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Der Stein der Zwerge
Martin rennt, er rennt die Wiese hinauf
und schaut sich nicht mehr um. Weg, nur weg, nichts mehr hören von diesem Spott
und diesem dummen Gelächter. Nein, das sind keine Freunde mehr. Sein Herz klopft
heftig und ein merkwürdiges Gefühl von Schmerz und Wut steigt vom Bauch über die
Brust zum Hals hinauf bis zu den Augen. Jetzt nur nicht weinen, denkt er und
hastet weiter aufwärts. Dabei hatte er Ludwig und Mark doch nur von der Meise
erzählt, die ihm gestern oben im kleinen Wäldchen begegnet war. „Du hast ja
selbst eine Meise“, hatte Mark gesagt und gegrinst. Es war zwecklos den beiden
Freunden das eigenartige Verhalten des kleinen Vogels zu schildern. Sie glaubten
ihm nicht, dass die Meise unentwegt um ihn herum geflattert war und ihn locken
wollte mit ihrem ständigen Weet-weet. „Ein Lockvögelchen, piep, piep, merkst du
was? Bei dir piept es auch“, spotteten die beiden Freunde.
Martin holt tief Luft und merkt, dass in seinem Innern noch immer dieses Zittern
ist. „Denen werde ich es beweisen“ brummelt er vor sich hin. Oben bei dem
kleinen Wäldchen setzt er sich ins Gras, um zu verschnaufen. Still und friedlich
liegt das Dorf da unten und von den beiden Freunden ist nichts mehr zu sehen. „Weet,
weet“, was ist das? Die Meise, da ist sie wieder. Martin springt auf. „Ja“, sagt
er „ich weiß, du willst mir etwas zeigen. „ Weet, weet“ zwitschert die Meise und
hüpft von ihrem Ast. „Flieg nur voraus, ich komme nach“ und Martin folgt dem
kleinen Vogel, der jetzt über die Wiese auf den dunklen Berg zufliegt.
Tannenberg nennen die Leute unten im Tal den Berg, weil bis hinauf zu seinem
Gipfel Tannenbäume wachsen; die stehen so dicht an dicht, dass es aussieht, als
würde der Berg eine Mütze tragen. An einer Stelle hat die Mütze ein großes Loch,
das ist dort, wo mitten im Wald die steile Felswand aufragt.
Hier oben war ich noch nie, denkt Martin und während er hinter der Meise
aufwärts steigt, fällt ihm die Geschichte ein, die ihm die Großmutter einmal
erzählt hat. Vor langer Zeit ist das gewesen, als Martins Großmutter selbst noch
ein Kind war. Damals sind an schönen Sommersonntagen die jungen Burschen des
Dorfes zum Tannenberg hinauf gestiegen, um in der steilen Felswand zu klettern.
Es muss ihnen viel Spaß gemacht haben, denn oft sind sie bis es dunkel wurde
oben am Berg geblieben. Die Eltern der jungen Burschen waren sehr besorgt, denn
die Felswand war wegen ihres brüchigen Gesteins tückisch und gefährlich. Die
älteren Leute im Dorf munkelten sogar von einem Geist, der in der Wand hause,
und den man nicht stören dürfe. Aber weder die Ängste der Mütter und Väter, noch
die Schauermärchen der Alten konnten die Burschen davon abhalten weiterhin in
der Wand zu klettern.
