solche Entfernung noch den Rand des Zentrums zu treffen!“ De Lacy, der Sheriff, nickte dienstbeflissen. „Ja, mein Fürst, kein Schütze in England kommt ihm gleich!“
„Es folgt der zweite Bewerber, Herr Robin Fitzooth“, ertönte des Herolds Ansagen.
„Der junge Mann sollte lieber auf seinen Schuss verzichten“, meinte Prinz Johann und blickte gleichgültig zu Robin hinüber.
Ruhig, als sei es etwas ganz Alltägliches, legte Robin den Pfeil ein, schätzte mit dem Auge die Entfernung und zielte sorgfältig. Dann ließ er den Pfeil schwirren. Aus der Frauenlaube hörte man Jubelrufe:
„Ins Schwarze!“
„Das nenn ich Glück“, stieß der Sheriff bissig hervor, während die. Menge wie rasend vor Begeisterung tobte.
Als der Beifall langsam verebbte, trat der Herold wieder vor. „Als dritter Bewerber schießt Herr Hugh Fitzooth.“
Jedermann sah, Robins Schuss war nicht zu übertreffen.
Herr Hugh nahm Aufstellung, sichtete kurz und ließ den Pfeil aus der Sehne schnellen.
War so etwas möglich? Sein Geschoss hatte Robins Pfeil, der genau im Zentrum steckte, in zwei Teile gespalten! „Solch einen Meisterschuss sieht man nicht in jedem Menschenleben!“ rief ein weißbärtiger Alter ganz außer sich. Die Menge war wie von Sinnen in ihrem Jubel.
Die glücklichen Schützen rief man vor die Frauenlaube, wo die Königinmutter den Sieger ehren sollte. „Majestät“, sagte Herr Hugh, „gebt den Preis dem Schützen, dessen Pfeil zuerst das Zentrum traf!“
Doch sie schüttelte lächelnd den Kopf und überreichte ihm den kostbaren Siegespreis.
Da trat ein Bote vor Herrn Hugh: „Der Sheriff lässt Euch auffordern, mit Eurem Sohne vor ihm zu erscheinen!“
Den Vater durchzuckte es ahnungsvoll: das war das Verhängnis, das er nahen sah.
Robin spürte des Vaters Besorgnis. „Ach was“, flüsterte er ihm zu, „,er will uns doch nur zu unserm Siege beglückwünschen.“
„Gott geb es“, murmelte der Vater.
Als sie vor dem Gestrengen erschienen, nickte er ihnen wohlwollend zu. „Gute Schützen seid ihr, Vater und Sohn“, sagte er und blickte sie prüfend an. „Ich habe eine Frage an euch.“
Beide blickten den Sheriff erwartungsvoll an. Würde sich des Vaters Besorgnis jetzt erfüllen?
„Gute Schützen kann ich gebrauchen“, sagte der Sheriff langsam, „es gibt so viel widersetzliche Menschen, die es zum Gehorsam zu zwingen gilt. Wollt ihr nicht in meine Leibgarde eintreten?“
„Mein Pfeil richtet sich nicht auf Menschen“, sagte Vater Hugh hart. „Ich liebe meine Freiheit.“
„Und ich nicht weniger, Herr Sheriff“, fügte Robin schnell hinzu, „auch ich tauge nicht für solchen Herrendienst.“
„So frech wagt ihr mir zu trotzen?“, fuhr de Lacy auf. „Erbärmliches Sachsengesindel!“
Hugh Fitzooth wollte aufbegehren, doch der Sheriff winkte böse ab. „Kein Wort mehr von solchen anmaßenden Frechlingen! Ihr werdet von mir hören!“
Die Drohung war nicht von ungefähr. Noch am Abend machten Vater und Sohn sich auf den Rückweg. Sie sehnten sich nach ihrem festen Hause und nach der Waldeseinsamkeit. Beide wussten nicht, was der Sheriff seinem treuesten Gefolgsmann und besten Bogenschützen zugeflüstert hatte. Heimlich folgte Red Gill den Fitzooths mit einer kleinen Schar wendiger und kampferprobter Reiter.
