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Die falschen Weihnachtsbäume
Charlotte Niese
Auf unsrer Insel gab es wenig Bäume. So wenig, dass das Brennholz weither über
das Wasser geholt werden musste, und dass viele der Inselbewohner niemals einen
Wald gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltner Artikel, was uns als
Kinder immer sehr aufregte. Denn wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, tauchten
immer wieder die Zweifel auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen
Tannenbaum am heiligen Abend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Walde
gewachsen war, und in dessen Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen
falschen, der in der Werkstatt des Meister Ahrens das Licht der Welt erblickt
hatte. Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen
Kopf, aber wir hatten ihn gern, besonders wenn er nicht immer von seinem guten
Herzen sprach. Das langweilte uns, weil wir es eigentlich für selbstverständlich
hielten, dass man ein gutes Herz haben müsse.
Ahrens kam oft zu uns. In unsrer Kinderstube ging aller Augenblicke etwas
auseinander, was eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann
mit seinem Leimtopf, sagte, er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder
zusammen. Wir halfen ihm natürlich und drängten uns um die Ehre, in seinem
klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber seine Tannenbäume konnten wir
nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir sie schon so lange vorher
sahen. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen Weißen Stöcken, in die er
Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit grasgrüner
Ölfarbe an und trocknete sie vor seiner Haustür. Später sahen wir sie
zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann
verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke
und betrieb einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer
von seinem Fabrikat an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, dass seine Bäume
schließlich sehr nett aussahen, so verhielten wir uns meist ablehnend. »Sie sind
so billig,« sagte Ahrens eines Tages zu uns, als wir ihn einer Bestellung wegen
in seiner Werkstatt besuchten, und er gerade einen grünen Stock etwas nachmalte.
»Wir wollen sie doch nicht!« erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen
Aussprüchen oft sehr bestimmt war. »Ich mag keinen falschen Tannenbaum!«
»Falsch! Du lieber Gott, wasn Wort!« Ahrens sah beleidigt aus. »Da is nich die
geringste Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner als die natürlichen,
kann ich dich sagen, mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und
bei mich is bloß die reine Ölfarbe!« »Wo bekommst du eigentlich die Tannenzweige her?« fragten wir.
Der alte Tischler machte ein wichtiges Gesicht. »Aus 'n Wald, aus 'n richtigen
Tannwald, wo die Vögelns singen, und wo soviel Bäumens stehn, dass man mannichmal
keine Luft kriegen kann!« »Wo liegt der Wald, und wer holt dir die Tannenzweige?«
Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an. Aber er
zuckte die Achseln. »Ja, das möcht ihr wohl wissen! Das sag ich abersten nich –
nee, das sag ich nich!« Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des
Geheimnisvollen, und dadurch gewannen sie natürlich in unsern Augen.
Es war schon ziemlich nahe vor Weihnachten, und wir sprachen eigentlich von
nichts anderm als von dem bevorstehenden Feste. Endlos lange Wunschzettel waren
geschrieben: hin und wieder wurde eine Träne über eine völlig missglückte
Weihnachtsarbeit vergossen, oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch verschenken
wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich
schnell dahin, und unsre Lehrer beklagten sich über unsre Zerstreutheit.
Es war an einem Morgen im Dezember, dass ich zu Meister Ahrens geschickt wurde,
um ihn samt seinem Leimtopfe zu uns einzuladen. Unsre Kinderstubeneinrichtung
hatte durch eine längere lebhafte Unterhaltung der ältern Brüder stark gelitten,
und Ahrens sollte gleich kommen. Vergnügt polterte ich die enge Treppe zu seiner
Werkstatt hinauf, konnte aber nicht bis auf die letzte Stufe kommen, weil dort
ein Kind stand, auf das der alte Tischler eifrig einsprach.
»Ich muss die Zweigens haben, und Vater muss herüber und sie holen!«
»Vater is bang!« lautete die schüchterne Erwiderung.
»I, was sollt Vater woll bang sein; er muss los – sonsten klag ich ihm ein, wo er
mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen, und das
Geschäft mit die Bäumens muss anfangen! Nu geh du man, und lass Vater man auch
gehn!« Das Kind, es war ein ziemlich großes Mädchen, glitt an mir vorüber, und ich
konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber
Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete
seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag.
»Kannst du keine Zweige aus dem großen Walde kriegen?« fragte ich neugierig. Er
aber sah mich streng an.
»Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind
besser als die natürlichen!« Als ich wieder hinauskam, da saß dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens
gesprochen hatte, auf der Türschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als
ob sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie
schweigend. Sie war sehr ärmlich, aber ziemlich sauber gekleidet, nur ihr
dickes, blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte
ich sie, und ich nickte ihr freundlich zu.
»Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam,
weißt du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!«
Sie sah jetzt auf, und ihre Augen blickten weniger trübe.
»Das war so'n feines Buch,« sagte sie, »mit Bildern ein – so'n feines Buch!«
»Hast du kein Lesebuch?« erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung
daran dachte, dass ich dieses Buch schon zweimal hinter den Schrank geworfen
hatte, nur um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wieder gefunden worden.
