Die Schwanenkönigin
( von Christian Tobias Krug )

Vor langer Zeit lebte einmal ein mächtiger König, der einen einzigen Sohn hatte. Dieser war wohl stark und klug, gleichzeitig aber auch stolz und hochmütig. Er besaß die kostbarsten Kleider, an seinen Fingern funkelten wertvolle Ringe und an seinem Gürtel glänzte ein goldener Säbel.

Der König war Herr über ein großes Land, lebte in einem prächtigen Palast und besaß alles nur erdenkliche, was man für Geld kaufen konnte. Dennoch aber konnte der König sich seines Lebens nicht recht freuen, denn sein Körper war befallen von einer seltenen Krankheit. Jeden Tag schluckte er bittere Medizin, aber nichts schien ihm zu helfen, und selbst die weisesten Ärzte des Reiches waren verzweifelt und wussten sich keinen Rat mehr.

Eines Tages, zu später Stunde, kam eine alte Frau zum Schloss, die behauptete, sie wüsste, wie dem König zu helfen sei. Sie wurde auch sogleich an das Bett des kranken Königs geführt.

„Majestät“, sprach die Alte, „im Norden des Landes, am Fuß eines hohen Berges, liegt ein heiliger See. Wer von seinem Wasser trinkt, der wird von allem Leid und jeder Krankheit befreit.“

Wie der König dies hörte, schöpfte er wieder neuen Mut und rief seinen Sohn zu sich, er solle ihm von dem Wasser holen. Da nahm der Königssohn einen goldenen Kelch, sattelte sein Pferd und machte sich auf den Weg, den See zu suchen. Lange Zeit ritt er über Wiesen und Felder, durch Dörfer und Wälder und erreichte letztendlich, nachdem er sieben Tage und Nächte geritten war, den Berg, an dessen Fuße der See mit dem Wunderwasser lag. Da stieg er vom Pferd, trat an das Ufer heran und packte den goldenen Kelch aus, um ihn mit dem Wasser zu füllen. Als er aber aus dem See schöpfte und den Kelch gegen die Sonne hielt, bemerkte er, dass das Wasser darin trüb geworden war. Rasch leerte er den Kelch und schöpfte nach, doch als er den Kelch abermals gegen die Sonne hielt, trübte sich sein Wasser zum zweiten Mal. Da goss er das trübe Wasser fort und versuchte es ein drittes Mal, doch es erging ihm nicht besser wie zuvor. Der Königssohn wusste sich keinen Rat, ließ sich am Ufer nieder und begann, zu weinen. Und wie er bekümmert an dem See saß und weinte, erblickte er plötzlich einen Schwan auf dem Wasser schwimmen. Der Schwan bemerkte den Königssohn, kam an das Ufer geschwommen und sprach: „Was bedrückt dich, Königssohn? Du weinst, als sei dir ein großes Unglück geschehen.“

„Ach“, antwortete er, „mein Vater ist schwer krank und nichts will ihm helfen, außer das Wasser aus diesem See. Doch fülle ich meinen Kelch damit, so trübt es mir augenblicklich darin.“

„Weine nicht“, erwiderte der Schwan. „Das rechte Wasser will ich dir schon besorgen. Sag, was gibst du mir, wenn ich dir helfe?“

„Was immer du willst, lieber Schwan“, antwortete der Königssohn. „Mit Gold und Silber könnt ich dich überhäufen und allen Kostbarkeiten des Reiches.“

„Ach was!“, spottete der Schwan und winkte ab. „Deine Schätze behalte ruhig. Aber wenn du mich mit auf deines Vaters Schloss nehmen willst und mir versprichst, dass ich von deinem Teller essen, aus deinem Becher trinken und zusammen mit dir in deinem Bett schlafen darf, dann werde ich für dich den Kelch mit dem Wasser füllen und dein Vater wird bald wieder gesund werden.“

„Ach ja“, sagte er rasch. „Ich verspreche dir alles, was du verlangst, wenn du mir nur weiterhilfst.“

Doch bei sich dachte der stolze Königssohn: Was dieser lächerliche Wasservogel schwätzt! Was hätte er an meines Vaters Hof verloren? Wenn ich das Wasser habe, so reite ich ihm einfach davon.

