Der Waldschrat und die Grottennix
Waldmärchen
In einem abgelegenen Wald am Fuß eines felsigen Hügels im Frankenlande lebte einst ein Waldschrat, nicht sehr wild anzusehen und auch eher sanft von Gemüt, aber doch so haarig und rau im Wuchs, dass er eine junge Maid eher erschrecken als anziehen konnte. In seinem Wald hatte er alles, wessen er bedurfte, der Boden lag voller Eicheln und Eckern, saftige Beeren gaben dem Tag ihre süße Würze, duftende Kräuter standen auf den Wiesen, am Ende des Sommers kamen noch schmackhafte Pilze hinzu und Quellen entsprangen so reichlich, dass der Schrat keine Viertelstunde gehen musste, um seinen Durst an köstlichem Felsenwasser zu stillen. Ging die Sonne unter und seine Glieder wurden ihm schwer, kannte er schon alle Ecken und Nischen des Waldes, wo dichter Farn ihn vor den Blicken neugieriger Spaziergänger oder umherstreifender Waidmänner verbarg und ein weiches Lager von samtigem Moos ihm eine erquickende Nachtruhe bescherte. So lebte der Schrat schon viele Jahrhunderte, und gern hätte er mehr von seinem heimatlichen Fleckchen Erde gesehen, doch er wusste, dass er an den Stätten, wo die Menschen wohnten, großes Erstaunen und arges Grausen bewirkt hätte. Denn die, die ihm bisher begegnet waren, hatten oft mit blankem Entsetzen fluchtartig den Wald verlassen, und wenn ihn auch manchmal ein Pilzsucher ein Stück des Weges begleitete, so endete der gemeinsame Gang meist dann, wenn er anhub, ein paar Sätze zu reden, denn seine Art zu sprechen war der des Menschen doch recht fremd. So mieden die Bewohner der umliegenden Fluren und Dörfer seinen Wald und er war verrufen als Kinderschreck und Nachtgespenst, das einsamen Wanderern auflauerte.
Aber auch er mied einen Winkel seines Waldes, wo ein Wesen hauste, das ihm nicht geheuer war. Dort, an einem Quell in der steilen Felsenwand, hauste ein eigenartiges Wesen, kein wahrer Mensch, aber auch nicht recht Gespenst, nur nächtlich wahrzunehmen, mit geschmeidigen Bewegungen im silbrigen Schein des Mondes. Niemals verließ es das Wasser, und kam jemand in seine Nähe, hörte er nur ein kurzes Rauschen und sah höchstens ein kurzes Aufblitzen eines wendigen Körpers mit langen, goldenen Haaren, die seine Konturen ganz bedeckten, bevor es wie vom Erdboden verschluckt war. In einer mondhellen Nacht, als der Schrat einmal in die Nähe des Felsens geriet, sah er es plötzlich vor sich und er glaubte, statt der Füße zur Fortbewegung ein Flosse wie die eines Fischs zu sehen. Da aber stieß das Wesen einen klagenden Schrei aus, wirbelte eine Wasserwolke auf und verschwand vor seinen Augen. Er aber wusste nicht, ob es wirklich entschwunden war oder sich nur durch Zauber seinen Blicken entzogen hatte, zumal er auf seinem Rückweg ständig glaubte, neben und hinter sich ein Rascheln und Wassergeplätscher zu hören, so dass er eine unruhige Nacht verbrachte und seither große Furcht vor dem seltsamen Geschöpf hatte.