Gedankenvoll ritten Vater und Sohn durch den dunkelnden Wald. „Wer sich gegen de Lacy aufzulehnen wagt, tut gut daran, auf der Hut zu sein“, sagte er eben, zu Robin gewendet – da schwirrte ein Pfeil durch die Luft, und sofort folgte auch ein Schrei. Voller Entsetzen blickte Robin zur Seite: zwischen des Vaters Schulterblättern haftete das Geschoss! Schon taumelte der Alte – jetzt brach er zusammen.
Erschüttert kniete Robin vor ihm: „Vater, lieber Vater!“ keuchte er.
„Das war des Sheriffs Geschoss!“ stieß Hugh Fitzooth aus. Als Robin sich über den Vater beugte, spürte er, wie das Herz zu schlagen aufhörte.
Woher war der Schuss gekommen? Vorsichtig erhob sich der Junge und spähte nach allen Seiten. In diesem Augenblick schwirrte etwas durch die Luft. Robin warf sich beiseite über ihm im Baumstamm stak zitternd ein zweiter Pfeil!
Robin hatte den Bogen von der Schulter gerissen und schlich in die Richtung des unsichtbaren Schützen. Da bekam er ihn zu Gesicht. „Dachte ich es doch“, stieß er hervor, „es ist Red Gill, dieses feige Werkzeug des Sheriffs!“
Red Gill schlich sich an, um die Wirkung seines Schusses festzustellen. Als er sich eine kleine Blöße gab, fuhr Robins Schuss ihm mitten ins Herz.
Eben wollte er sich wieder dem toten Vater zuwenden, da hörte er hinter sich Hufgetrappel. „Dort ist der Mörder!“ schrien mehrere Stimmen. „Los, packt ihn!“
Es ging um Sekunden. Wieselgleich suchte Robin hinter den Stämmen Schutz, wand sich durchs dichte Unterholz, wo die Pferde keinen Weg finden, und ließ das Waldesgrün über sich zusammenschlagen.
Mehrere Tage irrte Robin durch den Wald, um den Häschern zu entgehen. Erst als sich der dritte Abend herab senkte, wagte Robin sich aus seinem Versteck. Vorsichtig pirschte er sich um die Waldecke, um das freie Feld zu überqueren, an dem das Elternhaus sich vor dem jenseitigen Waldrand erhob. Er würde nur auf einen Sprung einkehren, um der Mutter vom Tode des Vaters zu berichten. Er würde ihr raten, zum Onkel Gamewell, dem alten Landedelmann in Norfolk, zu ziehen, bis bessere Zeiten kämen.
Ich darf mich nicht lange bei der Mutter aufhalten, dachte Robin bitter bei sich selber. Ich werde… Da, was ist das? Welch seltsame Abendbeleuchtung, dass er das feste Haus am Waldrand nicht erkennen konnte? Narrte ihn etwa ein Trugbild?
Bin ich wahnsinnig geworden? durchfuhr es Robin wild.
Nein, es war kein Trugbild, was sich dort seinen Augen zeigte. Wo einst das Elternhaus stand, hoben sich verkohlte Mauerreste gegen den Abendhimmel ab. Noch qualmte es zwischen den Ruinen. Wie in stummer Anklage ragte der alte Turm über den zusammengestürzten Mauern empor.
Fassungslos stand Robin vor den noch schwelenden Trümmern des Hauses, in dem er einst mit Vater und Mutter glücklich war. Ganz gebrochen trat der Hausverwalter zu seinem jungen Herrn.
„Wo ist meine Mutter?,“ stieß Robin heiser hervor.
