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Die schwarze Rose
Ludwig Ganghofer


Am Ufer eines schönen, weit entlegenen Sees, der in wellenweiter Runde vom dunklen Bergwald umzogen war, stand vor vielen Jahren das kleine freundliche Haus eines armen Fischers. Vier Leute hausten miteinander unter dem mürben Strohdach, Meister Konrad ,mit seinem Weibe, die alte Hanni, des Fischers greise Mutter, und der junge Dieter, sein zwanzigjähriger Sohn. Einige Köhler, deren Hütten zerstreut im Bergwald standen, waren ihre einzigen Nachbarn, ihr ganzer Umgang.

All jedem Sonntagmorgen wanderten sie einem nahen Berge zu, auf welchem Pater Crispus, der alte Einsiedler, ein Blockhaus bewohnte und ihnen in der aus Baumstämmen gefügten Kapelle die Messe las.

Ein paar Mal des Jahres kamen Händler aus der fernen Stadt und brachten dem Meister Konrad zum Tausch für seine gedörrten, geräucherten und gesalzenen Fische allen Bedarf seines Hauses. Alljährlich im Herbste kam der Burgherr von seinem entlegenen Schlosse, um hier in den Bergen zu jagen. Das waren Festtage für den Dieter. Vom Morgen bis zum Abend schritt er in pfadloser Wildnis dem ,Tross voran, um den Jägern die Schlupfwinkel der Raubtiere und die besten Standplätze der Sauen und Hirsche zu zeigen.

Der Ritter fand Gefallen an dem flinken und mutigen Burschen, der den Bergwald wie seine Tasche kannte und einem hauenden Schwein mit dem kurzen Fischermesser lachend auf den borstigen Leib rückte. Drum hätte er den Jungen gern unter die Schar seiner ,Großknechte eingereiht, aber Meister Konrad wollte davon nichts wissen.

Ihn plagte manchmal das Zipperlein, und da er oft durch lange Wochen den See nicht befahren konnte, wie hätte er da seinen Gesellen schwer vermisst! Und dann - er gestand es nur nicht - aber der Anblick des Buben tat dem Alten wohl.

Dieter war anzusehen wie ein junger, lenzgrüner Eichbaum, so kräftig und schlank gewachsen. Hell leuchteten die blauen Augen aus dem hübschen, sonnenverbrannten Gesichte, das die braunen Locken umschlossen hielten gleich einem dunklen Helm.

Wohl erwachte in ihm zuweilen die Sehnsucht nach der Welt da draußen im ebenen Lande, und er schmollte mit dem Vater; aber wenn der Lärm und Rausch der Jagdtage verklungen war, dann kam sein junges, genügsames Herz bald wieder ins Geleise.

Dann war er gerne wieder daheim, draußen auf dem See, wo er mit Netz und Angel, droben im Bergwald, wo er mit der Armbrust zu tun hatte, um sich und den Seinen die Nahrung für alle rilige, das wärmende Rauchwerk für den harten Winter zu schaffen. Er war ein guter Jäger, ein guter Fischer, war beides oft zu gleicher Zeit, denn wenn er bei grauendem Morgen den Einbaum durch das Röhricht steuerte, um die Stellnetze nachzusehen, hatte er stets die gespannte Armbrust an der Seite, um einen aufsteigenden Reiher oder eine kreischend abstreichende Wildente mit sicher treffendem Holz zu erlegen.

Nun war es an einem lauen, herrlich schönen Maienabend. Ein goldig roter Schimmer der untergehenden Sonne lag über Wald und See gebreitet, und die Gipfel der Berge brannten.

Rings um das Fischerhaus dufteten die jungen Blumen, und ein Schwalbenpärchen, das sich eingenistet hatte, zwitscherte auf dem Dache, während der nahe Quell ganz leise murmelte in geheimnisvollem Selbstgespräch.

Und just, als möchte sie diese heimliche Sprache deuten, saß die alte Hanni, an einem Netze flickend, lauschend auf der steinernen Hausbank und rührte manchmal flüsternd die Lippen.