So waren sie auch an jenem Tag aufgebrochen, an dem das Unglück geschah. Es war
früh am Tag gewesen. Die ersten Sonnenstrahlen hatten die Wand mit einem roten
Schimmer überzogen und vom Tal herauf war das Geläut der Kirchenglocken zu
hören. Rudi, Sepp, Franz und Xaver, die vier Kletterfreunde waren bereits bis
zur Hälfte hoch gestiegen, als Franz sich kurz umdrehte und bemerkte, dass Rudi
nicht mehr da war. Wie konnte das sein? Rudi war bis jetzt dicht hinter ihm
hochgeklettert. Wo war der Freund? Franz rief den anderen zu, nicht mehr höher
zu steigen, Rudi sei nicht mehr da. Alle waren wie gelähmt. Wenn Rudi abgestürzt
wäre, hätte er doch geschrieen und das Krachen und Gepolter des herabstürzenden
Gesteins wäre doch auch zu hören gewesen. War er vielleicht in eine Felsspalte
gefallen, aber in der ganzen Wand gab es keine solche Spalte. Die Freunde waren
ratlos. Langsam kletterten sie nach unten, suchten dabei ständig mit den Augen
die Wand ab und riefen immer wieder nach dem Freund, aber Rudi war und blieb
verschwunden.
In den folgenden Tagen war das halbe Dorf oben am Berg. Mit Suchhunden und
erfahrenen Bergsteigern wurde die Wand und der Bergwald abgesucht, aber von Rudi
fehlte jede Spur. Der Freund blieb verschwunden. Dieser ganze Vorfall war so
gruselig, dass von diesem Tag an keiner von den Burschen mehr den Mut hatte in
der Wand zu klettern. Das Verschwinden des jungen Bergsteigers blieb ein
Geheimnis, das die Felswand am Tannenberg bis zum heutigen Tage nicht
preisgegeben hat. So kam es, dass an manchen Tagen, wenn die Morgensonne die
schroffe Wand in glutrotes Licht getaucht hatte, die Leute unten im Dorf sagten:
„Jetzt blutet sie wieder.“
All das geht Martin durch den Kopf während er aufwärts steigt und die
unheimliche Felswand immer näher kommt. Die kleine Meise mit ihrem Weet-weet
flattert voraus, setzt sich ab und zu vor ihm ins Gras und wartet, bis er
nachkommt. Inzwischen ist er oben am Fuß des Berges angekommen. Ein scharfer
Wind fährt durch die dunklen Tannen und Martin meint ein böses Tuscheln und
Fauchen zu hören. Vorsichtig biegt er die herabhängenden Zweige zurück, um die
Meise nicht aus den Augen zu verlieren, die ihn mit ihrem Gezwitscher immer
tiefer in das Walddickicht hinein lockt. Um vorwärts zu kommen muss er sich oft
bücken, muss kleine Äste abbrechen, die ihm den Weg versperren oder auf allen
Vieren kriechen. So stolpert er eine Weile hinter der Meise her, bis es auf
einmal heller wird und der Wald sich lichtet. Martin sieht inzwischen aus wie
ein Igel. Er schüttelt sich und zupft die Tannennadeln aus den Haaren und aus
seinem Pullover und tritt hinaus auf die Lichtung und da ragt sie vor ihm auf,
die geheimnisvolle Felswand vom Tannenberg. Staunend schaut er hoch zu den
steilen, glatten Felsen und malt sich aus, wie die jungen Burschen da oben herum
geklettert sind. Wie still und einsam es hier ist. Jetzt fällt ihm auf, dass der
Lockruf der Meise nicht mehr zu hören ist. Wo ist der kleine Vogel
hingeschwirrt? „Weet, weet“ ruft Martin und schaut sich ängstlich um. Aber von
der Meise ist nichts zu hören und zu sehen.
Warum hat sie mich hierher gelockt? Wollte sie mir nur die Felswand zeigen? Er
wirft noch einmal einen Blick hinauf zu den schroffen Felsen und spürt wie ein
mulmiges Gefühl in ihm hoch steigt. Dann wendet er sich zum Gehen. Aber was ist
das? Dort hoch oben an einem Felsvorsprung blinkt und blitzt es. Martin geht ein
paar Schritte zur Seite und schaut erneut hoch, tatsächlich es blitzt und
funkelt noch immer. Was kann das sein? Es sieht aus als würde jemand mit einer
Taschenlampe ein Signal geben. Martin steigt über einige größere Steine, hält
sich an Wurzeln und Grasbüscheln fest und kraxelt weiter, um dem seltsamen Licht
näher zu kommen.