Der treue Mann hatte sie abseits von den Trümmern auf eine Felldecke gebettet. Dort lag sie unter freiem Himmel. Nur mit größter Vorsicht konnte Robin es wagen, in ihrer Nähe zu bleiben, denn jeden Augenblick musste er gewärtig sein, dass des Sheriffs Häscher zurückkehrten, um ihn zur Stadt zu schleppen. Und dabei war es der Mutter anzusehen, dass sie in den letzten Zügen lag. Als sie von dem schrecklichen Ende ihres Ehemannes hörte, sank ihr der Kopf zur Seite; der unendliche Schmerz brach ihr das Herz.
So wurde Robin ein Geächteter, ein „outlaw“, das heißt ein Mann außerhalb der Gesetze. Die Landesgesetze, die für ihn galten, besagten, niemand dürfe ihm helfen, ihm Nahrung und Trank reichen, niemand dürfe ihm Obdach gewähren Robin Hood war vogelfrei!
Die Mutter war gestorben – an gebrochenem Herzen, sagten die Leute mit Recht. Das Hausgesinde von daheim war in alle Winde verstreut; nur Muck, der Reitknecht, hatte seinen jungen Herrn nicht verlassen wollen.
Tief drinnen im Dunkel des Sherwood-Waldes, wo man sich vor dem Arm des Sheriffs sicher fühlen darf, hatten die beiden ihr Freiheitsasyl gefunden. Was scherte es sie, dass sie auf nacktem Boden schlafen mussten, mit dem Laub der Waldbäume zugedeckt! Was scherte es sie, dass die Mahlzeiten karg waren und die Nächte kalt.
Bald hatten sie, wo der Wald am dichtesten war, sich ein Lager eingerichtet. Mit Eschenbogen und Hirschfänger bot der Wald Nahrung genug, und der sprudelnde, frische Waldbach gewährte Trunk in Fülle.
Wie herrlich ist es, durch den Wald zu streifen, wenn der Tau noch auf Gräsern und Zweigen liegt, wenn die Vögel erwachen und die Sonne langsam über den Waldrand klettert. Wie schön ist die Gottesnatur in der unberührten Morgenstille.
Bald sammelten sich um Robin Hood Männer, die geächtet und vogelfrei waren wie er, alle entschlossene Gesellen, die die Fremdherrschaft der Normannen hassten wie er. Da war Klein John, ein ungefüger, bärenstarker Kerl, der wie Robin ein Meister im Stockfechten war, und Bruder Tuck, ein entlaufener Mönch; da war Muck, des Oheims getreuer Knecht, dazu die drei Brüder Huggins, denen die Normannenschergen das Elternhaus niedergebrannt hatten, weil die bedrängten Bauern die Steuern nicht bezahlen konnten. Immer mehr dieser tollkühnen, wild entschlossenen Freiheitskämpfer stießen zu dem Haufen der Ausgestoßenen.
Wenn Ritter de Lacy, der Sheriff von Nottingham, von der Höhe seiner Stadtburg über das weite englische Land sah, wandte er nur ungern seinen Blick zu dem grünen Waldstreifen hinüber, denn mochte er auch Herr über die weite Stadtumgebung sein: in den Sherwood reichte seine Macht nicht, denn dort hausten die sächsischen Outlaws – und Robin Hood war ihr Führer und der König des grünen Waldes, denn er war der kühnste und verwegenste und klügste unter ihnen.
Bald traute sich kein Normanne mehr in den Sherwood-Wald hinein, so gefürchtet waren Robin und seine tollkühnen Gesellen. Man erkannte sie an dem Lincolnrock, den sie trugen, aber dieses waldgrüne Tuch machte sie unsichtbar. So waren sie allgegenwärtig, ein Schrecken der normannischen Häscher. Auch die Reichen ringsum, die das Volk aussaugten, waren vor Robin Hoods Männern nicht sicher, denn er schonte keinen, zum Nutzen der Unbegüterten und Unterdrückten, die darben mussten.