Der Schwan nahm den goldenen Kelch zwischen den Schnabel, schwamm hinaus in die Mitte des Sees und brachte ihn randgefüllt zum Ufer zurück. Der Königssohn besah sich das Wasser darin und merkte, dass es frisch und klar und kein bisschen trübe war. Da nahm er den vollen Kelch an sich, schwang sich ruckartig auf sein Pferd und galoppierte wie der Wind davon, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal nach dem Schwan umzublicken.

Als der Königssohn zum Schloss zurückgekehrt war, gab er seinem Vater von dem Wasser zu trinken, der bald darauf wieder zu Kräften kam und sich von seiner Krankheit erholte. Vor Freude ließ er ein riesiges Fest veranstalten und lud das halbe Königreich dazu ein. Die Gäste kamen in Scharen und der große Festsaal des Schlosses war geschmückt wie nie zuvor. Der König ließ seine Köche für die köstlichsten Speisen und seinen Mundschenk für den besten Wein sorgen.

Als nun das Fest in vollem Gange war und sie zur Abendstunde alle an der Tafel saßen und von goldenen Tellern aßen, klopfte es plötzlich an der Saaltür und eine Stimme rief: „Königssohn, öffne mir!“

Da stand der Königssohn von seinem Stuhl auf, als er jedoch die Tür öffnete, saß draußen der Schwan auf der Schwelle. Da schlug er die Tür hastig zu und setzte sich wieder an den Tisch. Der König, der auf dem Platz neben ihm saß, merkte wohl, dass ihm bange war, und sagte: „Mein Sohn, ich sehe, du fürchtest dich. Steht etwa ein Drache vor der Tür?“

„Ach nein, es ist kein Drache“, antwortete er, „sondern ein boshafter Schwan.“

Im selben Moment klopfte es ein zweites Mal und die Stimme rief: „Königssohn, öffne mir!“

„Was will der Schwan von dir?“, fragte der König erstaunt.

„Als ich zu dem See ritt, um von dem Wunderwasser zu holen, trübte es mir, sobald ich meinen Kelch damit füllte. Da half mir der Schwan. Und weil er es durchaus verlangte, versprach ich ihm, er solle mein Kamerad werden.“

„Nun, was du versprochen hast, das musst du auch halten“, erwiderte der König. „Geh und hole ihn herein!“

Da musste der Königssohn die Tür öffnen und der Schwan kann mit seinen Schwimmfüßen in den Saal gewatschelt. Ein Stuhl wurde geholt und er gesellte sich neben den Königssohn an den Tisch.

„Nun lass mich von deinem Teller essen“, sagte der Schwan zum Königssohn. „Gehe in die Küche und hole einen guten Bissen für mich.“

Der Königssohn tat nichts, bis sein Vater es ihm befahl. Da nahm er seinen Teller und ging in die Küche. In der Küche aber tauschte er seinen eigenen Teller gegen einen anderen aus – diesen füllte er mit Essen und kehrte in den Festsaal zurück, wo der Schwan die Speisen mit seinem Schnabel davon herunterpickte.

Als er satt war, sprach er: „Nun lass mich aus deinem Becher trinken. Geh in den Keller und hole Wein für mich.“

Widerwillig machte sich der Königssohn auf den Weg in den Weinkeller. Dort jedoch vertauschte er seinen eigenen Becher mit einem anderen und der Schwan trank den Wein daraus, als er in den Festsaal zurückkehrte.

„Nun habe ich genug gegessen und getrunken und bin müde“, sagte der Schwan. „Trage mich hinauf in deine Kammer und mache dein Bett zurecht, da wollen wir und schlafen legen.“

Da packte der Königssohn grob den Schwan, trug ihn hinauf in seine Kammer und setzte ihn dort auf den Boden. Als er sich jedoch schlafen legte, wollte der Schwan zu ihm ins Bett kriechen. Er aber stieß ihn gewaltsam in eine Ecke und rief zornig: „Bleib mir ja vom Leib, boshafter Schwan!“

Da verwandelte sich der Schwan mit einem Male in eine wunderschöne Prinzessin. Sie war über alle Maßen schön, doch ihre Augen waren traurig. Der Königssohn blickte sie an und verliebte sich sogleich in sie.