Sie schüttelte den Kopf. »Nee – ich hab nix, gar nix!«
»Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?«
»Ich?« Das Mädchen sah überrascht aus. Dann lachte sie. »Was sollt ich mich woll
wünschen; ich krieg doch nix!«
»Du bekommst gar nichts?« Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. »Bist du dann zu Weihnachten
nicht furchtbar traurig?«
»Nee« – sie lachte wieder. »Was sollt ich woll traurig sein, wo ich den ganzen
Abend rumlauf und in all die Fensters guck und all die Weihnachtsbäumens zu
sehen krieg! Mannichmal krieg ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens
geschenkt!«
»Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehn!« sagte ich. »Da muss man zu
Hause bei seinen Eltern bleiben!«
»Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib ich auch bei ihm; abers er is nu ja
ümmerlos im Loch – da sitz ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –«
»Er sitzt im Gefängnis?« Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft
gedrückt. Wir saßen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch
zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der ich
einige getrocknete Pflaumen hatte, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hieß
das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr
zusah. Ich hatte mir nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch eine
wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangnen vorlesen lassen und nahm
jetzt an, dass die Gefängnisse nur dazu da wären, Unschuldige zu quälen.
»Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses getan?« fragte ich.
Dörthe schüttelte den Kopf. »Nee – natürlich nich! Bloß ein büschen Stehlen.
Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Abers nach die Tannenzweigen in
Holstein will er doch nich hin!«
»Stiehlt er die auch?« »Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum, und der Baum
gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in
sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so groß, und da laufen Rehe
und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh
weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der smeckt abers fein! Vater soll dich
ein Stück abgeben, wenn er wieder mal was mitbringt! Na, abers er will diesmal
nich gern hin. Die Försters haben ihn so grässlich aufn Strich, und wenn sie ihn
kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein, und – denk dich mal! – er muss jedes
Mal
länger sitzen!« »Dann darf er doch nicht in den großen Wald gehn!« rief ich aufstehend. Mir war,
ich weiß nicht weshalb, doch etwas unheimlich zumute geworden.
»Meister Ahrens will es aber, und wir wohnen in seinem Haus!« Dörthe war
ebenfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum. »Er sagt, Vater muss
allens ein büschen vorsichtig machen, und er braucht nicht gleich ein Reh zu
nehmen. Abers wenn es nu da herumläuft?«
Auf diese Frage wusste ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe
nachfühlen, dass sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben
wollte. Ich musste ihr plötzlich noch versprechen, keinem etwas von unsrer
Unterhaltung zu erzählen, und dann trennten wir uns.
Jürgen wusste schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte, und es war nur
gut, dass ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen,
was ich keinem erwachsnen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas
zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, dass ich mit Dörthe Krieger gesprochen
hatte. »Ihr Vater ist ein Dieb, und zwar ein ganz gemeiner!« berichtete Jürgen.
»Rasmussen (unsers Großvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt!
Denke dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das feinste beim Stehlen ist –
er nimmt meist nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im
Gefängnis!«
Dörthe hatte mir diese betrübende Eigenschaft ihres Vaters ja auch berichtet.
»Sie will nur so ungern, dass er Weihnachten sitzt,« meinte ich; »sie ist dann
ganz allein und hat niemand, dem sie ihren Weihnachtsvers aufsagen kann! Sie
bekommt überhaupt gar nichts zu Weihnachten.« »Gar nichts?« Jürgens tugendstrenges Gesicht wurde etwas milder. Aber er
wusste
doch keinen bessern Rat, als dass ich nicht mehr an Dörthe Krieger denken und
noch weniger mit ihr sprechen sollte. Besonders nicht vor Weihnachten. Denn wenn
die erwachsnen Familienglieder merkten, welchen schlechten Umgang ich hätte,
dann würde es schlimm um meine Geschenkaussichten aussehen.
Jürgen konnte manchmal sehr eindringlich sprechen, und da ihm wirklich in der
letzten Zeit verschiedentlich Standreden darüber gehalten worden waren, dass er
in seinem Verkehr wählerischer sein sollte, so wusste er genau, was er sagen
sollte, und ich hörte ihm andächtig zu. Dörthe Krieger war mir selbst doch auch
etwas bedenklich vorgekommen; sie hatte meine Pflaumen wohl aufgegessen, sich
aber nicht dafür bedankt. Das zeugte von einem schlechten Herzen. Als ich ihr
nach etlichen Tagen wieder begegnete,, und sie mir mit einer gewissen
Vertraulichkeit zunickte, sah ich sie deshalb gar nicht an. Als sie aber vorüber
war, musste ich doch stehn bleiben und mich umsehen, und da sie dasselbe tat,
sahen wir uns gerade in die Augen.
Sie lachte; ich aber wurde sehr entlüftet. »Du darfst dich nicht nach mir umsehen – dein Vater ist ein ganz gemeiner Dieb,
und ich will nicht mit dir sprechen.«
Dörthe schüttelte ihren struppigen Kopf und lachte wieder.
