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Der Tiergemahl

Es war einmal ein Kaufmann, der mit seinem Schiff umhergefahren ist und Handel getrieben hat. Dieser brave Mann hat eine große Familie gehabt, denn seine Frau hat ihm neun Söhne und neun Töchter geboren. Ihnen ist es gut gegangen, bis es einst die Moiren anders bestimmt hatten.

Denn als der Kaufmann wieder einmal mit seinem Kapitän, seinen Matrosen und dem schönen Schiff unterwegs gewesen ist, sind sie ganz plötzlich von einem fürchterlichen Sturm überfallen worden. Das Schiff ist hierhin und dorthin geschleudert worden, bis es endlich an einem Felsen zerschellt ist. Aber die Moira des Kaufmanns war gnädig, und während die meisten der Seeleute ertrunken sind, hat er sich an Land retten können.

Viele Tage ist er in einer wüsten Gegend umhergeirrt und fast vor Hunger und Durst gestorben. Endlich hat er einen Garten erblickt, ist in ihn eingetreten, hat an einer Quelle seinen Durst gestillt und von den Trauben gegessen, die gerade reif gewesen sind. Dann ist er vor Erschöpfung eingeschlafen.

Mitten in der Nacht ist er aufgewacht, und er hat gesehen, dass neben ihm ein großes wildes Tier gesessen ist - vielleicht ein Bär -, und als das Tier gemerkt hat, dass er auf gewacht ist, hat es gesagt: »Du böser Mensch, wie kannst du es wagen, unerlaubt in meinen Garten einzudringen, von meinem Wasser zu trinken und von meinen Trauben zu essen? Weißt du denn nicht, dass es bei Todesstrafe verboten ist, hier hereinzugehen?« - »Nein, Gebieter«, sagt der Kaufmann, »ich war so erschöpft vor Hunger und Durst, dass ich nicht mehr gewusst habe, was ich tue, und ich bitte von Herzen um Gnade.« - »Nun«, sagt die Bestie etwas milder, »hast du eine Familie?« - »ja, Gebieter«, sagt der Mann, »ich habe neun Söhne und neun Töchter, aber ich weiß nicht, wovon sie in Zukunft leben sollen, denn mein Schiff ist mit allen Waren gesunken, und ich habe nichts mehr, womit ich Handel treiben könnte.« - »Das ist schlimm!« sagt die Bestie, »aber es gibt nichts, was man nicht ändern könnte. Du hast also auch neun Mädchen?« - »ja, Herr, und eine ist hübscher als die andere.« »Fein«, sagt das Tier, »wenn du mir eine davon zur Frau gibst, so will ich nicht nur vergessen, dass du mein Verbot übertreten hast, sondern als meinem Schwiegervater will ich dir auch eines von meinen Schiffen überlassen, denn ich habe derer viele.« - »Ach Gott«, sagt der Kaufmann, »mit Freuden will ich das Angebot annehmen, und unter meinen Töchtern ist sicher eine, die Euch gefällt.« »Nun«, sagt die Bestie, »ich selber bin nicht wählerisch. Du beschreibst mich deinen Töchtern so, wie ich bin, und derjenigen, die mich so will, werde ich meine Hand reichen. Aber wenn keine mich freiwillig nehmen will, so musst du zu mir zurückkehren und für immer bei mir als Sklave bleiben. Gibst du mir dein Wort?« - »ja, Gebieter, mein Wort.«

Die Bestie hat den Kaufmann dann in einen herrlichen Palast geführt, hat ihn neu einkleiden lassen und hat ihn an eine Tafel geführt, dass der Kaiser nicht hätte besser speisen können. Dann hat das Tier Befehl gegeben, und man hat den Kaufmann zu einem großen und stattlichen Schiff geführt, und der Kapitän hat zu dem Kaufmann gesagt: »Herr, wohin soll die Fahrt gehen?«

Und am andern Tag ist der Kaufmann in seine Heimat zurückgesegelt.

Zu Hause ist ein großes Klagen und Weinen gewesen, denn alle haben gemeint, der Vater sei ertrunken. Um so größer ist nun die Freude, da der Vater nicht nur gesund, sondern mit Schätzen beladen heimkommt.