Als Robin eines Tages durch das maiengrüne Land ritt, sah er auf einer Wiese neben der Landstraße eine seltsame Gruppe. Drei normannische Reiter waren es, die einen jungen Menschen in kanarienbuntem Gewand in die Mitte genommen hatten. Der eine ließ drohend seine Reitpeitsche spielen, der andere zerrte das Bürschlein derb am Arme, während der dritte ihm seinen Spieß vor den Bauch hielt. Sie wollten dem Spielmann das Pferd abnehmen.
Blitzschnell hatte Robin seinen Eschenbogen in der Hand, den armlangen Pfeil auf der Sehne.
„Ich pflege bedrängten Menschen zu helfen und trete ein für Recht und Billigkeit, wenn unser gutes Sachsenrecht so mit Füßen getreten wird!“ So erklärte er ruhig, als die drei Normannenreiter ihn beschimpfen wollten. Ruhig brachte er den jungen Menschen in Sicherheit – und hatte der Bande der Geächteten einen neuen Freund gewonnen, einen normannischen Spielmann, der die Gesetzlosigkeit seiner eigenen Landsleute erlebt hatte.
Als die beiden dem Waldlager zuritten, leuchtete es zwischen den Baumstämmen auf. Bärtige Männer, die um die Flammen saßen, sprangen auf, als die beiden in den Kreis einritten. Ganz unbekümmert, ein echter Spielmann, klimperte Alin ein fröhliches Liedchen, während die Gesellen voll Erstaunen sein buntes Wams betrachteten. „Unser neuer Freund wird unser Schicksal teilen“, rief Robin den Gefährten zu. „Willkommen sei uns jeder, der für Recht und Freiheit ist!“
Abends saßen sie wieder zusammen und wetterten über des Sheriffs Grausamkeit. „Wir sind nicht die einzigen“, berichteten Abel und Fred, „viele gibt es, die geächtet und vogelfrei sind und vor ihren Häschern im Walde Schutz gesucht haben.“
„So holt sie herbei“, rief Robin, „wenn ihr für sie bürgen könnt. Jeden freiheitsliebenden Mann können wir gebrauchen!“
Tags darauf standen die Männer vor ihm, alles bärenstarke, hochgewachsene Sachsen, die mit dem schmalen Schwert und dem langen Bogen aus Eschenholz umzugehen wussten. Und alles entschlossene Burschen, die Prinz Johanns grausame Härte gespürt hatten und ihm voll Ingrimm den Tod an den Hals wünschten. „Willst du unsere Hilfe, Robin Hood“, sagte der Führer dieser Burschen, „so wollen wir dir folgen!“
„Seid mir willkommen. Und wie ist dein Name?“
„Ich heiße Will Stutely“, versetzte der Mann.
So wuchs der Haufen der Verschworenen. Und Robin Hood, der junge sächsische Edelmann, war ihr Haupt. Die Armen liebten ihn, der das freie Leben unter den Bäumen des Waldes einem Leben in Zwang und Unfreiheit vorzog; der Sheriff aber hasste diesen Freund und Helfer der Unterdrückten und sann auf Mittel und Wege, ihn zu fangen und zum Tode zu führen. Er setzte auf Robin Hoods Kopf einen Preis aus. Fünfzig Goldstücke für den, der den verhassten Freiheitskämpfer in Ritter de Lacys Hände lieferte!
Da gaben seine Ratgeber ihm einen Vorschlag für eine Veranstaltung ein, die Robin Hood in seine Hände führen könnte. Er ließ zu einem Wettschießen aufrufen, dessen Preis ein silberner Bogen sein sollte. Sicherlich würde Robin Hood, der Meisterschütze, der Versuchung nicht widerstehen können auch wenn es mehr als Tollkühnheit bedeutete, sich in den Machtbereich des Sheriffs zu wagen.