»Nee, sprechen musst du auch nich mit mich! Die Kinder in die Schule wollen auch
nich bei mich sitzen. Ehegestern hab ich den ganzen Tag allein aufn Bank
gesessen – das war fein!«
»Magst du gern allein sitzen?«
Ich war dem Kinde des Diebes nun doch näher getreten und sah neugierig in ihr
unbekümmertes Gesicht.
»Nu natürlich mag ich es! Da sitzt kein ein bei mich und kneift mir oder
schubbst mir – das is fein?«
»Ist dein Vater schon im Walde gewesen?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nee – er hat ein slimmes Knie gehabt und konnt nich
fort. Ahrens war doll, kann ich dich sagen, und er will uns aus 'n Haus smeißen,
wenn Vater nich bald Ernst macht. For meinswegen kann Vater auch hingehn; wenn
er man bloß nich wieder Weihnachten sitzen muss!«
Sie seufzte ein wenig und schob die Arme unter ihr dünnes Schultertuch.
»Ich weiß, wie allens kommt!« fuhr sie dann fort. »Vater geht in den Wald und
will bloß die Zweigens abslagen, und denn sieht er ein Reh und denn slachtet er
das. Und denn kommt die Pollerzei und all die slechten Menschens, und denn sitzt
er Weihnachten ins Loch!«
»Hast du einen Weihnachtsvers für ihn gelernt?« fragte ich: sie beachtete aber
meine Worte nicht.
»Wenn es Ostern wär oder Pfingsten, denn wär' es mich einerlei; da is es nich
mehr so dunkel, und die andern Kinners snacken nich mehr soviel von
Weihnachtsbäumens und von Aufsagen, abers nu –«
Dörthe wischte sich die Augen, und ich sah sie ratlos an.
»Hast du deinem Vater nicht gesagt, er solle bei dir bleiben?«
»Nu, ganz gewiss! Abers Ahrens wird bös, wenn er die Zweigens nicht kriegt. Zwei
Jahr haben wir die Miete nich bezahlt, weil dass Vater immer so in Rückstand
war!«
»Dann musst du den lieben Gott bitten, dass dein Vater kein Reh totmacht, wenn er
in den Wald geht!« riet ich, und Dörthe sah mich nachdenklich an.
»Das kann angehn! Ich will ihm bitten, dass die Rehens vordem alle tot bleiben
oder von den Grafen geslachtet werden. – For die Zweigens kriegt er ja bloß
wenig Gefängnis!« Sie lief weiter, und mir fiel ein,
dass ich nicht mit ihr hatte sprechen wollen.
Aber es hatte mich, gottlob! niemand gesehen, und da außerdem andere Gedanken
mein Herz erfüllten, so vergaß ich diese Unterredung so bald, dass ich sie nicht
einmal Jürgen mitteilte. Es waren nämlich nur noch acht Tage bis Weihnachten,
und die prickelnde, sonderbare Unruhe kam über uns, die jedes Kind kennt. Wir
mochten nicht mehr sehr lange auf einem Stuhle sitzen, und am liebsten liefen
wir auf der Straße umher und besahen die bescheidnen Weihnachtsausstellungen
unsers Städtchens.
Außerdem hatten wir noch Sorge wegen des Ausbleibens unsers Tannenbaumes. Der
sollte mit dem Schiffer kommen, der um die Weihnachtszeit mit seiner Jacht nach
Lübeck fuhr und die herrlichsten Sachen mitbrachte. Aber Schiffer Lafrenz war
noch nicht in unsern Hafen eingelaufen. Das kam daher, dass der Wind die ganze
Zeit »konträr« gewesen war, wie uns die Sachverständigen sagten, aber diese
Erklärung beunruhigte uns nur, statt uns zu beruhigen. Wir kannten Geschichten
von Leuten, die drei Wochen auf der Ostsee bei »konträrem« Winde gekreuzt
hatten, ohne ihr Reiseziel zu erreichen, und die dann schließlich wieder
unverrichteter Sache nach Hause gefahren waren. Erlebt hatten wir solche Sachen
nicht, aber man hatte uns so oft die Abenteuer einer Seereise in alten Zeiten
berichtet, dass wir das Schiff mit unserm Tannenbaum im Geiste schon bei Finnland
im Eise eingefroren sahen. Die großen Leute suchten uns die Befürchtungen
auszureden; wir aber fühlten uns doch verpflichtet, jeden Tag an unsern kleinen
Hafen zu laufen und dort Erkundigungen nach »Anna Kathrin« einzuziehn. So hieß
die Jacht vom Schiffer Lafrenz, und es war ein schönes Schiff, nur dass sie sehr
schaukelte, auch wenn es gar nicht nötig schien.
