Der Türke, der Italiener und der Armenier

Viele, viele Jahre ist es her, da kamen einmal mit einem Schiff Viele Kaufleute nach Naxos. Sie gingen an Land, um ihre Einkäufe zu tätigen, und unter ihnen waren drei Männer, ein Türke, ein Italiener und ein Armenier, die hatten sich auf der Fahrt kennen gelernt, und so gingen sie zusammen an Land.

Sie gingen von einem Ort zum andern und machten ihre Geschäfte, aber vom Herumlaufen wurden sie hungrig und durstig, und als sie zwischen zwei Dörfern waren, sahen sie einen Feigenbaum. Es war gerade die Zeit, da die Früchte reif waren, und da die drei Männer Lust hatten, ihren Hunger zu stillen, fragten sie nicht weiter, wem dieser Baum gehöre, sondern sie gingen in die Umzäunung hinein, wo der Baum stand, und fingen an, von den Feigen zu essen.

Aber sie blieben dabei nicht unbeobachtet, sondern ein junger Bursche, der dort in der Nähe die Ziegen hütete, sah sie, und er lief gleich zu dem Besitzer jenes Gartens und sagte: »In deinem Garten sind drei Männer und essen von deinen Feigen.«

Der Besitzer rief: »0 diese Diebe! Die werden wir ergreifen!«

Und er ging und holte einige Nachbarn, und alle liefen zu dem Garten, wo der Türke, der Italiener und der Armenier sich von den Feigen nahmen und sie aßen, und sie wollten mit Knüppeln und Äxten über sie herfallen, aber der Armenier sagte. »Gute Leute, wir mögen gefehlt haben, aber dafür mag man uns vor Gericht stellen, und nicht hier an Ort und Stelle verprügeln.«

Und die Dorfleute sahen das ein, und sie nahmen die drei und führten sie zum Hause des Dorfrichters.

Der Dorfrichter aber sagte: »Es sind Fremde, und wir dürfen sie nicht so richten, wie es bei uns üblich ist, sondern wir müssen sie so richten, wie es bei ihnen zu Hause der Brauch ist.«

Und er fragte als ersten den Türken: »Wie bestraft man bei dir daheim die Diebe? Sag es aufrichtig und lüge nicht!« - »Bei uns«, sagte der Türke stotternd, »gibt man dem Dieb zwanzig Hiebe auf die Fußsohlen.« - »So soll es geschehen!« sagte der Richter, und sie nahmen den Feigendieb und vollstreckten sogleich das Urteil.

»Nun zu dir«, sagte der Richter zum Italiener, »wie bestraft man bei dir daheim die Diebe? Sag es aufrichtig und lüge nicht!« - »In meinem Lande«, sagte der Italiener zitternd, »bekommt man soviel auf den Hintern, wie man gestohlen hat.« - »So soll es geschehen!« sagte der Richter, »gebt ihm zwanzig Hiebe auf den Hintern!«

Und damit wandte er sich dem Armenier zu, der alles gelassen beobachtet hatte. »Wie bestraft man bei dir daheim die Feigendiebe?« sagte der Richter, »sag es aufrichtig und lüge nicht!« - »Bei uns daheim«, sagte der schlaue Armenier, »ist es so der Brauch: zuerst sucht man einen, der noch nie im Leben gestohlen hat; dann gibt man ihm einen armdicken Knüppel, und dann lässt man ihn so lange zu schlagen, bis er müde wird.« - »Dein Land«, sagte der Richter, »kennt eine sehr strenge Gerechtigkeit, und nach deinem Recht sollst du gerichtet werden. « Und er wandte sich den Leuten zu und rief: »Geht und sucht einen, der noch nie im Leben gestohlen hat!«

Die Leute rannten hierhin und sie rannten dorthin, aber sie fanden keinen, der hätte behaupten wollen, noch niemals gestohlen zu haben. Und sie wussten nicht, was sie machen sollten, denn auch der Richter selbst wagte nicht, von sich zu behaupten, er hätte noch nie etwas unrechtmäßig an sich genommen. Zuletzt aber nahmen sie ein kleines Kind, einen Buben, der noch nicht sprechen konnte. Und dem gaben sie ein Stöckchen in die Hand und bedeuteten ihm, er solle den Armenier schlagen. Aber der Kleine betrachtete alles nur als einen Spaß und ein Spiel, und er streichelte mit seiner Gerte den Armenier mehr als dass er ihn geschlagen hätte, und der Armenier hatte selbst sein Vergnügen an dieser Sache. Und sobald das Kind müde geworden war, ließ man den Armenier frei, und der ging lachend auf sein Schiff, indessen der Italiener gebeugt davonschlich und der Türke sich tragen lassen musste.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.