In seinem unbändigen Verlangen, seine Kunst zu zeigen, lachte Robin Hood unbekümmert über die Bedenken seiner Gesellen. „Geh nicht, Robin,“ baten sie ihn, „denk auch daran, was du uns schuldig bist als unser Führer! Es wäre für dich ein Tod in Schande!“
„Für mich gibt es keine Gefahr“, sagte er sorglos. „Mich fängt der Sheriff nicht. Aber was wird es für uns bedeuten, wenn jedermann weiß, dass ich in Nottingham gewesen bin und am Bogenschießen des hochgeborenen Herrn de Lacy teilgenommen und den silbernen Bogen gewonnen habe!“
Als armseliger Bettler verkleidet, betrat der Geächtete die Stadt. Niemand kam auf den Gedanken, den gefürchteten Anführer der Freiheitskämpfer vor sich zu haben.
Bunte Wimpel wehten über dem Kampfplatz, wo die festliche Menge sich erwartungsfroh drängte. In der Laube des Sheriffs hatte auch Prinz Johann Platz genommen. Da trat der Herold in die Schranken, ließ sein Horn erschallen und forderte die Bewerber auf, sich zum Wettkampf zu stellen.
Ein Murren ging durch die Menge, als man unter den Meistern des Eschenbogens den zerlumpten Bettler gewahrte. Stimmen wurden laut, dass solcher Bewerber nicht zuzulassen sei. Doch die Königinmutter, die ihr Volk liebte, sprach die Entscheidung. „Hier geht es nicht nach Rang und Stand, sondern nach der Fertigkeit im Bogenschießen“, rief sie lächelnd. „Jeder Meister ist uns willkommen!“
Der Wettkampf begann. Alle trafen das Ziel, das auf sechzig Schritt gestellt war. Der Bettler, der als erster schießen musste, schien sich gar keine Mühe zu geben, so dass es aussah, als habe er nur durch Zufall getroffen.
Weiter rückte man die Scheibe ab; schon verfehlten zwei der Herren das Ziel und mussten vom Wettkampf abtreten. Wieder wurde die Entfernung größer, und wieder mussten zwei Bewerber sich geschlagen bekennen. Als des Herolds Helfer die Zielscheibe auf hundertundzwanzig Schritt gestellt hatten, waren nur noch zwei Schützen im Spiel: Thorn Greenwood, der Führer der prinzlichen Jäger, und der unbekannte Bettler.
„Jetzt wäre Red Gill vonnöten“, rief jemand in die Spannung hinein. Den einstigen Führer der Bogenschützen hätte man hier in der Tat im Wettkampf sehen mögen.
Ungeheuer war die Erregung, mit der die Menge den Wettkampf verfolgte. Einhundertundzwanzig Schritt war die Entfernung des Ziels! So klein war das Schwarze auf der Scheibe, dass es kaum noch zu erkennen war.
Jetzt ging es um die Entscheidung! Wieder schritt der Herold vor die Menge: „Wir werfen das Los, um festzustellen, wem der erste Schuss gehört!“
Das Los traf den Bettler. Mit demütiger Selbstsicherheit trat Robin vor. Er dachte an den einstigen Meisterschuss seines Vaters, dessen Schuss den im Mittelpunkt haftenden Pfeil gespalten hatte. Diese Leistung würde Thorn Greenwood nicht vollbringen. So durfte Robin seines Sieges sicher sein. Ruhig legte er den Pfeil ein, zog ihn bis hinters Ohr zurück und ließ die Sehne schnellen.
In atemloser Spannung folgten die Augen der Zuschauer dem schwirrenden Geschoss. Es traf genau in den Mittelpunkt, schwankte einen Augenblick hin und her und stand wie ein stolzer Sieger.
