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Der Vater des Herzens
Marion Wolf


An ihrem elften Geburtstag erinnerte sich der Kaiser an seine Tochter Anna. Die Regierungsgeschäfte hatten ihn so in Beschlag genommen, dass er sie fast vergessen hatte.

War sie nicht in der Obhut einer Amme? Prinzessin Anna war ein merkwürdiges Kind mit großen Augen und feuerroten Haaren. Heute war der Jahrestag ihrer Geburt und jetzt fragte er sich, was aus ihr geworden war. „Wo ist eigentlich meine Tochter?", fragte er und holte die Perlenkette ihrer verstorbenen Mutter heraus. „Heut Abend möchte ich mit Anna speisen."

„Die Prinzessin wird gewünscht“, raunte es durch die Gänge, von einem Lakai zum anderen, in alle Räume des Palastes bis in den letzten Winkel – doch keiner wusste, wo sich Kaisers Töchterlein aufhielt. Zurück raunte es die gleichen verschlungenen Wege. Kurz vor dem Herrscher wurde die Nachricht abgefangen: Der Oberhofmeister riskierte nicht, dem Kaiser so eine Botschaft zu überbringen – das hätte ihm den Kopf gekostet! Nicht nur der Kaiser hatte sein eigenes Kind vergessen, nein, der ganze Hofstaat war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass keiner auch nur
einen Gedanken an die kleine Anna verschwendet hatte! Der Oberhofmeister grübelte: Wo war denn nur die Amme? Sie war doch verantwortlich für das Wohlergehen der Prinzessin!

Sofort eilte er in den verwaisten Flügel des Schlosses, den einst die verstorbene Kaiserin bewohnt hatte. Dort fand er eine kleine Zofe mit einem Federbusch den Staub von den Möbeln wedelnd und dabei selbstvergessen ein Liedchen trällernd. „Wo ist Prinzessin Anna?“ fragte er forsch. Die Zofe sah sich um und erschrak:

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie kleinlaut, „ich kenne sie nicht.“ „Und wer hat Dich angestellt?“ fragte der Oberhofmeister. „Der Oberlakai“, erwiderte sie. „Er prüft meine Arbeit und gibt mir den Lohn, aber wohnen tut hier keine Menschenseele.“

„Führe mich zu ihm!“, befahl der Oberhofmeister Die kleine Zofe lief die Gänge entlang, zur Türe hinaus in den Garten und er stelzte wichtigtuerisch hinterher. Im Pavillon saßen der Oberlakai, der Oberhofkutscher und der Oberhofgärtner beim Kaffee.
„Was treibt Ihr Müßiggang und tut Euch gütlich an des Kaisers Türkentrank?“ herrschte er sie an.
„Oh, willkommen verehrter Oberhofmeister, wollt Ihr auch ein Tässchen? Wir halten hier nur eine Konferenz“, schleimte der Oberlakai. „Mir ist egal, worüber ihr palavert, die Prinzessin ist verschwunden! Weiß wer, wo die Amme ist?“ Der Oberlakai grinste: „Aber die habt Ihr doch selbst entlassen! Erinnert Ihr Euch nicht? An Annas siebtem Geburtstag...“ Der Oberhofmeister erstarrte: „Ich? – keine Ahnung.“ Doch der Oberlakai half seinem Gedächtnis auf die Sprünge: „Ihr meintet, die Amme sei nun überflüssig, weil die Prinzessin keine Milch mehr brauche.“
„Ach jaaa“, dämmerte es dem Oberhofmeister, „aber dann hat Anna doch einen Lehrer bekommen. Wo ist denn der geblieben?“ Das konnte der Oberhofgärtner beantworten: „Der Lehrer hat sie zwei Jahre unterrichtet. An ihrem neunten Geburtstag war der Kaiser unterwegs und Anna krank vor Sehnsucht nach ihrer Amme. Da empfahl der Hofarzt, das Kind solle etwas von der Welt sehen, um auf andre Gedanken zu kommen. Der Lehrer stimmte zu, weil Reisen bekanntlich bildet.“ Der Oberhofmeister erschrak: „Ja, wo sind sie denn hingefahren?“ Das wusste der Oberhofkutscher: „Ein Jahr fuhren wir gemächlich durchs Land. Als wir zurück kamen, suchte Anna ihren Vater, um ihm zu erzählen, was sie erlebt hatte...“