„Bist du der Schwan?“, fragte er erstaunt.

„Ich war der Schwan“, antwortete sie.

„Du warst verwünscht“, erwiderte der Königssohn stolz. „Und ich habe dich erlöst.“

„Du hast mich aus dem See befreit. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr.“

Er ging zu ihr und wollte sie küssen, doch sie entzog sich ihm. Verwirrt blickte er sie an und fragte, warum sie nicht mit ihm zusammensein wolle.

„Hättest du dein Versprechen gehalten, nichts auf der Welt könnte uns jetzt nun trennen“, antwortete sie traurig. „Doch du hast dich von deinem Hochmut leiten lassen. Nun muss ich fort.“

Und damit verließ sie das Schlafgemach und ging fort, ohne dass jemand wusste, wohin sie verschwunden war. Da wurde der Königssohn ganz unglücklich, rannte zu seinem Vater und klagte ihm sein Leid. Daraufhin schickte der König hinaus, die überall nach der Prinzessin suchen sollten. Nicht lange, da kam ein Mann auf einem braunen Pferd geritten, der sprach: „In den Ländern des Westens weiß niemand etwas von dieser Schwanenkönigin.“

Einige Zeit später kam ein weiterer Bote auf einem Bären geritten, doch auch in den Ländern des Nordens hatte niemand die Schwanenkönigin gesehen. Wenige Tage darauf kam ein Mann zum Schloss, der ritt auf einem Esel, und sagte: „In den Ländern des Ostens weiß niemand etwas von dieser Schwanenkönigin.“

Die Enttäuschung war nicht geringer, als daraufhin ein Mann kam, der auf einem Kamel ritt, denn auch dieser sagte: „In den Ländern des Südens weiß niemand etwas von dieser Schwanenkönigin.“

Schließlich aber kam zu Fuß ein ganz unheimlicher Mann zum Schloss, völlig in ein schwarzes Gewand gehüllt. „Ich habe sie gesehen“, sagte er. „Ihre Spur verliert sich am Ende der Welt.“

Der Königssohn freute sich über den Boten, fasste sich ein Herz und beschloss, sich selbst auf die Suche nach der Prinzessin zu machen. Von seinen Kostbarkeiten packte er nur drei Dinge zusammen: Ein goldenes Amulett, seinen goldenen Säbel und den goldenen Kelch, mit dem er das Wasser für deinen kranken Vater geschöpft hatte. Dann sattelte er sein Pferd und ritt in die Welt hinaus. In allen Städten und Dörfern, die er durchquerte, fragte er nach der Schwanenkönigin, doch niemand schien jemals von ihr gehört zu haben. Als er ein Gebirge durchritt, war der weg zu steil für das Pferd, so dass er absteigen und zu Fuß weitergehen musste. Als er die Berge hinter sich gelassen hatte, begegnete ihm auf einem Acker ein Bauer mit einem Esel, der hielt einen Knüppel in der Hand und wollte das Tier totschlagen.

„Warum wollt Ihr den Esel umbringen?“, fragte der Königssohn.

„Ach“, klagte der Bauer, „der Esel ist zu alt und zu schwach, um noch länger den Acker zu pflügen. Er kann mir nicht mehr dienen.“

„Für zwei Goldstücke kaufe ich Euch den Esel ab“, erwiderte der Königssohn. Damit war der Bauer zufrieden und der Königssohn setzte auf den Esel, der ihn treu und dankbar weitertrug.

Er ritt ein Stück des Weges, da begegnete ihm die Sonne.

„Ich suche die Schwanenkönigin“, sprach der Königssohn zur Sonne. „Hast du sie gesehen?“

„Was willst du von ihr?“, fragte die Sonne.