Da kam der Dieter über die Wiese vom See herauf. Er machte ein verdrossenes Gesicht, und es war auch leicht zu erraten, weshalb. Man durfte nur die zwei Messer langen Fischlein betrachten, die er an einer dünnen Gerte in der Hand trag. Das war die Beute des langen Tages. Meister Konrad trat unter die er, furchte die Brauen und schalt. Er hätte tun kommenden Morgen dem Pater Crispus gerne zur Feier des heiligen Pfingsttages einen stattlichen Hecht gebracht. Deshalb war es dem Jungen selber doppel leid, dass er einen so armseligen Fang getan. Finster starrte er vor sich nieder und schlenkerte die Gerte mit den zwei daran hängenden Schwänzlein um die Beine. Die Großmutter aber nickte ihm tröstend zu:

»Lass gut sein, Dieter! Kann der Vater dem Pater Crispus morgen keinen Hecht bringen, so soll er ihm zu Johanni einen schönen Lachs hinauftragen. Und du kümmer dich nicht! Wirst auch wieder bessere läge haben. Hast ja noch immer Glück gehabt! Und wer weiß«, fügte sie kichernd bei, »morgen ist Pfingsttag, vielleicht findest du die schwarze Rose? Dann freilich, dann hättest du ausgesorgt für deiner Lebtag und könntest im Glück sitzen bis an den Hals!«

Dieter machte große Augen, aber er sagte kein Wort, sondern kehrte an das Ufer zurück, um die Netze zum Trocknen auszubreiten. Doch als es zu dämmern begann, kam er zur Großmutter auf die Hausbank geschlichen und fragte leise: »Mutter Hanni, sag mir... wie ist das mit der schwarzen Rose?«

Schmunzelnd legte sie den Finger auf ihren welken Mund und guckte vorsichtig über die Schulter, ob nicht etwa Dieters Vater in der Nähe stünde, der die alten Geschichten, die sie zu erzählen wusste, ein >unchristliches Zeug< zu schelten pflegte. Und richtig, da drüben stand er und scheuerte an einem Boot. Mutter Hanni erhob sich und humpelte, als hätte sie dringend nach irgend etwas zu sehen, ans Ufer hlnunter. Dieter verstand die Alte; er folgte ihr, kettete den Einbaum los, und so fuhren sie hinaus auf den dunklen, spiegelglatten See. Im Röhricht hörte man die wilden Enten schnattern, leise plätscherte das Wasser unter dem Ruder, Nachtfalter schwirrten, allmählich erwachten die Sterne, und doppelt sah man den Himmel mit seinen tausend leuchtenden Augen: hoch in der Höhe und tief im stillen See. Und Mutter Hanni fing zu erzählen an:

»Es war einmal vor langen, langen Jahren ein junger Königssohn. Der hieß Balden. Er war schön von Gestalt, sein Antlitz leuchtete wie die Sonne, und wie geringelte Lichtstrahlen waren die Goldlocken, die sein Haupt umringen. Und weil er so schön war und dazu von tapferem Herzen, gewann er sich die Liebe einer guten Fee . . . «

»Mutter Hanni... was ist das, die Liebe?«

»Wart's nur ab, einfältiger Jung, sie kommt schon noch über dich, und dann wirst du sehen, dass sie das Beste und Schönste ist, süßer als Honig, wärmer als die Sonne ... Aber lass mich erzählen! Die gute Fee also, die hieß Frau Jertha und wohnte in einem wundersamen Rosengarten. Allabendlich verließ der Königssohn sein goldenes Schloss und ritt durch Bergschluchten und finsteren Wald zu seiner Liebsten und blieb bei ihr bis am Morgen wieder die Sonne stieg.«

»Und sag, Mutter Hanni, was tat er bei ihr?«

»Einfältiger Bub du! Sie waren eben beieinander... und hatten sich lieb.«

»So, wie du mich lieb hast und ich den Vater?«

»Natürlich, nur ein klein wenig anders!« kicherte die alte Frau. »Aber lass deine dummen Fragen jetzt, ich will erzählen. Also - in dem Walde, der den Rosengarten der Frau Jertha umgab, da wohnte ein garstiger Riese. Der hieß Höcker weil er einen abscheulichen Buckel hatte. Er hasste alle Menschen, aber in Frau Jertha war er verliebt, und weil sie ihn nicht leiden mochte, schwor er blutige Rache. Er lauerte dem Königssohn im Walde auf, stieß ihm von rückwärts einen Speer ins Herz und verscharrte die Leiche.«

»Der Schuft!« fuhr Dieter auf. »Hätt' ich ihn nur zwischen meinen Fäusten!«

»Frau Jertha aber stand in ihrem Rosengarten und wartete auf ihren Prinzen Goldhaar, und als die Nacht verging und der Königssohn nicht kommen wollte, fühlte sie gleich in ihrem Herzen, dass ihm ein Leid geschehen wäre. Sie machte sich auf, ihn zu suchen, und ihr Leid war so tief, dass sie nicht weinen konnte. Nur manchmal fiel eine heiße Träne aus ihren traurigen Augen, und wo das Tröpflein zur Erde fiel, da wuchs eine schwarze Rose. Frau Jertha ist vor Sehnsucht gestorben und zu ihrem Königssohn in den Himmel gekommen. Aber die schwarze Rose, die ist noch immer da! Doch blüht sie in jedem Jahr nur einen Tag, am heiligen Pfingsttag - und die Leute sagen, wer die schwarze Rose finden könnte, der wäre unter allen Menschen der glücklichste!«