„Na, da bist du ja endlich!“ Martin zuckt zusammen. Woher kommt diese raue,
schnarrende Stimme? Da - auf dem Vorsprung sitzt ein kleiner Kerl, etwa so groß
wie die Puppe seiner Schwester. Er hat borstige graue Haare und ein lustiges
Gesicht mit einer dicken roten Nase. In seinen Händen hält er einen Stein, der
mächtig funkelt.
„Weetina hat mir schon von dir erzählt.“ „Weetina, wer ist Weetina?“ fragt
Martin ganz verdattert „und wer bist du?“ „Weetina ist unsere Kundschafterin“
sagt der Kleine und deutet auf seine Schulter. „Ach sieh mal an“, sagt Martin,
„da ist ja die kleine Meise.“ „Weet, weet“ zwitschert die Meise und lässt sich
auf Martins Hand nieder. „Aber wer bist du?“ fragt Martin den Zwerg. „Ich bin
Stoffel, einer von den Lichtbringern“ und er zeigt Martin einen glänzenden
Stein. „Lichtbringer, das habe ich noch nie gehört und was machst du da mit
diesem Stein?“ „Ja weißt du im Innern des Berges von wo ich komme, da ist es
ganz dunkel, deshalb muss immer einer von den Zwergen hinaus und mit diesem
Stein hier das Sonnenlicht einfangen, damit wir in unserer Berghöhle etwas sehen
können. Nach einiger Zeit erlischt das Licht im Stein, dann muss ein anderer
hinaus und den Stein aufs Neue mit Sonnenlicht aufladen.“ „Das muss ein ganz
besonderer Stein sein“ sagt Martin „kann ich ihn einmal näher ansehen?“
„Oh, nein, das ist viel zu gefährlich, du würdest dir die Augen verderben und
könntest sogar blind werden.“ „Was macht ihr eigentlich, wenn die Sonne nicht
scheint? „Oh, das ist eine schlimme Zeit, in der wir sehr lange schlafen.“ „Ich
würde zu gerne einmal sehen, wie ihr Zwerge lebt im Innern des Berges.“„ Tja“,
sagt Stoffel und reibt sich seine dicke rote Nase „das kannst du schon, nur
musst du vorher eine mpu wegen alkohol.“
„Und was ist das für eine Prüfung?“ „Du darfst zu keinem Menschen etwas sagen,
was du hier erlebt hast, nichts von Weetina und nichts von mir.“ „Du kannst ganz
sicher sein, ich kann schweigen wie ein Grab“ sagt Martin und denkt dabei an
seine Freunde, die ihm sowieso nichts glauben und die ihn nur auslachen würden,
wenn er ihnen das erzählte. „Gut“, sagte Stoffel „ dann komme an zwei Tagen an
denen die Sonne scheint wieder hierher, den Weg kennst du ja bereits. Am dritten
Tage werden wir dich dann mitnehmen in unser Reich im Innern des Berges.“ Martin
schaut bei diesen Worten an der Felswand hoch und überlegt, wo der Einstieg ins
Innere des Berges sein könnte. Als er sich wieder dem Kleinen zuwendet ist
dieser verschwunden. Martin sucht die Stelle ab, auf der Stoffel saß, aber weder
der Zwerg, noch der Lichtstein sind zu finden und auch von der Meise Weetina
fehlt jede Spur.
Die nächsten Tage sind regnerisch und die Sonne blinzelt nur hin und wieder
hinter den dicken Wolken hervor. Martin steht am Fenster und schaut nach dem
Wetter, denn es muss ein sonniger Tag sein an dem er wieder hinauf zur Felswand
gehen kann. Also wartet er, wartet voller Ungeduld auf die Sonne.
