Die Stiefmutter und der Prinz
Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn. Eines Tages wurde die Königin krank. Als sie wusste, dass ihre Stunden nur noch gezählt waren, sagte sie zum König: "Versprich mir, dass du dich erst dann wieder verheiratest, wenn unser Sohn groß genug ist, für sich selbst zu entscheiden."
Der König versprach es, und am selben Abend starb die Königin.
Ein Jahr nach dem andern verging, der Königssohn wuchs zu einem stattlichen Jüngling heran, und der König lebte noch immer allein.
Aber die Untertanen murrten, sie wollten eine neue Königin haben. In den Gasthäusern und auf den Märkten, in den Werkstätten und auf den Dorfplätzen sprach man bald von nichts anderem mehr.
"Ein Königreich ohne Königin, das ist wie der Taghimmel ohne die Sonne", sagten die einen.
Und die anderen, die von solchen Vergleichen nichts hielten, sagten: "Ein Königreich ohne Königin hat keinerlei Bedeutung."
Ja, so war das.
Und als die Stimmen, die dies miteinander sprachen, immer lauter wurden, beschloss der König eines Morgens ärgerlich, die Erstbeste, die ihm an diesem Tag über den Weg käme, zu heiraten.
Davon wollten seine Räte nichts wissen.
"Die Erstbeste - wie stellt ihr euch das vor? Es könnte ja eben sogut eine Prinzessin wie eine Küchenmagd sein. Und eine Küchenmagd wollt Ihr doch gewiss nicht heiraten."
Der König besann sich. Seine Räte hatten recht. Aber was ist das für ein König, der seinen Worten untreu wird, der beschließt und seine Beschlüsse nicht ausführt? Und der König blieb dabei: die erst beste Frau, die ihm über den Weg käme, wollte er heiraten. Damit ihm aber nicht etwa tatsächlich eine der Mägde über den Weg liefe, verließ der König das Schloss durch einen Geheimgang. Auf seinen morgendlichen Ausritt wollte er selbst an diesem Tag nicht verzichten.
Doch kaum hatte sich das große Tor in der Mauer hinter ihm
geschlossen, da stand vor ihm ein Weib, das war so hässlich, wie altes, ungereinigtes
Tongeschirr.
"Ich warte hier schon seit dem frühen Morgen auf Euch", sagte es und zeigte
dabei den einzigen krummen Zahn, den es im Mund hatte. "Sagt, wann wollen wir
Hochzeit halten? Der Winter naht und da möchte ich gern meine Füße am Kamin im
königlichen Palast erwärmen."
Der König machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verjagen, und
sprach: "Was fällt dir ein, du Unglückliche. Da hast du zehn Goldstücke' wenn du
sie gut einteilst, wirst du zehn Winter keine kalten Füße bekommen."
Aber das Weib warf den Beutel mit den Goldstücken auf den Boden, stemmte die Hände in die Hüften und schrie: "Was ist das für ein König, der sein Wort nicht hält! Habt Ihr nicht erklärt, Ihr werdet die erstbeste Frau heiraten, die Euch begegnet? Bin ich es nicht? Und wäre ich nicht überaus dumm, wenn ich einen solchen Tausch machen wollte!"
Was sollte der König machen?
Er hob die Alte auf sein Pferd, brachte sie ins Schloss und weihte dort nur seinen treuesten Diener ein. Der erschrak, als er sah, was für ein gewöhnliches Weib die neue Königin werden sollte. Aber er tat, was ihm befohlen war, er brachte die Braut in das Turmgemach und richtete dem Hofschneider aus, er möge binnen drei Tagen ein Hochzeitskleid nähen und ja nicht vergessen, nur den dichtesten Schleier, den er in der Stadt fände, zu umsäumen.
Der Schneider schickte gleich zwei seiner Gesellen aus, die auf allen Märkten der Stadt nach dem rechten Schleier suchten. Und sie fanden einen, der so dicht war, dass nicht einmal eine Eintagsfliege hätte erkennen können, was er verbarg.
So sah auch am Tag der Hochzeit niemand, was für ein gewöhnliches Weib die neue Königin war. Und damit es auch gewiss niemand erführe, hatte der König verlangt, dass sie an niemanden das Wort richte und auf jedwede Frage nur nicken oder den Kopf schütteln dürfe.
Die Alte wusste wohl selbst, dass sie ein Tratschweib war, das allerlei und doch nichts Rechtes zu sagen wusste. Und so tat sie, was der König verlangt hatte: sie schwieg und nickte oder schüttelte nur dann und wann den Kopf.
Dem Prinzen kam das Verhalten der Stiefmutter sehr merkwürdig vor, und als diese auch nach der Hochzeit den Schleier nicht ablegte, beschloss er, herauszufinden, was es mit dem merkwürdigen Verhalten auf sich habe. Er ging hin und bat die Stiefmutter, mit ihm eine Partie Schach zu spielen.
Die Alte nickte, und das hieß, dass sie einverstanden war.
Der Prinz wollte sie jedoch zum Sprechen bringen, und er wusste auch, wie das geschehen sollte.
"Ich bin es gewohnt, jede Partie zu gewinnen. Sollte es dieses Mal aber wider Erwarten anders sein, so habt Ihr einen Wunsch offen", sagte er. Da schlug die Alte sich auf die Knie und rief:
"Ein achtbeiniges Hühnchen wünsche ich mir!" Da
wusste der Prinz genug, und er ließ die Stiefmutter die Schachpartie gewinnen.
"Also", sagte er dann, "ich bringe Euch ein achtbeiniges Hühnchen. Damit
Ihr mich aber als erste von allen erblickt, wenn ich heimkomme, steigt auf den höchsten
Schlossturm und erwartet mich."
Die Alte war einverstanden. Sogleich kletterte sie auf den höchsten Turm, und der Prinz,
nicht faul, zog die Leiter unter ihr fort.
Dann machte er sich auf und zog in die Welt hinaus. Und die Alte sitzt noch immer auf dem
Schlossturm und hält Ausschau, ob der Prinz mit einem achtbeinigen Hühnchen nach Hause
kommt.