»Und wo, Mutter Hanni, wo wächst die schwarze Rose?«

»Ja, wer das wüsste! Aber die Leute sagen, sie blühe in einem schönen, sonnigen Wald. Und wem bestimmt wäre, sie zu brechen, der fände von selbst den Weg zu ihr - ihm begegne in jenem sonnigen Wald ein Greis mit silberweißem Bart, und den dürfte er nur fragen: Hast du die schwarze Rose nicht gesehen? - und dann muss ihm der Alte den Weg ansagen, ganz genau . . . « Mutter Hanni griff ängstlich mit beiden Händen nach dem Brett, auf dem sie saß. »Aber! Dieter! Was machst du denn?«

Mit jähem Ruderschlag hatte Dieter den Einbaum gedreht. »Es ist spät, Großmutter, wir müssen schlafen gehen!« sagte en Und seltsam erregt klang seine Stimme. Eilig ruderte er dem Ufer zu und suchte nach kurzem Gutenachtgruß seine kleine Kammer auf. Hier lag er mit offenen Augen, und als es im Hause still geworden, als der Mond mit hellem Schein durch das niedere Fenster leuchtete, erhob sich Dieter leis und zog sein bestes Gewand an: die roten Strümpfe, die kurzen Beinkleider aus geschwärztem Hirschleder und das braune Wams, das gleich einem Herrenrock mit dem zarten goldgelben Pelz verbrämt war, den die Edelmarder an der Kehle tragen. Über die Haare stülpte er eine Lederkappe mit den zierlichen Reiherfedern, warf die Armbrust hinter die Schulter und steckte sein Fischmesser in den Gürtel. Da sah er nun in Wahrheit mehr einem ritterlichen Knappen gleich als dem armen Sohn eines Einödfischers. Lautlos verließ er das Haus und schritt hinaus in die stille, helle Mondnacht.

Ruhigen Ganges wanderte er durch den leise rauschenden Wald, umzittert von den spielenden Lichtern, die der Mondschein durch die sacht sich regenden Zweige warf. Er achtete nicht des Weges, aufs Geratewohl schritt er dahin, versunken in Sinnen und Träumen - wer auserlesen ist, die schwarze Rose zu brechen, der findet ja von selbst den Weg zu ihr, so hatte Mutter Hanni gesagt. Wie aber dürfte er hoffen, dass unter läusenden gerade er der Begnadigte wäre? Aber ist es denn eine Sünde, sein Glück zu prüfen? Und hätte er, um diese Probe zu wagen, den nächsten Tag versäumen sollen, um ein ganzes Jahr lang wieder auf Pfingsten warten zu müssen? Das war der kurze Kreislauf seiner Gedanken - alles andere in ihm war Träumen und Hoffen.

Vier Stunden war er gegen das ebene Land hinaus gewandert, als der Wald ein Ende nahm. Nun sank auch der Mond hinter die Berge, und dunkle Nacht verhüllte alles Gefild. Dieter wanderte zu und zu. Er kam an Wiesen und jungen Feldern vorüber im Zwielicht sah er die Zinnen einer Weste ragen, und auf breiter Straße schritt er durch ein Dorf, in dem die Hunde anschlugen. Dann wieder Felder und wieder Wald. Einmal ließ er sich zur Rast vor einem Busche nieder, schloss träumend die Augen - und sank in Schlummen

Natürlich fand er im Traum die schwarze Rose. Mit einem Jauchzer warf er sich nieder zur Erde, doch als er die Wunderblume brechen wollte, stand der Riese Höcker vor ihm, schwang den blutigen Speer, und - da erwachte Dieter Staunend sah er umher. Einen Wald wie diesen hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Er kannte nur den Tannenwald, den dunklen, wilden Forst der Berge. Und hier war alles Laub, lichtgrünes Laub, durchgoldet von den Strahlen der Morgensonne. Kugelige Bäume wechselten mit lieblichen Gebüschen, hoch stand das Gras, in bunten Farben blühten die Blumen, und lichte Schmetterlinge gaukelten von Blüte zu Blüte. An jedem Grashalm, an jedem Blatt und an der Spitze eines jeden Zweiges hing ein winziges Tröpflein, in Farben schimmernd gleich einem Edelstein. Hoch in den Laubkronen sangen die Drosseln, und aus den Büschen klang der trillernde Finkenschlag.