Mit seinen Freunden hat er sich inzwischen ausgesöhnt. „Wir haben das doch nicht
böse gemeint“, hat sich Ludwig entschuldigt „und vielleicht hast du ja auch
recht mit der Meise; Tiere benehmen sich manchmal sehr merkwürdig.“ Als Ludwig
das sagte, war Martin nahe dran, ihm sein Geheimnis zu verraten, aber er
schwieg, denn er wusste, dass er dann die Prüfung nicht bestehen würde.
Nach drei Tagen scheint endlich wieder die Sonne. Gleich nach der Schule steigt
Martin hinauf zum Tannenberg. Schon im Anmarsch sieht er das Blinken und Funkeln
in der Felswand. Er ist da, er ist wirklich da, sein Herz hüpft vor Aufregung.
Tatsächlich auf dem Felsvorsprung sitzt wieder der Zwerg und hält den Lichtstein
der Sonne entgegen. „Servus Stoffel, ich bin wieder da“, keucht Martin, der noch
ganz außer Atem ist. „Ich bin Jockel“, kommt es mit einer näselnden Stimme von
oben. „O, Verzeihung, ihr seht euch so ähnlich“, sagte Martin „nur deine Stimme
ist anders“. „Wir sind drei, drei Lichtbringer“, näselt der Kleine, „hat dir das
der Stoffel nicht gesagt oder hast du nicht richtig zugehört?“ „Doch, doch“
stottert Martin und fühlt sich auf einmal sehr unbehaglich. Warum ist der
Stoffel nicht gekommen, denkt er den fand er viel netter. „Pass auf“, sagt jetzt
der Zwerg und leuchtet Martin mit dem Stein ins Gesicht, „Stoffel hat zu dir
gesagt, dass du zu keinem Menschen etwas sagen darfst, du hast dein Wort
gehalten und geschwiegen, wir wissen es. Du hast also die erste Prüfung
bestanden, aber das ist noch nicht alles. „Was denn noch?“ fragt Martin und hält
sich die Hand vors Gesicht, weil ihn der Gnom noch immer anblendet. „Du musst
noch einmal kommen, dann wird der dritte Lichtbringer hier sitzen und er wird
dich mit in unser Reich nehmen, aber nur wenn du ihm etwas mitbringst.“ „Ja und
was soll ich ihm mitbringen?“„ Etwas Lebendiges?“ Martin schrickt zusammen,
„etwas Lebendiges? Was soll das sein, ein Hund oder eine Katze?“ fragt er
vorsichtig. Aber er erhält keine Antwort. Plötzlich ist das Licht, das ihn
geblendet hat erloschen und von dem Zwerg auf dem Felsvorsprung ist nichts mehr
zu sehen.
Nachdenklich macht sich Martin auf den Heimweg, denn die Frage, wohin die Zwerge
immer so schnell und spurlos verschwinden, geht ihm nicht aus dem Sinn. Und dann
dieses „Lebendige“, was könnte damit gemeint sein? Lulu etwa, seine schwarz-weiß
gefleckte Katze? Nein, die liebt er viel zu sehr, um sie für solch ein
Experiment herzugeben. Dann fällt ihm Viktor ein, der Wellensittich, aber der
Gedanke, dass der kleine Vogel bei den Zwergen wie eine Fledermaus im Finsteren
herum fliegen müsste, erfüllt ihn mit Grauen. Martin ist ratlos.
So vergehen einige Tage und Martin hat noch immer nichts Lebendiges gefunden,
was er den Zwergen mitbringen könnte. Er sitzt über seinen Hausaufgaben und
grübelt. Wenn er nur mit seinen Freunden darüber reden könnte, vielleicht hätten
die eine Idee, aber er darf ja zu niemandem etwas sagen. Ob es nicht besser
wäre, das ganze Unternehmen aufzugeben? - Aber was ist das? Dieser schwarze
Fleck dort an der Wand? Eine Spinne! Martin springt auf. Ja, ja das ist es, ich
Trottel, warum bin ich denn nicht gleich darauf gekommen? Schnell ein leeres
Marmeladeglas, schwupp, über die Spinne gestülpt, dann ein Papier drunter
geschoben und schon krabbelt die Spinne in ihr gläsernes Gefängnis. Jetzt noch
den Deckel drauf, geschafft. „Ich hab`s, ich hab`s“, jubelt Martin und stürmt
aus dem Haus.