Am Sonntag vor Weihnachtsabend war köstliches Wetter. Gerade so, als bildete
sich die Sonne ein, Weihnachten überschlagen zu können. Sie schien so hell wie
im Frühjahr, und als wir am Vormittag aus der Kirche kamen, beschlossen wir,
sofort wieder nach dem Hafen zu gehn und uns nach der »Anna Kathrin« zu
erkundigen. Als wir am Hause von Meister Ahrens vorübergingen, stand dieser vor der Tür und
hielt einen Tannenbaum in der Hand. Es war natürlich ein falscher, und seine
Zweige waren nicht mehr frisch. »Wo hast du die Zweige her, Meister Ahrens?« fragten wir. »Das ist kein schöner
Tannenbaum geworden!«
Der Tischler antwortete nicht viel, sondern murmelte nur einige verdrießliche
Worte, worauf einer der ältern Brüder berichtete, dass das Geschäft mit den
Tannenzweigen dieses Jahr flau sein sollte. Da wäre niemand mit guten
Tannenzweigen an die Insel gekommen, und auch die falschen Tannen sollten teuer
sein. Wir andern seufzten ein wenig bei dieser Erzählung, und dann strebten wir
eilig dem Hafen zu, um uns nach der »Anna Kathrin« die Augen auszuschauen. Aber
alles Lugen half nichts – die dickbäuchige Jacht schaukelte weder am Bollwerk,
noch war ihr geflicktes Segel irgendwo am Horizont zu erblicken.
Nachdem diese Tatsache festgestellt war, verließen die ältern Brüder uns, um
einen Freund zu besuchen, dessen Onkel im Besitz eines Fernrohrs war, das dazu
dienen sollte, die »Anna Kathrin« etwas schneller herbeizusehen. Wir Kleinern
gingen schwermütig an den Strand und suchten uns dadurch aufzuheitern, dass wir
flache Steine ins Wasser warfen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten wir ein Boot,
das an einen etwas abseitsstehenden Pfahl angekettet war. Beide Ruderpatten
lagen darin, und dieser Umstand schien uns so verlockend, dass wir sofort
hineinkletterten und zu rudern begannen.
Das Boot war außerordentlich schlecht; die Sitze morsch, und die Bretter des
Fahrzeuges schienen kaum noch zusammenzuhalten. Wir schaukelten aber sehr
vergnügt darin, und Jürgen sagte, er könne rudern und nach Holstein fahren,
dessen Küste dunkel am Horizont auftauchte. Er konnte es natürlich nicht, und
während wir uns um die Ruder zankten, glitt ihm das eine aus der Hand und fiel
ins Wasser.
Vergnügt schwamm es davon, während wir ihm ziemlich dumm nachblickten, und als
Jürgen mit dem andern Ruder den Flüchtling zu erwischen gedachte, ging diese
Stange ihm auch aus der Hand. Ein kräftiger Fluch ertönte vom Lande her, und ein Mann in großen Wasserstiefeln
trat mitten ins Wasser und zog nicht allein unser Boot ans Land, sondern erfaßte
auch noch die eine Stange. Die andre war aber schon zu weit fortgeschwommen, und
er sah uns drohend an.
»Ihr dummes Volk! Was habt ihr in meinem Boot zu tun! Heraus mit euch, sonst
werfe ich euch alle ins Wasser! Und wo ist meine Ruderstange?«
Er sprach fremder und ganz anders als die meisten Insulaner, so dass wir schon
deswegen einen großen Schreck vor ihm bekamen. Aber als Jürgen mir zuflüsterte,
dieser Mann wäre Jobst Krieger, der Dieb, der so oft im Gefängnis gesessen
hatte, da erwachte in mir der Trotz der Selbstgerechtigkeit.
»Zu sagen hast du uns nämlich gar nichts!« bemerkte ich, aber ich sprang doch
ziemlich schnell aus dem Boot.
»Weshalb nicht?« Der Mann, dessen Gesicht uns übrigens keinen abschreckenden
Eindruck machte, sah mich fragend an.
»Du bist ja ein Dieb, ein ganz schlechter Mensch!« sagte ich, und Jürgen, der
ebenfalls wieder auf festem Boden stand, nickte zu jedem meiner Worte.
»Du darfst gar nicht mit uns sprechen,« warf er nun ein. »Du sitzt ja immerlos
im Loch!«
Auf Jobst Kriegers Gesicht lag der Ausdruck ungläubigen Staunens, dann aber
wurde er plötzlich sehr rot.
»Was geht's euch an, wenn ich im Gefängnis war? Darin haben schon fixe Kerle
gesessen, kann ich euch sagen! Und überhaupt« – er sah uns langsam nach der
Reihe an – »ich kenn euch gut! Wie oft lauft ihr zu dem alten Mahlmann, der sein
Leben lang im Zuchthaus war!«
»Zuchthaus ist feiner als Gefängnis,« erklärte Jürgen; »viel feiner! Ich habe
mal mit Mahlmann darüber gesprochen, und der hat es mir auch gesagt. So oft wie
du im Gefängnis, ist Mahlmann auch nicht im Zuchthaus gewesen!«
»Nein, er nahm gleich ein gutes Ende auf einmal!« sagte Jobst Krieger, und dabei
lachte er.