Pfingstmorgen!

Dieter rieb sich die Augen; er staunte umher, heftig begann sein Herz zu klopfen - in einem wunderbaren Walde blüht die schwarze Rose, hat Mutter Hanni gesagt - und welch ein Wald könnte wundervoller sein als dieser? Ja, ja, er ist am Ziel, er hat den rechten Weg gefunden im Schlaf! Nun hört er Schritte näher kommen - zwischen den Büschen taucht ein alter, graubärtiger Bauer auf, der zur Kirche wandert - und für Dieter ist dieses Bäuerlein >der Greis mit dem Silberbart<! Einen Augenblick stockt dem Burschen der Herzschlag, dann aber fasst er seinen Mut zusammen und fragt:

»Hast du die schwarze Rose nicht gesehen?«

»Ei freilich!« nickt der Alte und deutet mit seinem Stock über die Schulter zurück. »Geh nur so fort noch ein Weilchen und dann das erste Weglein links - dort siehst du sie gleich, wo's rechter Hand zu dem kleinen Haus hinübergeht am Straßenraln.«

»Gott vergelt's!« stammelte Dieter und rannte davon. Jetzt kam das >Weglein links<, mit brennenden Augen überflog er die beiden Ränder des Pfades - nun eine Biegung - und da verhielt er plötzlich die Schritte; ein schmerzvoller Laut war an sein Ohr geschlagen. Zögernd bog er um einen blühenden Busch und sah am Wegrain ein junges Mädel sitzen. Ein ärmliches Gewand umhüllte den zarten, knospenden Körper, wie eine schwarze Welle floss ihr das gelöste Haar über den Rücken, sie hielt das Gesicht in die Hände vergraben, und unter leisem Schluchzen zitterten die schmalen Schultern, von denen das Linnen ein wenig niedergeglitten war.

»Was hast du, Mädel? Sag? Warum weinst du?«

Da hob sie das Köpfchen und zeigte ihm ein liebliches, nur unsagbar trauriges Gesicht, von Tränen überströmt, mit kirschroten Lippen, mit Augen, die auch wie Kirschen waren, aber wie schwarze Kirschen. Sie sah ihn an mit einem langen, stummen Blick, dann wieder schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte: »Mein Vater ist tot. Und gestern haben sie mir die gute Mutter begraben. Und nun hab ich keinen Menschen nimmer -und bin allein -allein... «

Dieters Augen wurden feucht; er warf die Armbrust in das Gras, ließ sich an der Seite der Weinenden nieder, redete ihr tröstend zu, sagte, er wüsste wohl eine Heimat für sie, und erzählte von seinem schönen See, von seinem dunklen, rauschenden Wald und von der freundlichen Hütte seiner Eltern.

Sie hatte Vertrauen zu ihm gewonnen gleich beim ersten Blick - seine Stimme klang so warm und herzlich - und als sie ihm recht in die guten, treuen Augen sah, begannen ihre Zähren zu versiegen. Und während sie seinen Worten lauschte, litt sie es gerne, dass er den Arm um ihre Schultern legte und ihre feuchten Wangen streichelte. Als er dann nach ihrer toten Mutter fragte und sie nun doch wieder leise zu weinen begann, zog er sie zärtlich an seine Brust, küsste ihre Stirne, ihren zuckenden Mund - und immer wieder - und das dünkte ihm süßer als Honig, und ihm wurde selig warm ums Herz. Da musste er an die Worte der alten Hanni denken, und enger noch zog er das Mädel an sich: »Jetzt kenn ich sie, die Liebe - und

Mutter Hanni hat recht, sie ist das Schönste und Beste, süßer als Honig, wärmer als die Sonne - und die Lieb ist über mich gekommen, derweil ich auszog, die schwarze Rose zu suchen.«

»Die schwarze Rose?« stammelte das Mädel und sah zu ihm auf, errötend unter Tränen. »Das bin ja ich! Meine Mutter rief mich Rose... und weil mein Haar so schwarz ist, haben mich die Leute die schwarze Rose genannt!«

Er guckte sie an mit großen, glücklichen Augen. Dann schrie er einen Jauchzer in den Morgen hinaus und umschlang sie mit beiden Armen.

»Komm nur! Komm, mein schwarzes Röslein! Komm! Wir wollen heim zu wandern.«

Und Hand in Hand, so schritten sie dahin durch den blühenden Frühlingswald - den blauen Bergen entgegen.