Der Mitbewerber wusste, dass damit seine Aussicht, ins Ziel zu treffen, dahin war. „Man hätte einen hergelaufenen Bettler nicht zum Wettkampf ehrenhafter Männer zulassen sollen“, knurrte er verächtlich und trat beiseite. Ringsum wurden höhnische Stimmen laut, Jubelschreie für den Sieger. Nur mit Unwillen erklärte der Herold den Bettler zum Sieger. „Du sollst vor der Laube erscheinen“, sagte er unfreundlich. „Prinz Johann selber will dich kennen lernen.“
Für Robin Hood war es niemals zweifelhaft gewesen, wer den Siegespreis davontragen werde. Trotzdem schwoll ihm das Herz vor Freude; denn nicht nur der Erfolg, auch das Abenteuerglück wog alles auf.
Während er, von der Menge bestaunt, zur Laube des Prinzen hinüberging, ließ er die Blicke über den Platz schweifen. Da plötzlich stutzte er: Ringsum zwischen den Zuschauern gewahrte er zu seiner Überraschung die Gesichter seiner verwegenen Gesellen – da hatten sie sich doch in die Stadt gewagt, die treuen Freunde, um ihm in der Stunde der Gefahr zur Seite zu stehen! Alle waren verkleidet; aber Robin erkannte sie in ihren Altweiberröcken und Bauernmänteln, in den Mönchskutten und Fuhrmannskitteln.
Da packte den Freiheitskämpfer wieder die verwegene Abenteuerlust: Heute wollte er einen Streich wagen, den der Sheriff sein Lebtag nicht vergessen sollte!
Herr de Lacy hatte gedacht, seinen Feind in eine Falle zu locken, als er das Wettschießen verkünden ließ, und nun fühlte er sich enttäuscht, dass Robin es nicht gewagt hatte zu erscheinen. Mehrfach hatte der Sheriff die Gestalt des Bettlers gemustert. Sollte er etwa der Gesuchte sein? Aber nein, so sah Robin Hood nicht aus.
Jetzt stand der Freiheitsheld vor dem verhassten Mann. Gleichgültig blickte er an ihm vorbei. Den Kopf etwas gesenkt und in kraftloser Haltung. „Du hast den Wettkampf gewonnen“, begann der Sheriff, und aus seiner Stimme war deutlich zu spüren, wie ungern er diesem zerlumpten Strauchdieb die Anerkennung aussprach. „So empfange nun den Siegespreis; doch zuvor muss ich dich auffordern, uns deinen Namen zu nennen!“
„Was tut er zur Sache, Herr“, versetzte der Bettler mit krächzender Stimme. „Was kann Euch hochgeborenen Herrn ein armer, namenloser Waldläufer kümmern, der…“
„Nenne uns deinen Namen“, unterbrach ihn der Sheriff ungehalten, „so wie es Brauch ist unter ehrbaren Menschen . . .“ Er stutzte voller Entsetzen, denn was nun geschah, musste ihm den Atem rauben.
„Ja, Ritter de Lacy, so hört meinen Namen und seht, wer ich bin!“ schrie der Zerlumpte wild auf. Aus der zusammengesunkenen Gestalt des kraftlosen Bettlers wurde plötzlich ein aufrechter, starker Mann, die Bettlerlumpen flogen beiseite, und vor dem Sheriff stand, in waldgrünes Wams gekleidet, der Mann, den er hasste und den er fürchtete . . .
„Robin Hood!“ rief er stammelnd.
„Nicht schwer zu erraten“, lachte Robin unbekümmert, sprang auf das Podest vor der Laube und hob sein Schwert. „Freiheit!“ schrie er wild über die Menge hin. „Tod den Zwingherren!“
Ein ungeheures Getümmel erfüllte sekundenschnell den Platz. Robin drang auf den verhassten Gegner ein, doch der wich seinem Schwertstoß aus. Ehe die Häscher des Sheriffs zupacken konnten, hatten sich Robins tollkühne Gesellen dazwischengedrängt. Entsetzt wichen Ritter de Lacys Männer zurück, als sie urplötzlich unter vielfacher Vermummung einen Haufen wild entschlossener Männer im grünen Gewand der Freiheitskämpfer auftauchen sahen.