Er hatte wirklich kein übles Gesicht, und sein Zorn über das verlorne Ruder
schien auch verraucht zu sein.
Mit schwerem Schritt stieg er nun ins Boot und begann die Kette zu lösen.
»Wohin fährst du?« fragte Bruder Milo, der sich bis jetzt nicht an der
Unterhaltung beteiligt und den Dieb nur unverwandt angesehen hatte.
Jobst gab keine Antwort; mir aber fiel Dörthe wieder ein, während mir natürlich
nicht in den Sinn kam, dass ich ihr Schweigen gelobt hatte.
»Er fährt in den großen Wald,« rief ich laut, »wo die Rehe und die Hasen frei
herumlaufen. Da schlägt er die Tannenbäume entzwei und fängt die Rehe, und dann
kommt der böse Graf und nimmt ihn gefangen! Und Dörthe muss wieder
Weihnachtsabend auf der Straße herumlaufen, weil ihr Vater im Gefängnis sitzt!«
»Dummes Zeug!« sagte Jobst. Er hatte mit einer Kelle Wasser aus dem Boot
geschöpft, nun hielt er inne mit seiner Arbeit.
»Dummes Zeug ist es gar nicht!« rief ich empört. »Dörthe sagt, wenn du nur
Ostern oder Pfingsten stehlen wolltest, dann wäre es ihr einerlei; aber gerade
Weihnachten! Da darf man doch eigentlich nicht stehlen!«
»Nein, eigentlich nicht!« meinte Jürgen, und Milo stimmte zu.
»Da kommt ja das Christkind auf die Erde, und wenn es dich nun im Gefängnis
findet, dann bekommst du nichts geschenkt. Nur artige Menschen bekommen etwas!«
»Ich kriege doch nichts geschenkt!« murmelte Jobst. Er hatte uns bis dahin
zugehört, nun griff er wieder zu seiner Schöpfkelle.
»Doch!« sagte Jürgen. »Wenn du Weihnachten nicht im Gefängnis sitzt, dann
schenke ich dir etwas. Ich habe einen Kasten geklebt; er ist sehr hübsch, und
ich wollte ihn eigentlich selbst behalten. Wenn du aber gut sein willst, dann
bekommst du ihn!«
»Und ich mache dir einen Fingerring aus schwarzen Glasperlen!« rief Milo, der in
Perlenvergeudung unglaubliches leistete. »Oder willst du lieber einen blauen
Ring mit einer Goldperle in der Mitte? Goldperlen sind furchtbar teuer, aber ich
will es doch tun!«
»Dann gebe ich Dörthe auch mein altes Lesebuch!« setzte ich hinzu und trat dabei
Jobst Krieger etwas näher. Er hatte sich nämlich ins Boot gesetzt und sah uns
ganz sonderbar an. Wahrscheinlich fand er die ihm gemachten Anerbietungen zu
überwältigend, als dass er gleich darauf hätte eingehn können.
»Sieh mal,« setzte ich vertraulich hinzu. »lass Dörthe doch das Lesebuch
bekommen! Da sind hübsche Bilder drin, und wenn die andern Kinder die sehen,
dann wollen sie auch wieder bei Dörthe sitzen. Nun wollen sie es nicht, weil du
soviel im Gefängnis sitzen musst! – Sie sitzt immer ganz allein, und Weihnachten
ist sie auch allein. Ich sagte ihr, sie sollte den lieben Gott bitten, dass du
Weihnachten bei ihr wärst; aber sie hat es wohl vergessen. Der liebe Gott tut
sonst alles, um was man ihn ordentlich bittet!« Jobst Krieger legte die Bootkette wieder um den Pfahl und trat ans Land. Er sah
beunruhigt und etwas mürrisch aus, und als Jürgen ihm noch einmal seinen schönen
Kasten pries, antwortete er nur durch ein unverständliches Knurren.
Auch trat jetzt ein andrer Mann auf ihn zu, der eben erst aus der Stadt gekommen
war. Der sah nicht so gut aus wie Jobst, und seine Augen fuhren scheu über uns
hin, während er leise mit Jobst sprach. Wir gingen jetzt, Jürgen und ich voran,
während Milo noch eine Weile in der Nähe der Männer blieb und uns erst später
nachgelaufen kam. »Ich habe gehört, was sie sprachen,« erzählte er. »Ich sammelte Steine und war
ganz nahe bei ihnen. Der andre Mann heißt Lorenz und wollte mit Jobst Krieger
und dem Boot nach dem großen Walde fahren. Aber Jobst sagte, er hätte
keine Lust, sie wollten bis morgen warten. Er müsste sich noch besinnen;
Da wurde der andre Mann böse und sagte, er führe nicht am Montag, das sei
ein Unglückstag; er führe am Sonntag und wollte nicht auf Jobst warten;
Da haben sie sich gescholten, und nun ist Jobst Krieger zurückgegangen, und der
andre ist im Boote!«
Jetzt kamen die andern Brüder. Aber sie waren, weil sie selbst durch das
Fernglas nichts von der »Anna Kathrin« gesehen hatten, so niedergeschlagen, dass
wir ganz vergaßen, ihnen unsre Unterhaltung zu berichten.