„Mein Versprechen einlösen.“

„Mein Sohn, ich habe sie nicht gesehen. Doch möchte ich dir etwas geben, was dir noch von Nutzen sein kann, hast du die Schwanenkönigin erst gefunden.“

Damit überreichte sie ihm ein schwarzes Stück Kohle. Der Königssohn wusste nicht, wie ihm ein Kohlestück von Nutzen sein könnte, doch nahm er das Geschenk dankbar an.

„Wenn du diesen Weg weiterreitest, kommst du zum Mond“, sagte die Sonne. „Vielleicht weiß er einen Rat für dich.“

Da ritt der Königssohn den Weg weiter und nicht lange, da kam ihm der Mond eilenden Schrittes geradewegs entgegen.

„Ich suche die Schwanenkönigin“, sagte er zum Mond. „Hast du sie gesehen?“

„Was willst du von ihr?“, fragte der Mond.

„Mein Versprechen einlösen.“

„Mein Sohn, ich habe sie nicht gesehen. Doch möchte ich dir etwas geben, was dir noch von Nutzen sein kann, hast du die Schwanenkönigin erst gefunden.“

Mit diesen Worten gab ihm der Mond einen Sack alter Wäsche. Der Königssohn war verwirrt darüber, jedoch steckte er den Sack ein und dankte dem Mond.

„Wenn du diesen Weg weiterreitest, kommst du zum Wind“, sagte der Mond. „Vielleicht weiß er einen Rat für dich.“

Der Königssohn verabschiedete sich vom Mond und ritt mit dem Esel weiter und bald schon brauste der Wind stürmend heran.

„Ich suche die Schwanenkönigin“, sprach er zum Wind. „Hast du sie gesehen?“

„Sie ist verbannt“, erwiderte der Wind. „Sie lebt am Weltende in einem furchterregenden, dunklen Schloss. Doch sage mir, was willst du von ihr?“

„Mein Versprechen einlösen.“

„Ich verstehe“, antwortete der Wind. „Da ich sehe, dass du aufrichtig bist, will ich dir helfen. Ich werde dich zu dem Schlosse tragen. Doch mehr kann ich nicht tun.“

„Ich danke dir, Wind!“, rief der Königssohn freudig und der Wind ergriff ihn und seinen Esel und trug beide hoch in die Lüfte, immer weiter über Wiesen und Wälder. Schließlich, als es Abend werden wollte, erblickte der Königssohn aus der Ferne das dunkle Schloss, welches alt und verfallen auf einem kahlen Hügel thronte. Der Wind setzte sie auf der Erde ab und der Königssohn stieg von seinem Esel und klopfte beherzt an das riesige morsche Schlosstor, worauf ihm ein grässlicher Rittersmann öffnete. Er war beinahe doppelt so hoch wie der Königssohn und ganz in einer glänzenden Rüstung mit scharfem Schwert bekleidet, während in seinem Gesicht ein wilder Bart wuchs.

„Was willst du?“, fragte der Ritter grob.

„Ich möchte zu der Schwanenkönigin“, erwiderte er.

„Was willst du von ihr?“

„Ich bin ihr Geliebter“, antwortete der Königssohn.

Da brach der riesenhafte Ritter in schallendes Gelächter aus. „Die Königin liebt niemanden und kann daher kaum einen Geliebten haben.“

Und darauf schlug er das Tor wieder zu und ließ den Königssohn alleine draußen zurück. Da nahm er den Sack alter Wäsche, den ihm der Mond gegeben hatte, legte seine kostbaren Gewänder ab und zog stattdessen die schlichten Kleider an. Dann nahm er das Kohlestück, welches ihm die Sonne geschenkt hatte, und färbte sich Gesicht und Hände schwarz. So verkleidet klopfte er erneut an das Schlosstor und zum zweiten Mal öffnete ihm der Rittersmann.

„Was willst du?“, fragte er wieder.

