Wahrheit und Lüge

Es traf sich, dass sich in einer großen Stadt zwei arme Schlucker befanden, Fremdlinge, Zugewanderte, Faulpelze, Kneipbrüder, Taugenichtse. Der eine hieß Wahrheit und der andere Lüge. Sie waren eines Sinnes, verkehrten miteinander wie Kameraden und eng verbrüderte Freunde. Sie waren übereingekommen, hatten sich das Wort gegeben und abgenommen, dass den Vorrang der ältere von ihnen, Wahrheit, haben sollte, und wenn es ihnen nicht gut ginge, sollte zu ihrem Vorteil Lüge den Vorrang haben und gut Kommando führen. Aber sie hatten keinen Pará (kleinste Münze) in ihrem Beutel, weder der eine noch der andere. Sie trieben sich in der Stadt den ganzen Tag umher von Gasse zu Gasse alles umsonst und vergebens. Es wurde Abend, und der Abend ging vorüber, und ihr Bauch knurrte, um es kurz zu sagen und keine Umschweife zu machen; denn die Nacht war nahe, wo die Kinder schlafen und die alten Weiber die Ohren spitzen.

Die guten Freunde hungerten sehr und gingen in eine Garküche und setzten sich, um zu essen. Und Wahrheit, der den Vorrang hatte, rief den Koch und sagte zu ihm, ob er ihnen zu essen geben wolle und sie ihn bezahlen dürften, wenn sie Geld bekämen, denn sie hätten keines. Der Koch war damit nicht einverstanden, dass er ihnen etwas geben solle, da sie doch niemand kenne noch für sie einstehe. Und sie standen auf, betrübt und verzweifelt, und gingen hinaus und weiter und begaben sich in eine andere Garküche; aber auch da hatten sie dasselbe Schicksal. Sie machen überall die Runde in den Garküchen - alles umsonst! Der Abend ging vorüber; sie zitterten vor Kälte und Frost und begaben sich in ein Chan, eine Herberge, ohne gegessen zu haben, elend und verzweifelt. Sie ließen sich auf ein Lager nieder und drehten und wälzten sich die ganze Nacht und schlossen kein Auge.

Als es Tag geworden und der Chanwirt die Chantür geöffnet hatte, und sie auf gestanden und herausgegangen waren, da sprach Lüge zu Wahrheit: »Gestern, Kamerad, ist es uns übel ergangen, und wir sind ins Elend geraten: unter diesen Umständen werde ich das Kommando führen.« Sie gingen geradenwegs ganz früh beim Morgengrauen in eine Garküche für Hammelfüße. Sie setzten sich: Lüge ruf t keck den Wirt und bestellt bei ihm allerlei Speisen. Er bereitet sie, brachte sie auf den Tisch, und sie aßen sich satt und pflegten sich. Lüge jedoch erblickt einen Gast, der aufstand, zum Ladentisch des Wirts ging, einen Napoleon (Goldstück) gab, den Rest herausbekam und wegging; und der Wirt warf den Napoleon in die Kasse. Da rief Lüge den Wirt, er solle die Rechnung machen, damit er ihn bezahle. Der Wirt rechnete zusammen und sagte zu ihm: »Mit Verlaub, fünf Piaster! « Als eine Weile vergangen war, ruft er ihn wieder und sagt zu ihm, er solle ihm den Rest bringen. »Was für einen Rest?« fragt der Wirt. Lüge schreit laut: »Den Rest von dem Napoleon, den ich dir gegeben habe! « Der arme Wirt wurde verwirrt und bestürzt, und nachdem er sich gefasst hatte, erwiderte er: »Wann hast du mir einen Napoleon gegeben, Meister?« - »Damals, als der große Wind ging«, sagte Lüge spöttisch. »Höre, Verkehrtester, meinst du dies im Ernst?« Lüge schrie wie verrückt: »Himmel und Hölle, gib mir den Rest heraus, dass ich dich nicht lächerlich mache!« Und mit einem Satz springt er auf, schreitet zum Schanktisch, zieht die Kasse heraus, streckt die Hand aus und holt aus der Kasse den Napoleon heraus und zeigt ihn den Anwesenden dies alles mit einer großen Sicherheit und einer Zunge, scharf wie eine englische Schere. Der Wirt ergreift, um vor seinen Gästen nicht übel dazustehen, eine Handvoll Geldstücke aus der Kasse, streut sie auf den Ladentisch, zählt nach und gibt Lüge auf einen Napoleon heraus mit Abzug der fünf Piaster. Dann seufzt der Arme tief auf und sagt: »Ich bedaure vielmals, Meister.«

Als Wahrheit aus der Garküche auf den Platz hinaustrat und auch Lüge erschien, hielt sich Wahrheit nicht mehr zurück und sagte: »Hier ist auch die Wahrheit, Unseliger, aber sie sprach nicht, denn sie ließ uns gestern den ganzen Tag ohne Nahrung, und wir waren nahe daran, Hungers zu sterben, während die Lüge es zu Geld brachte.« Damit gingen sie auf und davon und machen noch immer ihren Weg.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.