Aber am Abend sprachen wir doch noch von Jobst Krieger und meinten, es sei ganz
überflüssig, uns auf Geschenke für ihn einzurichten. Milo begann dennoch einen
Ring aus blauen Glasperlen zu arbeiten, der wirklich sehr schön wurde.
In der Nacht kam plötzlich ein furchtbares Wetter. Die Dezembersonne war
trügerisch gewesen. Der Wind sprang um, Regen schlug an die Scheiben, und die
Dachpfannen prasselten auf die Straße. Am andern Morgen wurde es wieder ziemlich
still, und die Brüder liefen gleich an den Hafen, um nach der »Anna Kathrin«
zu sehen, die denn auch wirklich einlief. Etwas beschädigt zwar, denn es war auf
See ein Heidenwetter gewesen; aber die »Anna Kathrin« konnte schon einen Puff
vertragen. Obgleich der Tannenbaum nun wirklich in Sicht war, so konnten wir uns doch nicht
so recht freuen. Denn Schiffer Lafrenz von der »Anna Kathrin« war nicht weit vom
Hafen einem umgeschlagnen Boote begegnet, das er mit seinen scharfen
Schifferaugen sofort erkannt hatte. Es gehörte einem Manne, der Lorenz hieß, und
der gerade so übel berüchtigt war wie Jobst Krieger.
Am Hafen hatten die Leute gewusst, dass Jobst und Lorenz in diesem Boote am
Sonntag eine Fahrt hatten machen wollen – einige Leute wollten sie auch zusammen
gesehen haben. Nun hatte sie das Wetter auf offner See überrascht, und sie waren
ertrunken.
Es war eine traurige Geschichte, die gar nicht für die Weihnachtszeit passte; wir
mussten lange darüber sprechen. Es tat uns so sehr leid, dass Jobst doch gefahren
war, und besonders Milo konnte es gar nicht begreifen. Lorenz musste ihn doch
schließlich überredet haben.
Großvaters Schreiber, Rasmus Rasmussen, war nicht so traurig wie wir. Er sagte,
Jobst würde doch im Zuchthause geendet haben, weil er das Stehlen nicht hätte
lassen können. Tannenzweige aus dem Walde zu holen sei ja schließlich kein
Verbrechen, aber Jobst hätte die schönsten Tannen auseinander geschlagen, ohne
auch nur einen Menschen zu fragen. Meister Ahrens habe einen guten Lieferanten
an ihm gehabt, und deshalb seien seine Tannenbäume immer so schön gewesen. Dann
hätte Jobst auch noch Hasen und Rehe in Schlingen gefangen, und wenn er bei
einer fremden, wohlgefüllten Speisekammer vorübergekommen wäre, dann hätte er
tief hineingelangt. Es war gewiss ein Glück, dass Jobst tot war, wie Rasmus meinte, aber wir waren
doch so betrübt, dass wir eine Weile unser Weihnachtsfest ganz vergaßen. Dann
schämten wir uns auch noch, dass wir um einen ganz gewöhnlichen Dieb weinten.
Das taten wir nämlich. Trotz seiner entsetzlichen Schlechtigkeit hatten wir
Jobst sehr gern gehabt, wenn wir das auch keinem Menschen verraten und ihn ja
auch nur wenig gekannt hatten. Plötzlich fiel mir Dörthe ein. Was würde sie wohl dazu sagen,
dass ihr Vater
ertrunken war? Den ganzen Tag musste ich an sie denken, und Jürgen und Milo
sprachen auch von ihr. Nun war sie immer allein; nicht nur Weihnachten, nein
auch Ostern und Pfingsten, das ganze Leben hindurch.
In unserm Hause wurde gerade Kuchen gebacken; das war eine angenehme
Zerstreuung; aber als es dämmrig wurde, lief ich doch zu Dörthe Krieger, deren
Wohnung ich jetzt ganz gut kannte, obgleich ich sie nie betreten hatte. Jürgen
lief mit, und wir hatten Mama ein Paket Kuchen für die arme Dörthe abgebettelt.
In dem kleinen, sehr verfallnen Hause am äußersten Ende der Stadt brannte schon
Licht, und als wir ohne weiteres in die Haustür und dann in die kleine, ärmlich
eingerichtete Stube stürzten, prallten wir erschrocken zurück. Denn auf einem
Holzschemel, von einem Talglicht beleuchtet, saß Jobst Krieger. Er hatte Besuch.
Vor ihm stand Meister Ahrens, der heftig auf ihn einsprach. Wir beachteten aber
den alten Tischler nicht. Wir liefen auf Jobst zu und betrachteten ihn
aufgeregt.
