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Sonnenmann und Mondfrau
Es ist schon sehr lange her, da lebte an den Ufern des Huron-Sees ein alter Mann mit seiner Frau. Die beiden hatten einen Sohn, den sie O-na-wut-a-qut-o nannten, was so viel bedeutet wie Der-die-Wolken-fängt, denn er war ein aufgeweckter Junge, der es schon einmal zu etwas bringen würde. Die Familie gehörte zum Biber-Clan, der schon seit unvordenklichen Zeiten im Stamme eine besondere Stellung einnahm. AIs der Sohn herangewachsen war, sollte er, wie alle jungen Indianer seines Stammes, in den Wald gehen, um zu fasten. Denn nur auf diese Weise konnte er je dem Großen Geiste nahekommen und von ihm ein Zeichen erhalten, das ihn zum vollgültigen Krieger machte. AIs die Fastenzeit für O-na-wut-a-qut-o herangekommen war, gaben ihm seine Eltern Holzkohle statt der Mahlzeit, damit er sich das Gesicht bemale zum Zeichen, dass er fortan fasten wolle. Der Junge aber wollte davon nichts wissen, sondern ging in den Wald, wo er sich Vogeleier suchte, die er verzehrte. Seine Eltern, die über dies seltsame Benehmen recht ungehalten waren, zwangen ihn schließlich doch, sich das Gesicht zu schwärzen. Der - die - Wolken - fängt verließ den Wigwam seiner Eltern und blieb die ganze Nacht über im Walde. Hier hatte er einen seltsamen Traum. Eine schöne Frau kam aus den Wolken zu ihm und rief ihn an: „O-na-wut-a-qut-o, ich komme, dich zu holen. Folge genau meinen Fußstapfen.“ Der junge Mann folgte dieser Aufforderung und fand sich mit einem Male über den Baumwipfeln und schließlich sogar über den Wolken. Während er sich mühte, den Schritten seiner Führerin zu folgen, sah er plötzlich eine große Ebene vor sich. Ein Pfad führte zu einem großen Wigwam in der Nähe. Zögernd folgte er seiner Begleiterin in die Hütte und befand sich gleich darauf in einem der beiden Räume, aus denen der Wigwam bestand. Hier hingen Tomahawk und Bogen, ein Kocher mit Pfeilen, Speere und Federhauben, und alles deutete darauf hin, dass er in die Behausung eines großen Kriegers geraten war. Der andere Raum hingegen konnte nur der jungen Frau gehören, die ihn auf so seltsame Weise an diesen Ort gebracht hatte, denn in der Mitte lag ein wunderschöner breiter Gürtel, reich verziert und mit vielen bunten Mustern bestickt, an dem sie nun zu arbeiten begann. »Mein Bruder wird gleichkommen. Da will ich dich lieber verstecken«, sagte sie nach einer Weile und warf den Gürtel über O-na-wut-a-qut-o, der ganz darunter verschwand. Kurz darauf trat ein Mann ein, der schon an seiner Kleidung als großer Häuptling zu erkennen war. Die Pfeilspitzen in seinem Kodier glänzten wie Silber, und der Kolben seines Tomahawks war über und über mit Silbernageln verziert. Am Halse trug er eine Pfeife mit zierlich geschnitztem Kopf. Kaum hatte er die Hütte betreten, als er sich an seine Schwester wandte: »Hast du vergessen, dass der Große Geist verboten hat, Menschen von der Erde zu entführen? Oder vielleicht glaubst du, ich wüsste nicht, dass jener junge Ottawa, der sich O-na-wut-a-qut-o nennt, hier ist? Wenn du mich nicht beleidigen willst, bring ihn sogleich zurück.« Die Schwester aber wollte sich unter keinen Umstanden von dem Entführten trennen. So willigte der Bruder schließlich ein, dass der junge Ottawa dableiben dürfe. »Komm aus deinem Versteck hervor, sonst wirst du dort noch verhungern l- rief er. Anschließend beschenkte er ihn mit Pfeil und Bogen und einer Pfeife aus rotem Stein, deren Kopf einen Biber darstellte. Nunmehr waren das Mädchen und der Ottawa Mann und Frau. O-na-wut-a-qut-o sah bald, dass es in diesem Lande außer seiner Frau und deren Bruder niemanden gab. Die Prärie war voller Blumen, und die Taler waren grün und freundlich. Vogel und anderes Getier gab es im Überfluss, aber alles war unbewohnt. Nirgends zog der Rauch eines Lagerfeuers durch den Wald, und in den Tälern fand sich keine Spur eines Mokassins. Jeden Morgen verließ der Bruder den Wigwam, um erst am Abend zurückzukehren. Dann ging die Frau fort und kam erst gegen Morgen wieder. Dies alles kam dem jungen Ottawa recht seltsam vor, und eines Tages fragte er den Bruder, ob er ihn begleiten dürfe, was dieser zögernd gestattete. Früh am Morgen verließen sie den Wigwam und wanderten über die endlose Prärie. Schließlich verspüre O-na-wut- a-qut-o großen Hunger, aber sein Begleiter bat ihn, sich zu gedulden. »Bald werden wir rasten, dann kannst du genug essen.