In dem allgemeinen Tumult kämpften diese sich durch die dichtgedrängte Menge. Immer mehr waren es von den Leuten der Stadtbevölkerung, die mit unterdrückter Freude Robins verwegene Tat bewunderten. Schwerfällig schoben und drängten sie sich dazwischen, wenn die normannischen Knechte auf die Grünröcke eindrangen, und sicherten diesen so den Rückzug.
Nun hatte Robin Hood das Stadttor erreicht. Mit grimmigem Lachen schwang er sich auf die Mauerkuppe und stieß in sein Horn, dass es weit über die Stadt hin und über die Burg ertönte. ,“An diesen Tag wird der Sheriff noch lange denken“, rief er den Gesellen zu; dann verschwand er mit ihnen jenseits der Stadtmauer und führte sie zurück in den Sherwood-Wald.
Wie zum Hohn klang noch lange Robins Horn zur Stadt hinüber.
Wenige Tage später trat die Königinmutter in das Zimmer des Prinzen Johann.
„Gute Kunde, mein Sohn, hat mich soeben erreicht. Richard sitzt in Verhaft in der Feste Dürnstein im Österreichischen, doch der Bote meldet, dass wir ihn durch ein Lösegeld freikaufen können. . .“
Prinz Johann tat erfreut – und wusste doch, dass mit der Rückkehr König Richards sein Los besiegelt war.
„Wir müssen das Volk zu einer Spende aufrufen, doch schwer wird es sein, den hohen Betrag aufzubringen, denn Robin Hood hat das Land ausgeplündert!“
Jeder wusste, wie lügnerisch seine Behauptung war. In Wirklichkeit war der Prinz glücklich, Geld in den Kasten fließen zu sehen, denn schon hatte er einen heimtückischen Plan, der König Richard für alle Zeit die Heimkehr verwehren würde: er wollte die Spende des Volkes in seine eigene Schatzkammer führen – ein zweites Mal würde das ausgepresste Volk den Betrag nicht aufbringen können.
Das treue Volk gab sein Letztes, um dem Herrscher, den es so sehr liebte und zurückwünschte, die Freiheit zu verschaffen. Bald lag die riesige Summe des geforderten Lösegeldes bereit.
Der verräterische Prinz Johann ging sogleich daran, seinen Plan auszuführen, der ihm doppelten Vorteil und Gewinn bringen sollte. Noch vor Sonnenaufgang ließ er fünfzig seiner Bogenschützen in aller Heimlichkeit auf dem Schlosshof versammeln. „Ihr reitet auf der Landstraße am Sherwood-Walde entlang. Dort legt ihr die grasgrünen Wämser an, die ich euch mitgeben lasse, und kleidet euch so wie Robin Hoods Bande.“
Niemand ahnte das hinterhältige Vorgehen des Prinzen. In der Tracht von Robin Hoods kühnen Gesellen sollten die Bogenschützen den Lastzug überfallen, der das für König Richard bestimmte Lösegeld in Prinz Johanns Schatzkammer nach London schaffte!
Doch Robin Hoods Späher erkannten rechtzeitig genug auch diesen heimtückischen Bubenstreich, der das Ansehen der grünen Gesellen so schmählich missbrauchen und verunglimpfen und König Richard für immer die Heimkehr verwehren sollte. In Windeseile war die Bande zur Stelle und verhinderte die Entführung des Lösegeldes. Statt in die Schatzkammer des eigensüchtigen Prinzen gelangte der Betrag an die richtige Stelle: Er diente als Lösegeld für den König, der fern der Heimat auf Rückkehr hoffte.
Nach dem erbarmungslos harten Winter in der Kälte der waldigen Schlupfwinkel sahen die Geächteten endlich den Frühling nahen. Mit ihm wuchs ihnen neuer Mut und neue Hoffnung. Immer neue Gesellen strömten den Freiheitskämpfern als Helfer zu.
