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Eine Geschichte von Zwillingen
Es war einmal ein Bursche, der hatte einen Zwillingsbruder. Dieser war so klein, dass er ihn in die Tasche stecken konnte. Die beiden Brüder verstanden sich aber recht gut, und was dem Kleinen an Kraft fehlte, besaß er dafür an heimlichem Wissen: Er konnte nämlich zaubern. Als nun unser Bursche so etwa zwanzig Jahre alt war, wollte er heiraten. Und eines abends, als er auf seinem Lager lag und der Kleine neben ihm auf dem Kopfkissen, sagte er: »Bruder, hör: Ich möchte gern heiraten. Was meinst du, wo ich ein hübsches Mädchen finde?« Da antwortete der Kleine: »Großer, wenn du heiratest, dann will auch ich nicht allein bleiben.« »Cut, Kleiner«, sagte der Bursche, »aber wo werden wir eine Frau finden, die so klein ist wie du?« »Laß mich nur machen!« sagte der Kleine. Und er zog ein Stück Holzkohle hervor, ließ sich von seinem Bruder auf eine Steinplatte setzen und zog dort mit der Kohle einen Kreis. Dann befahl er dem Burschen, die Kohle anzuzünden, und in die Glut warf er die Samenkapseln von einigen Kräutern. Es bildete sich eine Rauchsäule, die eine Mädchengestalt annahm. Und das Mädchen begann zu sprechen: »Was willst du von mir?« »Ich«, sagte der Kleine, »suche für mich und für meinen großen Zwillingsbruder hier zwei Frauen, nämlich eine große und eine kleine.« »Da bist du bei mir beim richtigen Mädchen; ich habe nämlich eine große Zwillingsschwester, so, wie du einen großen Bruder hast. Wenn ihr über die Berge zu uns kommt, dann wollen wir heiraten, denn unser Vater und unsere Mutter sind gestorben, und wir leben hier ganz allein.« Als die Kohle erloschen war, verschwand auch das Mädchen in der Rauchsäule. Der Kleine ließ sich von seinem Bruder wieder auf das Bett setzen, und sie schliefen bald ein. Am nächsten Tag sagte der Kleine dem Burschen, was er für die Reise einpacken sollte, und als der alles besorgt hatte, wie sein kleiner Bruder wollte, steckte er den Kleinen in die Tasche und machte sich auf den Weg. Als sie den ganzen Tag gewandert waren, kamen sie ins Gebirge. Und am Abend suchte der Bursche einen geeigneten Platz, legte eine Decke hin und setzte seinen kleinen Bruder darauf. Dann machte er sich daran, Holz zu sammeln und ein Feuer anzuzünden, darauf kochte er das Abendessen für sich und den Kleinen. Als sie so am Feuer saßen, kam ein alter Mann daher und fragte: »Darf ich mich etwas an euerm Feuer wärmen? Es gibt einen kühlen Abend.« » Ja freilich!« sagte der Kleine. »Setz dich her, und iss mit uns! Mein Bruder kocht gerade, doch ist das Essen fast fertig.« Der Alte ließ sich nicht lange bitten, er setzte sich zu den ungleichen Zwillingen und aß, was sie ihm anboten. Und als sie mit dem Essen fertig waren, fragte er: »Woher und wohin?« »Wir gehen übers Gebirge, um zwei Mädchen zu heiraten, eine Kleine und eine Große«, sagte der Bursche. »Eine Kleine und eine Große?« fragte der Alte. »Du hast richtig gehört«, wiederholte der Bursche. »Dann muss ich euch warnen«, sagte der Alte, »denn die beiden Mädchen werden von einer bösen Hexe bewacht.« »Das wissen wir bereits«, sagte der kleine Bruder, »aber wir wissen noch nicht, wie wir die Hexe aus der Sache heraushalten können.« »Nun«, meinte der Alte, »ein Dienst ist des andern wert. Ihr habt mich hier aufgenommen, und so werde ich euch morgen die alte Hexe vom Halse schaffen. Jetzt aber lasst uns schlafen!« Am andern Tag machten sie sich zu dritt auf, und der Kleine wollte diesmal nicht in die Tasche, sondern er ritt auf der Hüfte seines großen Zwillingsbruders. Gegen Abend kamen sie in das Dorf, wo die beiden Mädchen lebten. Sie gingen hinein und wurden freundlich aufgenommen. Aber kaum hatten sich alle zu Tisch gesetzt, als es begann zu blitzen und zu donnern. Dann sprang die Tür auf, und die Hexe kam herein. »Ho!- rief sie. »Hier geht es ja lustig zu! Hier soll wohl ohne mich geheiratet werden?« »Nein«, sagte der Alte, »heute ist auch dein Hochzeitstag! « »So?« fragte die Hexe. »Und wo ist wohl mein Bräutigam?« »Hier steht er, vor Euch!« versetzte der Alte darauf, und er schlug mit einem Knüppel auf die Alte ein, dass die Fetzen flogen. »Hör auf! Hör auf!« schrie die Hexe, doch der Alte ließ nicht nach, bis alle Rinde von der Hexe abgeschlagen war. Da stand auf einmal ein schönes junges Mädchen da, das nahm dem Alten den Knüppel aus der Hand und sagte: »Wie du mir, so ich dir!« Aber es hatte kaum den Alten mit dem Stecken angerührt, da verwandelte er sich in einen jungen Burschen. Und so gab es am nächsten Tag eine dreifache Hochzeit. |
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