« Nach einer Weile kamen die beiden an eine Stelle, wo ein paar Schilfmatten auf dem Boden lagen. Ein Loch im Himmel ließ die beiden Wanderer die Welt unter ihnen in allen Einzelheiten erkennen. Da lagen die großen Seen und die Dörfer der Ottawa und Chippewa. An einer Stelle sah man eine Gruppe von Irokesen vorsichtig ein Lager beschleichen; in einem Dorfe tanzten die Männer um ein großes Feuer; und auf einer Wiese spielten junge Leute ein Ballspiel, das die Franzosen Lacrosse nennen und das die Ottawa schon lange vor den Weißen gekannt haben. Am Ufer eines Flusses sammelten Frauen Binsen, um Matten daraus zu flechten, während eine Anzahl von Rindenkanus, getrieben von blitzenden Paddeln, den See überquerten. Staunend besah sich der junge Mann die Welt, die seine Heimat war. »Siehst du dort unten die Kinder neben dem Wigwam spielen?« fragte der Mann. »Beobachte den Jungen, der so eifrig ist, und pass auf, was mit ihm geschieht.« Gleichzeitig ließ er etwas aus seiner Hand auf die Erde schlüpfen. Plötzlich fiel das Kind hin und wand sich in Krämpfen. Eilends wurde es von den Erwachsenen in einen Wigwam getragen. In wenigen Augenblicken hatte sich eine Schar von Leuten versammelt, mit wichtiger Miene bahnte sich der Medizinmann seinen Weg durch die Menge, und bald horten die beiden Beobachter das monotone tom-tom-tom-tom der Trommel und den Gesang des Zauberers, der die Geister und die Sonne anflehte, das Kind zu retten. Als alle Gebete und Gesänge nicht helfen wollten, wurde ein weißer Hund geopfert und über dem Feuer gerostet, während alle weisen Männer des Dorfes ehrfurchtsvoll den Hantierungen des Medizinmannes zusahen. »Es gibt viele dort unten«, ließ sich die Stimme des Bruders vernehmen, »die ihr für große Heilkünstler haltet, aber das kommt nur daher, weil sie auf mich hören und tun, was ich ihnen vorschreibe. Wenn ich jemanden mit Krankheit geschlagen habe, dann beten die Menschen zu mir, und wenn sie mir die richtigen Opfergaben senden, dann nehme ich die Krankheit von ihnen, und sie werden geheilt.« Während er noch sprach, hatte man auf der Erde den gebratenen Hund in viele Teile zerlegt, ein Stück für jeden, der an der Opferfeier teilgenommen hatte. Darauf sprach der Medizinmann: »Zu dir, Großer Geist, senden wir unser Opfer, Nimm unsere Gabe, Manitu, und heile das Kind von seiner Krankheit.« Sogleich erschien vor den beiden der gebratene Hund, ein Leckerbissen, den jeder zu schätzen weiß. So war denn für die Wanderer das Mahl bereiter, und nachdem sie gegessen hatten, zogen sie weiter und kamen schließlich wieder beim Wigwam an. Osna-wut-a-qut-o aber konnte seine Freunde und seine Eltern auf der Erde nicht vergessen, seine Sehnsucht nach ihnen wurde immer großer. Schließlich bat er seine Frau um Erlaubnis, wieder auf die Erde zurückzukehren. »Da du das Leben auf der Erde dem bei uns vorziehst, will ich dir deine Bitte gewahren«, sagte sie, »aber vergiß nie, dass du mir gehörst und niemals ein anderes Mädchen heiraten darfst. Solltest du es dennoch tun, so werde ich dir zeigen, dass ich stärker bin, als du vermutest.« Kaum waren diese Worte verklungen, als O-na-wut-a-qut-o, Der-die-Wolken-fangt, sich wieder auf der Erde befand, genau an jener Stelle, an der er sich zum Schlafe niedergelegt hatte. Statt jener überirdischen Geschöpfe sah er mit einem Male seine Eltern vor sich. Seine Mutter aber rief: »Vier lange Jahre bist du fortgewesen. Wir alle glaubten bereits, dass dir etwas zugestoßen sei!« Es dauerte eine Weile, ehe sich O-na-wut-a-qut-o wieder entsann, wie er denn hierher zurückgekommen war. Langsam gewohnte er sich daran, nunmehr ein vollgültiger Krieger zu sein. Nach und nach verblasste die Erinnerung an die seltsame Begebenheit, und eines Tages wusste er nicht einmal mehr, ob er dies alles nicht nur geträumt habe. So vergaß er auch die Ermahnungen der Frau und heiratete ein junges Mädchen aus dem Clan der Stachelschweine. Aber nach vier Tagen war die Braut tot, und mit einer zweiten Heirat erging es ihm nicht besser. Kurz danach verließ er eines nachts den Wigwam und blieb spurlos verschwunden. Die Ottawa aber berichten, dass die Mondfrau ihn wieder zu sich geholt habe und dass er noch heute ihren Bruder, die Sonne, auf seiner täglichen Wanderung begleite.
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