So streifte der Schrat weiter durch seinen Wald, und wenn er doch alles hatte, was er zum Leben brauchte, so wurde er doch zusehends rastloser und missmutiger, denn auch wenn er gesättigt oder ausgeruht war, merkte er doch, dass ihm etwas fehlte und er fühlte es jedes Mal gerade dann, wenn er sah, dass Menschen in trauter Zweisamkeit den Wald betreten hatten; wenn sie sich liebkosten und ihre Hände hielten, wusste er nicht, welches Ziel sie damit verfolgten und dennoch bereitete es ihm einen seltsamen Schmerz, wenn es ihm bewusst wurde, dass keiner seine Hand halten, seine Lippen berühren oder das Lager mit ihm teilen würde. Als er so an einem lauen Sommerabend in der Dämmerung mit frisch gesammelten Wurzeln, Beeren, aber auch seltenen Steinen und Zauberkräutern sein Lager aufsuchen wollte, geschah es: In einem Augenblick der Unachtsamkeit stieß er unvermittelt im hohen Gras auf das gefürchtete Wasserwesen, das sich zu ihm umwandte und ebenso wie er erstarrte. Heftig klopfte sein Herz, seine Hände wurden schwach, die Furcht würgte ihm die Luft ab. Würde er jetzt nicht nur die gesammelten Schätze, sondern auch sein Wohlergehen oder gar sein leben verlieren? Würde er sein Dasein verzaubert oder verkrüppelt im Verborgenen weiter fristen müssen, in ständiger Angst vor der Rachsucht eines Zauberwesens, in dessen Reich er eingedrungen war und dessen wohlgehütetes Geheimnis er unversehens gewahr wurde? Doch auch dem Wesen stand die Angst im Gesicht: wehrlos war es, zu weit entfernt vom schützenden Wasserlauf, ausgeliefert einem Unhold mit Bärenkräften und wildem Äußeren, der die kräftigsten Wurzeln dem Boden entreißen und selbst noch den härtesten Stein spalten und in Stücken an sich nehmen konnte? Unendlich lang ruhten ihre Blicke aufeinander, und der Schrat sah schließlich, dass er ein weibliches Wesen vor sich hatte. Nicht wusste er jetzt, was folgen würde, doch er nahm die Hand der Nixe und strich sie mit der derselben Zärtlichkeit, wie er es bei den Menschen auf ihrem Weg durch den Wald gesehen hatte. Er fühlte, wie sie zitterte, doch sie spürte, dass von dieser Hand Wärme ausging und dass im Blick des Fremden kein Böses lag. Da nahm sie sich ein Herz, sprach ein Wort, und es zeigte sich, dass ihre Sprache die gleiche war. So fühlten sie, dass sie, wenn auch niemand von ihnen von nun an im Reich des anderen dauerhaft leben konnte, doch nicht allein waren. Lange verweilten sie beieinander und sprachen kein Wort. Ihre Wege teilten sich dann wieder, aber ebenso fanden sich erneut, denn ihre Wärme und das Gefühl, ein gleiches Schicksal zu teilen und füreinander zu empfinden, führte sie immer wieder zusammen.
Ebenso, wie sie voreinander die Furcht verloren hatten, verloren nun aber auch die Menschen die Furcht vor dem Wald. Immer häufiger sahen Wanderer, spielende Kinder und Spaziergänger das trauliche Paar und so manches mal saßen Rastende und die beiden Waldwesen zusammen und es wurde ihnen gar nicht gewahr, dass es der einen an den menschlichen Gliedmaßen, dem anderen an der rechten Bekleidung und Umgangsformen mangelte. Da so mancher sich aber doch erschrak, vor allem wenn er glaubte, ein paar Worte wechseln zu können, bedeckten sie sich und schwiegen, wenn sie Gäste hatten und fühlten sich doch wohl zusammen mit den fremdartigen Wesen.
Und doch bewegte jeden der beiden der Gedanke: auch wenn wir uns so noch gut bedecken und unsere Art verbergen, es sind doch andere Geschöpfe. Nie werden wir eins mit ihnen sein und zu ihrer Gemeinschaft gehören. Und auch wenn sie unsere Gesellschaft dulden, spätestens wenn sie die Unterhaltung suchen, zeigt sich unsere Fremdartigkeit und löst großes Erschrecken aus. So befiel sie, wenn sie nun auch so viel Glück erlebt hatten, doch wieder etwas Traurigkeit. In einer Nacht aber, als der Himmel klar und voller Sterne war, zog eine Sternschnuppe ihre Bahn und jeder der beiden hatte den gleichen Gedanken. Als die Morgensonne durch die Wipfel brach, sah man an der Stelle, wo die Wanderer letztmalig mit den beiden Waldwesen zusammen gesessen waren, zwei Felsen, wie eine Nixe und wie ein breiter Schrat, doch auch wie zwei Sitzbänke, mit warmem Moos bedeckt, mit Kuhlen und Lehnen, so dass Kinder und auch liebende sich auf ihnen wohlfühlen konnten und so mancher Wanderer es vorzog, sich auf ihnen statt auf den lieblos gezimmerten Bänken in der Umgebung niederzulassen. Von nicht wenigen hörte man dann, wenn sie auf ihnen sitzend sich liebkost oder ausgesprochen hätten, dass sie das Glück ihres Lebens oder auch eine verlorene Liebe wieder gefunden hätten.
So heißt die Ecke heute der Nixenstein, im Volksmund heißt sie aber treffender die Insel der Liebenden. Und wenn zwei Menschen sich ihrer Gefühle nicht sicher sind, suchen sie auch diese Stelle auf, denn zuweilen haben die Glücksfelsen auch schon die bei ihnen Ratsuchenden vor großen Dummheiten bewahrt.
Dieses Märchen wurde mit von Hartmut Haas-Hyronimus (http://members.aol.com/yronimus ) zur Verfügung gestellt.