Oben auf der Felsennase sitzt wieder ein Zwerg mit seinem Glitzerstein. „Ich
hab`s“ ruft Martin und hält ihm schon von weitem das Glas mit der Spinne
entgegen. „Nur langsam, junger Freund und nicht so stürmisch“ hört Martin jetzt
eine quieksende Stimme.
„Aha, du bist also der Dritte. Stoffel und Jockel haben mir schon von dir
erzählt. Aber wie heißt du denn?“ „Ich bin Steffel“. „Also Steffel, ich habe das
Lebendige mitgebracht, hier“ und Martin überreicht dem Zwerg das Glas mit der
Spinne. „Das ist gut“, sagt Steffel, schraubt den Deckel ab und lässt die Spinne
frei. „Du staunst? Das ist nur die Probe gewesen, ob du zuverlässig bist,
genauso wie die erste Probe, ob du schweigen kannst. Beide Proben hast du
bestanden und deshalb darfst du jetzt mit mir kommen. Bevor wir aber in den Berg
gehen musst du mir versprechen, zu allem was du sehen wirst keine Fragen zu
stellen. Ist das klar?“ Martin nickt und sein Herz klopft zum Zerspringen.
„Zwerge hurtig aufgemacht,
lasst mich ein in Berg und Nacht,
bring euch hellen Tagesschein
mit dem Funkel-Glitzerstein.“
Kaum hat Steffel dieses Sprüchlein
gemurmelt, da öffnet sich ein Spalt in der Felswand und Martin blickt in eine
tiefe dunkle Höhle. Steffel hüpft mit dem Lichtstein voraus über kleine Stufen
und Steinplatten und ermuntert den Jungen ihm zu folgen. „Es ist so dunkel“,
stöhnt Martin „ich kann nichts sehen, du musst bei mir bleiben mit deinem
Lichtstein, sonst werde ich stolpern“.
„Pst, leise“, zischelt der Zwerg „bei uns wird nicht laut gesprochen! Wenn sich
deine Augen an das Dunkel gewöhnt haben, wirst du auch bald besser sehen und
jetzt komm weiter!“ Und wahrhaftig! Allmählich bemerkt Martin in welch
wunderbare Welt ihn der Zwerg jetzt führt. Da hängen seltsame Gebilde von der
Decke der Höhle, die sehen aus wie versteinerte Eiszapfen. Andere
Versteinerungen scheinen aus dem Boden zu wachsen, die haben die Form von
Tannenbäumen oder Palmenzweigen. „Das ist unser Wald“, erklärt Steffel dem
staunenden Martin, „du erkennst Zweige und Blätter, Blüten und Gräser, Farne und
Moose alles genauso wie oben auf der Erde, nur dass sie bei uns aus versintertem
Kalkstein sind.“ Vor einer kleinen Öffnung macht der Zwerg halt. Eine schräge
Felsplatte führt in einen finsteren Abgrund. „Komm“, sagt Steffel, er setzt sich
auf den Hosenboden und rutscht nach unten. Mit einem bangen Gefühl im Herzen
folgt Martin ihm nach. „Das ist das Spielzimmer der Zwerge“ sagt Steffel als sie
unten ankommen sind und leuchtet mit seinem Stein eine neue Höhle aus. Diesmal
hängen mächtige steinerne Vorhänge von der Decke herab. Auch ringsum an den
Wänden sind in großen Falten solche Steingardinen drapiert. Martin malt sich
aus, wie lustig es sein muss, wenn die Zwerge hier Verstecken spielen.