Der Oberhofmeister bebte vor Ungeduld: „Und??“ „Der Kaiser war wieder nicht da und hatte auch ihren zehnten Geburtstag vergessen. Da wurde sie traurig, schickte den Lehrer fort und wollte im Park spazieren gehen.“
„Und dann???“ Der Hofmarschall saß wie auf Kohlen. Der Oberlakai berichtete: „Sie hatte mir fest versprochen, den Park nicht zu verlassen – ist dann aber nie wieder aufgetaucht.“ Dem Oberhofmeister sträubten sich die Haare. „Du meine Güte! Wenn Anna sich im Wald verirrt hat, haben sie womöglich die Wölfe gefressen – nicht auszudenken!“ Ihm brach der kalte Schweiß aus, das war zu viel. Er holte tief Luft und überlegte: Was war seither geschehen? Irgendwer musste sich doch um die Prinzessin gekümmert haben... Plötzlich rannte er wie von der Tarantel gestochen in die Schlossküche. „Köchin, wann hast Du zuletzt für Anna gekocht?“

Die Köchin sah ihn erstaunt an: „Vor zehn Monaten. Als die Prinzessin an ihrem 10. Geburtstag von der Reise zurückkam, hat niemand sie beachtet. Einen Monat bestellte sie ihre Lieblingsgerichte
und aß bei mir in der Küche. Schließlich erklärte sie mir, das Leben im Schloss sei öde, sie zöge fort, wo sie willkommen sei.“ Der Oberhofmeister rang nach Luft: „Das ist ja unglaublich! Die
Prinzessin verlässt das Schloss und keiner kriegt Bescheid? Wer ist denn mit ihr gegangen?“ Die Köchin erinnerte sich: „Da waren drei Knaben, die trugen ihre Taschen, wanderten mit ihr durch
den Park und waren auf einmal verschwunden. Ich dachte erst, das sei ein Spiel, aber Anna kehrte nie wieder.“

Der Oberhofmeister war am Platzen: „Warum hat sie das nicht gemeldet?“ Die Köchin war sich keiner Schuld bewusst: „Hat denn irgendwer nach ihr gefragt? Der König nicht und auch sonst keiner! Ich dachte, sie sei in eine Heimschule gekommen, wo sie Gesellschaft hat.“

Dem Oberhofmeister schwante Fürchterliches. Nachdenklich wankte er zum Pavillon zurück und erteilte Befehle:
„Du, Oberlakai, suchst das Schloss ab, alle Rumpelkammern und Turmverliese, außerdem lässt Du den Speisesaal auf Hochglanz polieren. Du Oberkutschmeister, lässt alle Kutschen ausfahren und nach der Prinzessin suchen – der Kaiser wünscht mit ihr zu speisen! Und Du Oberhofgärtner, suchst mit Deinen Söhnen den Schlosspark ab und bringst Blumenschmuck. Wer die Prinzessin findet, bekommt eine Belohnung von 1000 Goldtalern.“
„Wann soll Anna denn an der kaiserlichen Tafel erscheinen?“ fragte der Gärtner. „Halb acht beginnt das Festessen“, seufzte der Oberhofmeister und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wenn das Kind dann nicht da ist, fürchte ich um meinen Kopf.“ Punkt sechs Uhr kamen die Kutscher in den Schlosshof gefahren. Ein Mädchen mit rotem Haar und großen Augen werde gesucht, hatten sie ausgerufen und brachten jede mit, die ähnlich aussah und Prinzessin sein wollte. Der Oberhofmeister schluckte, als 40 Mädchen vor ihm standen und behaupteten, Kaisers Töchterlein zu sein. Er ließ sie aufreihen, betrachtete sie argwöhnisch und rief den Hofmedikus. Der sortierte jene aus, die zu groß oder zu klein waren, zu alt oder zu jung. 30 blieben übrig und wurden gleich von Badefrauen geschrubbt – da entpuppte sich manches Haar als mit Rötel gefärbt. Blieben 20 übrig, die weiter behaupteten, Prinzessin zu sein. Die sollten vortanzen, wie bei Hofe üblich – das konnte nur die Hälfte, da waren ’s nur noch zehn. Die lenkte der Hofnarr mit Späßen ab, versteckte sich hinter einer Säule und rief „Anna“. Da drehten sich drei Mädchen um – die andern konnten es nicht sein. Nun fiel dem Oberhofmeister die Köchin ein. Er schnappte sich die drei Annas, schleppte sie in die Küche und ließ dort jede erzählen, was ihre Leibspeisen seien. „Nun?“ fragte er die Köchin, „welche ist die Richtige?“