„Ich bin der neue Knecht“, antwortete der verkleidete Königssohn. „Lasst mich herein, die Königin befahl mich hierher.“

Der Ritter wollte ihm zunächst nicht glauben, wagte jedoch nicht, sich gegen den Befehl seiner Herrin zu stellen, und ließ ihn herein. Zusammen mit dem Esel schritt der Königssohn durch das Tor und betrat das unheimlich, alte Schloss. Alle Gemäuer bestanden aus dunklem Stein und zeichneten sich einsam und trostlos gegen den Himmel ab. Der Königssohn brachte zuerst den Esel zu einem Stall auf dem Hof, um ihn dort mit Wasser und Heu zu versorgen, und machte sich dann über eine steile Turmtreppe auf den Weg in die Schlossküche. Der Koch war ein hässlicher, fetter Mann und bereitete auf dem dampfenden Herd einen Braten zu.

„Wer bist du?“, fuhr ihn der Koch an.

„Der neue Knecht bin ich“

„Und was willst du in der Küche?“

Da nahm der Königssohn das goldene Amulett, das er von Zuhause mitgenommen hatte, und sprach: „Wenn Ihr erlaubt, dass ich den Braten zur Königin bringe, schenke ich es Euch.“

Damit war der Koch durchaus einverstanden und griff gierig nach dem Amulett. Der Königssohn nahm den Braten zusammen mit Geschirr und Besteck und der Koch zeigte ihm den Weg zum Saal der Königin, welcher ebenso zerfallen und dunkel war wie der Rest des Schlosses. Dort saß die Prinzessin an einem großen Tisch aus kaltem Stein und war ganz in ein schwarzes Gewand gehüllt. Ihr Gesicht glich einer starren Maske.

„Wer bist du?“, fragte sie, denn in seinen schlechten Flickenkleidern und dem kohlegefärbten Gesicht erkannte sie ihn nicht mehr.

„Der neue Knecht“, entgegnete er.

Sie nickte und gebot ihm, das Essen aufzutragen. Da schnitt er ein großes Stück Braten ab und reichte es ihr auf einem Teller zusammen mit dem Besteck. Als sie jedoch ein wenig davon gegessen hatte, griff er nach dem Teller und biss selbst ein Stück von dem Braten ab.

„Du isst von einem Teller mit mir!“, rief die Prinzessin zornig, sprang vom Tisch auf und lief wutentbrannt in die Küche.

„Weshalb lässt du den Knecht auftragen?“, fuhr sie den Koch an. Er zeigte ihr das goldene Amulett, das er im Gegenzug erhalten hatte. Da war sie hocherstaunt, nahm das Amulett und sprach verwundert: „Wie kommt ein armer Knecht nur an ein so kostbares Amulett?“

„Vielleicht ist er kein Knecht“, riet ihr der Koch. „Stellt ihn einmal auf die Probe und gebt ihm morgen zwei kaputte Stiefel, die jeweils ein Loch in der Sohle haben, die soll er flicken. Ein Knecht wird dazu gewiss in der Lage sein. Schafft er’s jedoch nicht, so könnt Ihr sicher sein, dass er ein Schwindler ist.“

Der Rat des Kochs gefiel der Prinzessin sehr. Am nächsten Morgen lief der Königssohn in aller Frühe zu seinem Esel im Stall auf dem Hof. Und als er ihn mit klaren Wasser und frischen heu versorgen wollte, fing das Tier auf einmal an, zu sprechen: „Du hast nicht zugelassen, dass der Bauer mich tötet, so kann ich dir nun helfen. Die Prinzessin will, dass du die Sohlen zwei kaputter Stiefel flickst. Flicke die Löcher, so gut du es kannst, und sage der Prinzessin anschleißend, sie soll die Stiefel zur Probe mit Wasser füllen.“

Der Königssohn wunderte sich über den eigenartigen Rat, dankte aber dem Esel und streichelte ihm sanft übers Fell.