Nachdem man sich umarmt und begrüßt hat, geht es ans Erzählen. Doch wie der Vater die Geschichte mit dem Tier erzählt, wird es sehr still. Die Burschen sagen: »Nein, bei einem Tier, das hässlich ist wie ein Bär, möchte ich nicht mein Leben verbringen. Hier ist es besser.« Und die Mädchen sagen: »Nein, mit einem Tier verheiratet sein, das hässlich ist wie ein Bär, lieber den Tod!«

Da ist der Kaufmann sehr traurig geworden, hat geseufzt und hat gesagt: »So behüte euch Gott, denn ich muss zu der Bestie zurück und werde niemals wiederkehren.« - »ja, aber wer zwingt dich denn?« - »Mich zwingt mein Wort, und was man vor Gott gelobt hat, das muss man auch halten.«

Da hat die jüngste von den Töchtern gerufen: »Nein, Vater, du sollst nicht weggehen, denn ich will hinfahren und das Tier heiraten.«

Und so ist es geschehen.

Die jüngste war zugleich auch die hübscheste von den Töchtern, und das Tier war sehr vergnügt, als es das Mädchen gesehen hat. Dem Mädchen hat es am Anfang sehr vor der Bestie gegraust, aber allmählich hat sie sich daran gewöhnt und ist mit ihr gut ausgekommen.

Aber nach einem Jahr, da hat sie große Sehnsucht nach ihrem Vater, ihren Brüdern und ihren Schwestern bekommen. Das Tier hat gemerkt, dass die junge Frau ganz krank ist vor Sehnsucht, und eines Tages sagte es: »Frau, wenn du so sehr begehrst, deine Familie wiederzusehen, so will ich dir erlauben, dass du für einen Mond hinfährst. Aber merke dir: überschreite die Zeit nicht, denn sonst werde ich krank werden und sterben. Hier nimm diesen Ring! An ihm ist eine Perle, und wenn die Perle sich verfärbt, erkennst du, dass ich krank geworden bin. Und nun reise zu deinen Eltern und Geschwistern!«

Es hat ein Schiff rüsten lassen, hat seiner Frau Geschenke mitgegeben, und dann ist sie abgefahren.

Daheim war die Freude groß, als die jüngste angekommen ist und für den Vater und die Mutter, und ebenso für alle ihre Brüder und Schwestern noch reiche Geschenke mitgebracht hat. Und so haben sie in Freude zusammen gelebt, und weil in der Fröhlichkeit die Zeit schneller vergeht als im Elend, waren die 28 Tage vorbei, ehe die junge Frau das gemerkt hat.

Aber als sie an einem Morgen aufgestanden ist, ist ihr Blick auf den Ring gefallen, und ganz erschrocken hat sie bemerkt, dass die Perle sich verfärbt hat. Und sogleich hat sie das Schiff richten lassen, und obwohl ihre Eltern und ihre Geschwister sie bestürmt haben, doch noch wenigstens ein oder zwei Tage zu bleiben, ist sie auf der Stelle abgesegelt.

Als sie im Hause der Bestie angekommen ist, hat die junge Frau gesehen, dass ihr Gemahl schwer krank zu Bett liegt. Da hat sie ein so starker Schmerz überfallen, dass sie zu weinen beginnt, und ihre Tränen fallen auf das Gesicht der Bestie. Aber was ist das? Mit jedem Tropfen, der auf das Gesicht des Tieres fällt, wird das Gesicht heller und weißer. Und auf einmal ist das Gesicht nicht mehr wie bei einem Tier, sondern wie bei einem Menschen, bei einem jungen und schönen Burschen.

Und der Mann hat sich in seinem Bett aufgesetzt und hat gesagt: »Liebe Frau, du hast mich gerettet! Und nun sollst du nicht mehr einsam mit mir hausen, sondern du sollst immer einen von deinen Brüdern und eine von deinen Schwestern um dich haben. Und deine Eltern mögen dich besuchen kommen, so oft sie wollen, denn ich selber darf dieses Land nicht verlassen.«

Und so ist es geschehen. Die junge Frau ist für immer bei ihrem Gatten geblieben, aber von ihren Eltern, von den Brüdern und den Schwestern sind oft welche gekommen, um sie zu besuchen, und so ist sie nie mehr allein gewesen und hat auch keine Sehnsucht nach ihrem Heimathaus gehabt.

Und ihnen ist es gut und noch besser ergangen, und wir hoffen, dass es uns auch einmal so ergehen wird.

 


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.