„Keine“, antwortete die Köchin, „seht selbst in meinem Tagebuch nach, was ich der Prinzessin kredenzte. Der Hofmarschall schaute sich das königliche Kochbuch an und kam zum gleichen Schluss.  Die falschen Köngistöchter wurden heimgeschickt, der Hofmeister war mit seinem Latein am Ende und betete zu Gott, die Lakaien möchten im Schloss eine Spur der Prinzessin gefunden haben. Doch auch diese Hoffnung zerschlug sich. Mit einem Kloß im Hals, den Strick schon an der Gurgel fühlend, trat er in den Speisesaal und holte tief Luft – da kam der Oberhofgärtner herein
und geleitete die Prinzessin zu ihrem Vater. „Papa“, sagte sie leise. „Du bist groß geworden, Anna“, bemerkte der Kaiser. „Du hast mich 4 Jahre lang nicht gesehen“, erwiderte die Prinzessin traurig. „Ich hatte viel zu tun“, rechtfertigte sich der Kaiser, „jetzt freu Dich über diese Perlenkette zu Deinem 11. Geburtstag.“ Doch Anna beachtete das Geschenk kaum. Tränen tropften aus ihren
Augen. „Hast Du mich gar nicht vermisst?“ fragte sie ihren Vater. Der Kaiser blickte beschämt zu
Boden. Der Oberhofmeister indes argwöhnte: 40 Betrügerinnen hatte er entlarvt. Wer wusste, ob
der Oberhofgärtner nun die wahre Prinzessin gebracht hatte? Vielleicht war der ja nur auf die Belohnung aus? Zudem hatte dieses Mädchen ungewöhnlich rosige Wangen ...
„Die Staatsgeschäfte haben mich aufgefressen“, erklärte der Kaiser seiner Tochter, aber jetzt wollen wir Deinen Geburtstag feiern. Hast Du einen Wunsch? Ich möchte Dich glücklich sehen.“ Die Prinzessin sah ihn halb ungläubig, halb trotzig an:

„Dann soll der Oberhofgärtner neben mir sitzen und seine Söhne sollen auch mit uns speisen.“ Der Oberhofmeister befürchtete Schlimmes. „Du hast seltsame Wünsche“, erwiderte der Kaiser,
„eine Prinzessin sollte mit Prinzen verkehren.“

"Es hat Dich vier Jahre nicht gekümmert, mit wem ich Umgang hatte“, widersprach Anna. „Du hast mich fast mein halbes Leben allein gelassen und die letzten elf Monate nicht mal bemerkt, dass ich
gar nicht im Schloss weilte.“
„Was?“ rief der Kaiser empört. Wo warst Du denn so lange??!“ Anna beschwichtigte ihn: „Reg Dich ab, ich habe den Schlosspark nie verlassen! Ich lebte im Haus des Gärtners. Er hat mich behütet, wie ein Vater und seine Söhne waren meine Gespielen. Darum sind sie mir wie Brüder geworden.“
„Verzeiht, hoher Herr“, ergriff nun der Gärtner das Wort, „mir lag es fern, Euch Eure Tochter zu entfremden“, „aber keiner hieß Prinzessin Anna willkommen nach ihrer langen Reise. Sie fühlte sich so verloren in dem großen Schloss, wo jeder seinen Geschäften nachging und keiner Notiz von ihr nahm. Ich wollte sie nur bei mir behalten, bis sie vermisst würde, vielleicht drei Tage – und dann ist daraus fast ein Jahr geworden...“
„Warum hast Du mir nicht gleich gesagt, dass sie bei Dir ist?“ fragte der Oberhofmeister erbost. „Hast Du mich denn je danach gefragt oder auch nur zu Worte kommen lassen?“ Der Gärtner sah ihm streng in die Augen: „Du befiehlst nur – zuhören kannst Du nicht.“ Der Kaiser begriff, was da faul war in seinem Staate, entließ den Oberhofmeister aus seinem Amt und jagte ihn mit Schimpf und Schande davon.

„Auf ein Wort“, nahm er dann den Oberhofgärtner beiseite, „was habe ich falsch gemacht?“
„Majestät“, erwiderte jener, ein Kind gehört gehegt und gepflegt, wie ein Pflänzchen. Was dem einen Wasser und Sonne, ist dem anderen Aufmerksamkeit und Liebe.“
Der Kaiser senkte sein Haupt: „Was war ich nur für ein Vater! Das soll sich nun ändern!“ Zuerst ließ er die Knaben hereinrufen und hieß sie an der kaiserlichen Tafel willkommen. Die Prinzessin freute sich über die Einsicht ihres Vaters, legte ihre Perlenkette an und freute sich nun darüber. Das Festessen wurde aufgetischt und alle aßen mit gutem Appetit. Zwischen den Gängen erzählte Anna, was sie in den letzten Jahren erlebt hatte und der Kaiser hörte aufmerksam zu.
Zum guten Ende durfte die Rasselbande hinter dem Hofnarren her toben und die beiden Väter stießen mit einem Glas Rotwein  auf ihre neue Freundschaft an.
Seitdem hatte der Kaiser ein Auge auf seine Prinzessin und die Gärtnerbuben durften weiter fröhlich mit ihr herumtoben. Wäre die Zeit stehen geblieben, würde Prinzessin Anna noch heute mit ihnen im Schlosspark Verstecken spielen.

Der Hofnarr kann davon ein Liedlein singen...
 


Dieses Märchen wurde mir von Marion Wolf  zur Verfügung gestellt.
Das Copyright dieses Märchens liegt bei der Autorin: http://dichterseele.beepworld.de

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