Nur wenige zeit später ließ die Prinzessin nach ihm rufen und überreichte ihm zwei kaputte Stiefel, deren Sohlen er flicken sollte. Da nahm er Nadel und Faden und versuchte, die Löcher zu stopfen, so gut er es konnte. Doch die Arbeit fiel ihm schwer und so sehr er sich auch bemühte, die Löcher wollten sich einfach nicht vollständig schließen lassen. Als seine Finger bereits wund vom Nähen waren und er glaubte, die Stiefel nach seinem Können einigermaßen ausreichend geflickt zu haben, gab er sie der Prinzessin und sagte ihr, sie solle zur Probe Wasser hineinlaufen lassen, ganz wie der Esel ihm geraten hatte. Da hängte sie die Stiefel an einen Nagel an der Wand und füllte sie beide bis obenhin mit Wasser. Das Wasser aber zog die Löcher zusammen und so bleiben die Stiefel voll mit Wasser und kein einziger Tropfen rann heraus. Die Prinzessin erzählte dem Koch, wie alles ausgefallen war, und beide waren sich nun sicher, einen Knecht im Hause zu haben.

Währenddessen machte sich der Königssohn auf den Weg in den Weinkeller, der tief und düster unter dem Schloss lag. Dort traf er geradewegs auf den Mundschenk, ein wilder Mann mit grauer Haut und langem, schütterndem Haar.

„Wer bist du?“, fragte der Mundschenk nicht weniger unfreundlich als zuvor der Koch.

„Der Knecht.“

„Und was willst du ihm Weinkeller?“

Da überreichte ihm der Königssohn den goldenen Säbel.

„Erlaubt, dass ich den Wein zur Königin bringe, und Ihr könnt ihn behalten.“

Der Mundschenk war erfreut über das wertvolle Geschenk und ließ den Königssohn gewähren. Dieser nahm einen Becher, füllte ihn mit Wein, den er aus einem Fass zapfte, und brachte ihn zum Saal der Prinzessin, wo sie wieder an dem großen Steintisch saß.

„Das bist du ja wieder“, sprach die Prinzessin, als sie ihn erkannte.

„Ja“, erwiderte er und überreichte ihr den Becher mit Wein. Kaum hatte sie jedoch ein paar Schlücke daraus getrunken, nahm er den Becher und trank selber auch daraus.

„Du trinkst aus einem Becher mit mir!“ Die Prinzessin wurde noch wütender als beim ersten Mal und begab sich geradewegs in den Keller.

„Weshalb bloß erlaubst du dem Knecht, mir den Wein zu bringen?“, fragte sie den Mundschenk voller Zorn. Da zeigte er ihr den goldenen Säbel, den ihm der Königssohn geschenkt hatte. Die Verwunderung der Prinzessin kannte keine Grenzen. „Wie kommt ein Knecht bloß an einen so wertvollen Säbel?“, rief sie erstaunt aus.

„Vielleicht ist’s kein Knecht“, erwiderte der Mundschenk. „Wenn Ihr wollt, streue ich morgen in der Frühe Erbsen auf die Schlosstreppe, so dass er ausrutscht und hinunterstürzt. Sicher wird er glauben, jemand habe ihm absichtlich schaden wollen, und sofort zu Euch gelaufen kommen. Wenn er laut flucht, ist er ein Knecht. Wenn er aber weint, dann ist er ganz gewiss einer jener verweichlichten Knaben aus gutem Hause.“

Damit war die Prinzessin zufrieden und noch bevor am nächsten Tag die Sonne aufging, streute der Mundschenk Erbsen auf die Schlosstreppe. Und als der Königssohn die Treppe hinunterrennen und zu seinem Esel auf den Hof wollte, rutschte er aus und stürzte krachend und polternd hinunter. Laut schrie er auf vor Schmerz und die Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen die Wangen hinunter.

„Jemand hat Erbsen auf die Treppe gestreut“, heulte er laut, als er in den Stall zu seinem Esel gehumpelt war.

„Der Mundschenk war es“, erwiderte der Esel. „Mit dieser Hinterlist möchte er deine Verkleidung enthüllen.“

Da stieg Wut in ihm auf, er vergaß alle Tränen, lief zur Prinzessin, fluchte und schimpfte lauthals über den niederträchtigen Mundschenk, dem er die Arbeit abgenommen und der es ihm auf so dreckige Weise gedankt hatte. Die Prinzessin lächelte milde und versprach, sich der Sache anzunehmen.