»Wie?« rief Jürgen; »du bist nicht tot?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll, und auch ich konnte mich einer leichten
Verstimmung nicht erwehren. Wenn man jemand einmal als tot beweint hat, dann
darf er auch nicht gleich wieder auferstehn! Jobst Krieger sah uns verlegen an.
»Lorenz ist allein gefahren,« sagte er nun. »Ich wollte ja nicht, ich –« er
stockte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Du hast Glück gehabt, Jobst Krieger,« ließ sich jetzt Meister Ahrens vernehmen.
»Wenn du mit Lorenz gefahren wärst, dann lägst du nu tot in die See! Er war auch
ein slechten Kerl, der dir zu allens verführt hat! Morgen fährst nu for mich
nachn Festland und holst mich die Zweigens, sonsten sollst mich kennen lernen!«
Aber Jobst schüttelte den Kopf. »Nein, Meister Ahrens – ich fahr nicht mehr nach den Tannenzweigen. Wenn ich in
den Wald komme –« er atmete kurz auf – »dann lass ich's doch nicht – dann greif
ich nach andern Dingen, die mir nicht gehören, und dann sitzt die Dörthe
Weihnachten allein! Und jetzt, wo Gott mich vorm Tode bewahrt hat –« er stockte
und sah uns an. Wir nickten ihm zu. Allmählich hatten wir die Enttäuschung, dass
er noch lebte, überwunden. Meister Ahrens aber rang die Hände.
»Du liebe Zeit! Nu krieg ich kein ordentlichen Tannenbäumens, wo das Geschäft
gerade flott gehn soll. Und du wohnst in meinem Haus und tust nich, was ich
will? Du musst zu Neujahr ausziehn!«
Wir hatten Meister Ahrens niemals so böse gesehen, und unser Interesse wandte
sich ihm ungeteilt zu. »Fahre doch selbst in den Wald und hole die Zweige!« rief
Jürgen. Der Alte sah ihn böse an. »Da könnt ich doch bei zu Schaden kommen!« murrte er,
und mein Bruder trat ganz nahe auf ihn zu.
»Meister Ahrens, du hast mir neulich noch gesagt, die Hauptsache im Leben wäre
ein gutes Herz. Du hast doch auch ein gutes Herz?«
»Ganzen gewißlich!« versicherte der Alte mit etwas unsichrer Stimme. »Abers die
Tannenbäumens müssen doch Zweigens haben, sonsten sind es keine Tannenbäumens,
und wenn Jobst Krieger mich nich Zweigens holen will –«
»Er will doch kein Dieb mehr sein!« rief Jürgen. »lass ihn in Ruhe und gehe zu
Schiffer Lafrenz auf der Anna Kathrinrlsaquo;. Der hat auch eine ganze
Menge von Tannenzweigen mitgebracht, die Brüder haben's gesehen!«
»Is wahr?« Ahrens ärgerliches Gesicht wurde etwas milder, dann lief er plötzlich
davon, ohne Lebewohl zu sagen. Wir entbehrten ihn auch nicht. Wir hatten unsre
Kuchen ausgepackt, und da wir Jobst Krieger verziehn hatten, so durfte er sie
probieren. Jürgen und ich sagten ihm auch unsre Weihnachtslieder auf. Der Übung
halber und auch deswegen, weil sie uns immer im Kopf herumspukten, und wir waren
eigentlich etwas beleidigt, dass Jobst uns gar nicht lobte. Er saß ganz still und
hatte beide Hände vor sein Gesicht gelegt. So still war er, dass es uns, als wir
nacheinander das »Amen« von unsern Verslein gesprochen hatten, doch etwas
unheimlich zu werden anfing. Aber da kam Dörthe ins Stübchen gestürzt, und ihre
Überraschung, uns zu sehen, war so groß, und das Vergnügen über die Kuchen noch
so viel größer, dass wir ungemein heiter wurden.
Jobst Krieger stand jetzt auf und sagte, dass er uns nach Hause bringen wolle;
unsre Eltern würden gewiss nicht wollen, dass wir so lange bei ihm blieben. Wir
sahen die Richtigkeit dieser Worte ein, und als wir neben ihm auf der dunkeln
Straße gingen, stieß Jürgen plötzlich einen schweren Seufzer aus.
»Jobst, wie furchtbar schade ist es doch, dass du ein so schlechter Mensch bist!
Ich mag dich gern leiden – viel lieber als einige Leute, die niemals im
Gefängnis waren!« »Ich auch!« versicherte ich, und Jobst stand still und legte ganz leise seine
Hände auf unsre Haare.
»Mir ist's auch leid genug,« murmelte er; aber was er noch hinzusetzte, konnten
wir nicht verstehn; seine Stimme war ganz heiser geworden. Dann war er in der
Dunkelheit verschwunden, und wir mussten den Rest des Heimwegs allein
zurücklegen.
