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Die Sonnenmutter
Zigeunermärchen


Vor vielen, vielen Jahren, als der Wolkenkönig noch jung war, lebte er mit dem Sonnenkönig in guter Freundschaft. Das waren glückliche Zeiten damals. Wenn der Sonnenkönig müde von seiner langen Fahrt heimkehrte, so kam der Wolkenkönig herbei und befahl seinem Diener, dem Regen, die Erde zu bewässern. So geschah es niemals, dass die Sonne schien, wenn die Leute um Regen beteten, oder dass es regnete, wenn sie um Sonnenschein baten.

An einem Nachmittag begegnete der Sonnenkönig seinem Freund, dem Wolkenkönig, und sagte zu ihm: "Lieber Freund, ich bin heute sehr müde geworden, denn ich habe viel gearbeitet. Ich war in einem Lande, wo es in der Nacht fürchterlich geregnet hatte, und da musste ich mich gewaltig anstrengen, um die Erde zu trocknen, denn sonst hätten die armen Menschen eine Missernte gehabt. Sei so gut und schicke deinen Diener Regen einmal eine Nacht lang nicht dorthin."

"Das werde ich doch tun!" entgegnete der Wolkenkönig. "Ich bin gerade auf der Fahrt in dieses Land. Du hättest dich mit dem Trocknen der Erde

nicht anstrengen sollen, denn ich will, dass es in dem Lande neun Wochen lang fortwährend regnen soll."

"Warum willst du denn den armen Leuten das antun?" fragte der Sonnenkönig.

"In dem Lande herrscht ein König, der eine wunderschöne Tochter hat", erzählte der Wolkenkönig. "Ich wollte seine Tochter zur Frau nehmen, aber der König, ihr Vater, wies mich ab und sagte, dass er für einen Wolkenkönig keine Tochter zu vergeben habe. Nun will ich den Leuten zeigen, wer ich bin. Ich nehme alle meine Diener mit: den Regen, den Wind, den Blitz und den Donner, den Hagel und den Schnee, und lasse alle auf einmal los, damit sie sich einmal nach Herzenslust austoben können!"

"Die armen Leute haben dir doch aber nichts getan, und wenn dich ihr König beleidigt hat, so darfst du doch nicht alle Leute im Lande strafen und zu Grunde richten wollen!" sagte darauf der Sonnenkönig.

"Das geht mich nichts an!" erwiderte der Wolkenkönig. "Wer kann es mir verbieten?“

"Ich!" entgegnete der Sonnenkönig.

"So? Das möchte ich doch einmal sehen!" sagte der Wolkenkönig und eilte davon.

Der gute Sonnenkönig schüttelte alle Müdigkeit von sich, kehrte um und erreichte noch früher als der Wolkenkönig das Land. Als der mit allen seinen Dienern heranzog, konnte er nichts ausrichten, denn die Sonne schien so heiß, dass alle seine Diener sich nur mit knapper Not vor dem Feuertod retten konnten. Der Wolkenkönig war außer sich vor Wut und zog mit seinen halb- verbrannten Dienern in seine Heimat zurück, ins höchste Gebirge der Welt, um ein andermal von neuem sein Glück zu versuchen. Aber so oft er mit seinen schrecklichen Dienern im Land zu wirtschaften begann, erschien auch gleich der gute Sonnenkönig und vertrieb die bösen Dienerscharen des Wolkenkönigs.

Das verdross den Wolkenkönig gar sehr, und er sann nach, wie er den Sonnenkönig unschädlich machen könne. Als er einmal seine Absicht seinen Dienern mitteilte, sagte der Wind: "Ich weiß einen Rat! Ihr wisst alle, dass unser gemeinsamer Feind, der Sonnenkönig, zeitig in der Frühe als kleines Kind in die Welt hinausfliegt, zu Mittag ein Mann wird und abends als schwacher Greis heimkehrt, um im Schoß seiner Mutter zu schlafen. Schläft er nicht im Schoß seiner Mutter, so bleibt er ein Greis, der keine Kraft hat. Und dann kann er nicht in die Welt hinaus fliegen. Wir müssen also die Sonnenmutter

gefangen nehmen, dann kann uns ihr Sohn, der Sonnenkönig, nicht mehr schaden."

Da freuten sich alle gar sehr und schrien wie toll durcheinander. Der Schnee
und der Hagel riefen: "Knarr! Klirr! Das ist ein trefflicher Rat!" Der Blitz lief aus einem Winkel in den andern und rief fortwährend: "Zickzack! Zick, zickzack! Das wird eine Freude geben! Zick, zickzack!" Der Donner brummte:

"Bumbara, bumbara, bumm! Das gibt einen Hauptspaß!" Der Regen flüsterte: "Tritsch, tratsch! Wind, du bist mein Bruder! Du bist gescheit!"

Nach einer Weile sagte der Wolkenkönig: "Der Rat ist gut! Ich will versuchen, die Sonnenmutter einzufangen!" Darauf begab er sich zur Wohnung

des Sonnenkönigs. Auf dem Wege verwandelte er sich in ein schönes, graues Pferd, und als er an das goldene Haus des Sonnenkönigs kam, der gerade weit vom Hause weg irgendwo in der Welt herumwanderte, sagte er Zur Sonnenmutter, die vor dem Tor saß: "Guten Tag, liebe Frau! Ich bin das Windpferd, und dein Sohn, der Sonnenkönig, schickt mich zu dir und lässt dich bitten, schleunigst zu ihm zu kommen. Er ist in einem überschwemmten Lande und hat nicht mehr die Kraft, die Erde zu trocknen. Er will eine Stunde lang in deinem Schoß schlafen und dadurch neue Kräfte sammeln!"

"Das hat mein Sohn nie von mir gewünscht!" entgegnete die Sonnenmutter. "Aber wenn es so ist, so will ich gern zu ihm eilen. Erlaube mir, dass ich mich auf deinen Rücken setze!" Das war dem Wolkenkönig eben recht. Die Sonnenmutter setzte sich auf das Pferd, das sie wie der Wind so schnell in eine Höhle führte, wo es sich in den Wolkenkönig zurückverwandelte. Der aber sperrte die Sonnenmutter in die Höhle ein.

Als nun der Sonnenkönig abends als müder Greis nach Hause kam, fand er seine Mutter nicht vor, Und da er in ihrem Schoß nicht schlafen konnte, wurde er so schwach, dass er am nächsten Tage nicht auszufliegen vermochte. Nun schien die Sonne nicht mehr, Dunkelheit herrschte überall, und der Wolkenkönig konnte ungestört mit seinen Dienern wirtschaften.

Doch nicht lange dauerte ihre Herrlichkeit, denn die Sonnenmutter ließ sich die Nägel an den Fingern wachsen und grub sich aus der Höhle heraus. Sie eilte zu ihrem Sohn, der endlich wieder in ihrem Schoß schlafen konnte und dann mit frischer Kraft in die Welt hinausflog und den Wolkenkönig vertrieb. Seit der Zeit aber hat alle Freundschaft zwischen dem Wolkenkönig und dem Sonnenkönig aufgehört.