„Such mich, such mich!“ ruft er und stellt sich hinter einen Steinvorhang. Aber
was ist das? Hundertmal kommt es jetzt von den Wänden zurück und klingt so
hässlich und verzerrt, dass er sich die Ohren zuhalten muss. „Begreifst du
jetzt, warum bei uns nur geflüstert werden darf? Aber komm weiter, ich werde dir
unser Schlafzimmer zeigen.“
Martin muss sich jetzt bücken, denn die Nische in der sich der Schlafraum der
Zwerge befindet ist sehr niedrig. Dicht nebeneinander stehen die kleinen
Bettchen. Die Matratzen sind aus versteinerten Halmen geflochten und feine
kalkverkrustete Zweige bilden die Bettrahmen. Wo sind denn die anderen Zwerge?
Wollte Martin gerade fragen, da fällt ihm blitzartig ein, dass er ja keine
Fragen stellen darf.
Sie gehen weiter. Steffel mit seinem Leuchtstein eilt voraus und lotst ihn durch
enge Felsspalten, sie tasten sich an feuchten Wänden entlang und schlüpfen durch
schmale Gänge. Plötzlich ist ein Plätschern und Rauschen zu hören. Durch eine
Öffnung treten sie auf einen breiten Felsenbalkon und jetzt sieht Martin tief
unter sich eine schwarzglänzende Wasserfläche. „Das ist unser Badesee“ sagt
Steffel. Im dunklen Wasser spiegeln sich die bizarren Spitzen und Steinzapfen,
mit denen Wände und Decke gespickt sind. Martin schaut ängstlich nach oben und
unten, er kommt sich vor wie im riesigen Maul eines Ungeheuers. Von irgendwoher
weht ihn ein kalter Luftzug an. Auf der gegenüberliegenden Seite hat sich wie
von Zauberhand eine breite Felsspalte geöffnet und Martin blickt in einen weiten
hohen Höhlensaal. Riesige versinterte Pilze hängen wie Lampenschirme von der
Decke. Mit unzähligen Mulden, die wie Muscheln aussehen sind Boden und Wände
übersät, dazwischen erheben sich kleine versteinerte Krater mit einem Loch in
der Mitte. Steffel gibt Martin einen Wink näher zu treten und hält dabei den
Finger an den Mund. Aber was ist das? Woher kommt dieses Wispern und Flüstern,
dieses Raunen und Tuscheln, das sich anhört wie das Rascheln der Gräser im Wind
oder das leise Surren der Libellen. Der Lichtschein des Funkelsteins erhellt
jetzt die Höhle und plötzlich entdeckt Martin, woher die Geräusche kommen: Es
sind die Zwerge. Sie sitzen in Scharen auf den Lampenschirmpilzen, lugen aus den
Löchern der Krater oder haben sich in eine Muschel gekuschelt. Andere laufen
geschäftig umher, tragen glitzernde Edelsteine auf ihrem Rücken oder kehren mit
niedlichen Reisigbesen den Boden der Höhle. Aber sie sehen so anders aus als
Steffel, Stoffel und Jockel und auch anders als Martin sich Zwerge vorgestellt
hat. Manche haben lange weiße Bärte wie uralte Männer, andere wieder sehen aus
wie kleine Kinder mit lockigen Flaumhaaren, krummgebeugte Gnome und Trolle mit
wilden Gesichtern sind darunter. Dort drüben stehen einige dunkelhäutige
Afrikaner beisammen und sogar Chinesenzwerge tauchen auf. Manche tragen
Tierfelle und haben grüne Katzenaugen. Die auf den Pilzen sitzen sehen Vögeln
ähnlich mit einer Schnabelnase und Krallen an den Händen. Aus den Kraterlöchern
kriechen welche mit Eidechsenköpfen und Fledermäuse mit großäugigen
Mädchengesichtern und feinen langen Spinnwebhaaren schwirren durch die Höhle.
Martin ist völlig verwirrt, er weiß gar nicht wohin er zuerst schauen soll.