Das war nun nicht so schlimm; wir waren nicht ängstlich und hatten außerdem eine
Fülle von Unterhaltungsstoff, der auch nicht ausging, als wir den andern von
Jobst Krieger und von dem Umstande, dass er noch lebe, berichteten. Wir wollten
ihm alles mögliche zu Weihnachten schenken, alte Anzüge von Papa, die uns nicht
gehörten, Esswaren, über die wir keine Verfügung hatten, und vor allem einen
Katechismus, damit er die zehn Gebote noch einmal durchlerne.
Aber es kam anders. Als wir am Tage vor Weihnachten Jobst Krieger und seine
Tochter feierlich zu uns einladen wollten, erfuhren wir, dass beide in der Nacht
vorher verschwunden waren. Sie hatten ihre armselige Habe zurückgelassen und die
Insel verlassen. Sie kamen auch nicht wieder, obgleich wir das ganze
Weihnachtsfest auf sie warteten, und niemand konnte uns sagen, wohin sie
gegangen seien.
Dieses plötzliche Verschwinden betrübte uns außerordentlich, und wir trösteten
uns nur allmählich mit dem Gedanken, dass uns jetzt kein Mensch verbieten konnte,
an Jobst und Dörthe zu denken und von ihnen zu sprechen. Unser Weihnachtsabend
war trotz alledem sehr schön, und wir schenkten die für Jobst bestimmten Sachen
andern Leuten, die es auch nötig hatten.
Nur Meister Ahrens feierte kein fröhliches Weihnachtsfest. Erstens waren seine
falschen Tannenbäume lange nicht so hübsch wie sonst, obgleich er Zweige
bekommen hatte, und dann fiel es den Leuten ein, dass er doch vielleicht den
Jobst oft zu hart bedrängt und ihn schon mehrere Jahre hindurch veranlasst hätte,
in den Wald zu gehn und zu stehlen. Ob er nun wirklich schuld daran hatte, war
schwer zu sagen; jedenfalls ging er kümmerlich gebeugt einher und klagte über
die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen.
Mehrere Weihnachtsfeste waren vergangen. Meister Ahrens machte immer noch
falsche, hässliche Tannenbäume, und wir selbst sprachen nur manchmal noch von
Jobst. Zuerst hatten wir uns ausgedacht, dass er wahrscheinlich nach Amerika
gegangen sei und als reicher Mann zurückkehren würde. Dann trug Dörthe seidne
Kleider, und er würde uns allen etwas Wundervolles zu Weihnachten schenken. Wir
stritten uns darüber, ob wir lieber eine goldne Mundtasse oder einen goldnen
Teller haben wollten; allmählich aber vergaßen wir ihn fast, bis wir an einem
Weihnachtsabend ein sonderbares Paket mit der Post bekamen.
Es trug Jürgens, Milos und meinen Namen und kam aus einem Orte, von dem die
großen Leute sagten, dass er in Ost- oder Westpreußen läge. Dieses Paket enthielt
ein sauber geschnitztes kleines Boot, das mit frischen Christrosen angefüllt und
in köstliche Tannenzweige verpackt war. Dabei lag ein Zettel, auf dem mit
ungeübter Hand die Worte geschrieben waren: Und hat ein Blümlein bracht mitten
im kalten Winter. Da wussten wir, dass diese Sendung von Jobst Krieger kam, und
freuten uns außerordentlich über sie. Besonders darüber, dass er von den
Weihnachtsliedern, die wir ihm aufgesagt hatten, etwas behalten hatte. Denn wer
auch nur ein wenig von seinen Weihnachtsliedern im Gedächtnis behält, der kann
doch ganz gewiss kein schlechter Mensch sein.
Meister Ahrens sagte dasselbe. Er hatte mit derselben Post eine Geldsumme
bekommen, die, wie er fest glaubte, von Jobst Krieger kam, weil er ihm gerade
soviel Geld schuldig gewesen war. Eigentlich hast du das Geld nicht verdient! sagte Jürgen, der dem
alten Tischler die Behandlung von Jobst nicht vergessen konnte.
Ahrens fuhr sich über den kahlen Kopf und seufzte.
»Nee, eigentlich nich! Abersten wenn ich nu die Hälfte an die Armens gebe, und
wenn es mich sowieso all die Jahrens leid getan hat, dass ich nich nett gegen den
Jobst war? Ich habe sonsten warhaftigen Gott ein furchtbar gutes Herz – bloß bei
die Tannenbäumens, da bin ich eigen mit gewesen, weil es so'n gutes Geschäft
war.« Ahrens richtete wirklich eine Weihnachtsbescherung für eine arme Familie aus,
und seit der Zeit sprach er noch mehr als sonst von seinem guten Herzen.
Sonderbarerweise waren es die Kinder dieser Familie, die nicht bei Dörthe
Krieger in der Schule hatten sitzen wollen. Das war aber lange vergessen, und
der von Ahrens verfertigte falsche Tannenbaum warf auch über sie seinen
weihnachtlichen Schein, und ihre Freude war echt.
Denn das Christkind in seiner Milde fragt nicht nach den Verdiensten und
Schwachheiten der armen Erdenkinder. Sonst müsste es aufhören, alle Jahre
wiederzukommen. |