In sorgenvollen Gedanken, wie er die große Zahl der Getreuen ernähren solle, schritt Robin Hood mit Bruder Tuck durch den Wald. Der freiheitsliebende Mönch war seit langer Zeit einer der tätigsten unter seinen Gesellen.
„Halt!“ tönte es ihnen plötzlich entgegen.
Robin zuckte zusammen. Gerade vor ihnen an der großen Eiche hielt ein Ritter hoch zu Ross, in blanker Rüstung, das Visier heruntergeklappt.
„Was wollt Ihr hier im Walde?“ rief Robin drohend.
„Ich suche Robin Hood! Wisst ihr, wo ich ihn finde?“
„Ich selber bin es! Was wollt Ihr?“
„Den Sherwood-Wald von Geächteten befreien! Wir wissen von deinen Schandtaten und Gesetzwidrigkeiten, Robin Hood. Du weigerst dich, dem Prinzen Johann den schuldigen Gehorsam zu erweisen, du hast hier im Walde wider alles Landrecht einen Haufen gesetzloser Gesellen um dich geschart, du hast das Lösegeld geraubt, das für unsern gefangenen König bestimmt war!“
„Weil der verräterische Prinz falsches Spiel getrieben hat!“ rief Robin in wildem Zorn. „Ihr dient einem schlechten Herrn, Herr Ritter! Soll ich sagen, wo das Geld geblieben ist? Seinem rechten Zweck habe ich es zugeführt! Meine Männer haben es übers Meer gebracht, um unsern geliebten König Richard aus der schmählichen Gefangenschaft freizukaufen . . .“
Bruder Tuck konnte nicht mehr an sich halten. „Lasst diese herausfordernde Sprache, Herr Ritter! Und nehmt den Helm ab, oder ich schlage ihn Euch vom Schädel!“ Drohend hatte der streitbare Mönch den schweren Knüppel erhoben. Willig folgte der fremde Ritter der Aufforderung, löste den Riemen und nahm den Helm vom Kopf.
Wie auf eine Geistererscheinung blickten die beiden Männer auf den Reiter. „König – König Richard!“ brach Robin fast stammelnd aus und beugte das Knie. Der Mönch tat desgleichen.
„Ihr seid wieder zurück, Majestät“, sagte Robin. Erst langsam begann er, sich zu fassen. „Vergebt mir, Majestät, das große Auftreten“, sagte er dann, „ich ahnte ja nicht . . .“
„Ihr habt nicht zu bitten, Robin Hood. Mit mir ist ganz England in Eurer Schuld. In Eurer Schuld und der Eurer verwegenen Gesellen.“
Gütig lächelnd stieg der König vom Pferde. „Robin Hood“, sagte er. „Kniet nieder, hier an der Stätte, wo Ihr für die Freiheit gekämpft habt.“
Der König hatte sein Schwert gezogen und legte es dem Knienden auf die Schulter. „Robin Hood, ich schlage Euch hiermit zum Ritter meiner Krone und ernenne Euch hiermit zum Herzog,“ sagte er, als Herzog von Locksley sollt Ihr das Land hier ringsum als Lehen aus meiner Hand übernehmen und für mich in Treue verwalten. Erhebt Euch, Sir Robin!“
Hand in Hand schritten die beiden dem Waldlager zu. Bruder Tuck führte des Königs Streitross am Zügel.
Mit wilden Heilrufen umringten die Geächteten den König und seinen neuen Herzog.
„Ich weiß, wo ich meine Freunde zu suchen habe“, sagte König Richard. „Ich werde sie zu belohnen wissen, und sie sollen die Stelle in meinem Reiche einnehmen, die ihnen zukommt und die dem Reiche förderlich ist!“ Da breitete Robin seine Arme aus, als wollte er alle darin einschließen, und dann rief er, dass es hinauf klang bis zu den Baumkronen des Sherwood-Waldes: „Hoch Robins tollkühne Gesellen!“ England hatte seinen Frieden wieder gefunden.
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