„Er flucht wie ein Knecht“, sagte sie, als der Königssohn die Tür hinter sich ins Schloss hatte krachen lassen, und sie zum Mundschenk lief, um ihm zu erzählen, wie alles gekommen war.

Am Abend darauf aber betrat der Königssohn das Schlafgemacht der Prinzessin, wo der Kammerherr das Bett richtete. Genau wie der Koch und der Mundschenk fragte ihn der Kammerherr, der bereits alt und vergreist war, wer er sei und was er im Schlafgemach der Königin wolle. Da nahm er den goldenen Kelch heraus und sagte: „Wenn Ihr mich der Königin das Bett richten lasst, gehört er Euch.“

Der Kammerherr zögerte erst, doch das goldenen Glitzern des Kelches verzauberte ihn gar, dass er schließlich doch einwilligte.

Der Königssohn zog aber nur Schuhe und Weste aus, legte sich in das Bett und zog sich die Decke tief über das Gesicht.

Zu später Stunde kam die Prinzessin und wollte sich schlafen legen. Als sie jedoch in ihr Bett stieg und die Augen schließen wollte, merkte sie, dass sie nicht alleine dort lag.

„Du schläfst in einem Bett mit mir!“ Der Zorn der Prinzessin kannte keine Maße mehr. Rasch sprang der Königssohn aus dem Bett, zog Weste und Schuh wieder an und verschwand aus der Kammer.

Kochen vor Wut rief die Prinzessin nach dem Kammerherrn. „Womit hat er dich bestochen?“

„Nicht bestochen“, antwortete der Kammerherr. „Er war so sehr darauf aus, Euch selbst das Bett zu richten, das schenkte er mir im Austausch einen goldenen Kelch.“

Da holte er das Geschenk des Königssohns hervor und zeigte es der Königin. Die Prinzessin nahm den Kelch und erkannte ihn wohl.

„Ach“, rief sie freudig. „Dann ist er am Ende doch kein Knecht.“

Am nächsten Morgen wurde eine prächtige, weiße Kutsche auf den Hof des Schlosses gebracht. Die Prinzessin rief nach dem Königssohn und sprach: „Bereite die Kutsche vor und kutschiere mich zum Schloss des Mannes, der mich zu seiner Gemahlin nehmen wird.“

Das Herz drohte dem Königssohn stillzustehen, als er diese Worte hörte.

„Ich soll Euch zu Eurem Gemahl bringen?“, fragte er traurig. „Verlangt dies bitte nicht von mir.“

Doch die Prinzessin bestand darauf, ob er wollte oder nicht. Da musste er die Kutsche vorbereiten und spannte zwei weiße Pferde davor und zwischen ihnen seinen Esel. Die Prinzessin stieg ein und er setzte sich auf den Kutschbock. Sie fuhren zum Schlosstor hinaus, über Stock und Stein, immer weiter, und die Pferde und der Esel zogen die Kutsche und die Tränen rannen dem Königssohn leise über die Wangen.

„Was bedrückt dich, Königssohn?“, sprach die Prinzessin. „Du weinst, als sei dir ein großes Unglück geschehen.“

„Ich weine um meine Geliebte“, erwiderte er.

„Weine nicht“, sagte sie sanft. „Niemand anderen als dich will ich zum Mann nehmen.“

Lächelnd blickte er ihr ins Gesicht. „So habe ich dich erlöst?“

„Ja“; antwortete sie. „Denn schließlich hast du am Ende doch gehalten, was du mir einst versprochen hast.“

Da weinten sie beide, umarmten sich und küssten einander. Die Kutsche brachte sie heim in das Schloss seines Vaters, wo sie Hochzeit hielten und noch lange Jahre lebten.


Dieses Märchen wurde mir von Christian Krug ( christian-krug@arcor.de ) zur Verfügung gestellt.
Das Copyright dieses Märchens liegt ausschließlich bei Christian Krug.