Plötzlich spürt er ein Stupsen und Zerren an seinen Hosenbeinen und sieht sich
umringt von einer quirligen Schar der kleinen Gesellen. Sie schieben und drängen
ihn bis zur Mitte des Saales, wo auf einem Sockel ein großer, glänzender
Kristallblock steht. Die Kleinen schubsen Martin näher und näher an den
durchsichtigen Quader heran. Aber was ist das? Martin stockt der Atem.
Eingegossen in das gläserne Gehäuse liegt ein Mensch, ein junger Mann, das
bleiche Gesicht umrahmt von dunklen Locken. Er hat die Hände über der Brust
gefaltet und scheint zu schlafen. Nein, Martin durchfährt ein eisiger Schauer,
er schläft nicht, er ist tot. Wie lange er den Toten in dem Glassarg angestarrt
hat, weiß er nicht mehr.
„Wer ist das?“ Zu Tode erschrocken über seine Frage, hört er jetzt die eigene
Stimme hundertfach von den Wänden widerhallen. „WER – WER – IST – IST – DAS –
DAS – DAS?“ Gleichzeitig erschüttert ein mächtiger Donnerschlag die Höhle.
Martin hört noch wie der gläserne Sarg klirrend zersplittert und er sieht wie
die steinernen Riesenpilze von der Decke stürzen. Dann trifft ihn der
Blendstrahl des Funkelsteins und er verliert er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, sitzt er am Fuß der großen Felswand. Erst
allmählich erinnert er sich an seine Erlebnisse im Reich der Zwerge und an den
Toten im gläsernen Sarg. Aber was ist das? Ein gewaltiges Getöse und Lärmen ist
aus dem Innern des Berges zu hören. Der Boden zittert und plötzlich sieht Martin
wie sich aus der Felswand Steine und Felsbrocken lösen und herab stürzen. Da
packt ihn eine wilde Angst und ohne sich umzuschauen beginnt er zu rennen wie
ein gehetztes Tier. Er spürt nicht die Tannenzweige, die ihm ins Gesicht
schlagen und die Dornbüsche, die ihm die Hose zerreißen. Nur weg von hier,
schnell, schnell weg! Er rast den Berg hinunter als wären die bösen Geister
hinter ihm her. Völlig erschöpft und außer Atem kommt er zu Hause an und läuft
als erstes seiner Großmutter in die Arme. „Aber Martin, wo kommst du denn her
und wie du aussiehst.“ „Oma, ich muss mit dir reden.“
„Gewiss mein Junge, aber sag mir doch zuerst, wo du herkommst.“ „Jetzt kann mir
niemand mehr verbieten zu reden“. „Aber wer hat dir denn verboten zu reden,
Martin?“
„Oma, ich werde dir alles erzählen, alles was ich am Tannenberg erlebt habe“.
„Du warst da oben am Tannenberg?“ „Ja, Oma“ und dann erzählt Martin von den drei
Zwergen mit dem Lichtstein, von Stoffel, Jockel und Steffel und von den
Prüfungen die er bestehen musste. Er schildert ihr, wie es im Innern des Berges
ausgesehen hat, und wie er zuletzt den Toten im gläsernen Sarg gefunden hat. Die
Großmutter hat ihm sehr aufmerksam zugehört und als er geendet hat, sagt sie zu
ihm. „Weißt du was ich glaube, Martin, du hast wahrscheinlich den toten Rudi
gefunden, den Kletterer von dem ich dir erzählt habe. Manchmal kommt es vor,
dass nach einem Unwetter oder bei einem Bergrutsch ein toter Bergsteiger wieder
aufgefunden wird. Vielleicht ist das auch in diesem Falle so. „Dann glaubst du
mir also meine Geschichte mit den Zwergen, Oma?“ „Ja, mein Junge, weil ich
finde, dass es auch Dinge geben muss, die wir uns nicht erklären können,
Geheimnisse eben, denn wenn es keine Geheimnisse gäbe, gäbe es keine Geschichten
und das wäre doch schade.“
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