Die Prinzessin und die Schlange

Es war einmal ein König, der wünschte sich siebzehn Jahre lang vergeblich ein Kind. Nach siebzehn Jahren wurde seine Frau schwanger und gebar ein Mädchen. Dieses Mädchen wurde groß. Ihr Vater, der König, ließ sie alle Arbeiten lernen, ließ sie die Wissenschaft lernen, gab sie in die Schule. Er wollte sie Philosophin werden lassen. Aber dies, die Philosophie, machte sie schwermütig: sie wollte allein sein, nicht unter Menschen. Und als sie allein saß und stickte, hörte sie einst eine Stimme: »Jetzt in der Jugend oder im Alter«, sagte diese Stimme. Vor Schrecken hierüber stieß sie einen Schrei aus. Ihre Mutter kam herauf und fand sie ohnmächtig. Sie er weckte sie mit vieler Anstrengung aus ihrer Ohnmacht und sagte zu ihr: »Ich will nicht, dass du allein bleibst. Was ist dir zugestoßen?« - »Ich hörte eine Stimme: >Jetzt in der Jugend oder im Alter!< Eine Stimme wie ein Schrei und schrecklich.« Sie nahm sie mit, und sie blieben zusammen; sie ließen sie nicht mehr allein.

Es verging geraume Zeit. Da ging sie doch wieder hinauf, saß allein und stickte. Während sie stickte, hörte sie wieder dieselbe Stimme. Sogleich rief sie die Mutter. Es kam auch der Vater nach oben, der König. Er fragte sie: »Was hast du, meine Tochter?« - »Ich habe wieder dieselbe Stimme gehört«, sagte sie zu ihrem Vater. »Hole die Philosophen, meine Lehrer her, damit ich ihnen sage, was mir fehlt. Es ist keine Einbildung, es ist Tatsache; ich sehe es mit meinen Augen. Ich will es erzählen, damit wir sehen, was mein Leiden ist, dass wir es herausfinden.« Die Lehrer kamen, und sie erzählte es. Die Lehrer sagten: »Wenn du jene Stimme hörst, so sage - >Jetzt in der Jugend, wo ich noch die Kraft dazu habe «, und gingen weg.

Sie stieg zu der Kammer hinauf und stickte an dem Rahmen. Als sie jene Stimme hörte, sagte sie: »Jetzt, als junge Frau, wo ich noch die Kraft dazu habe!« In dem Augenblick, wo sie dies sagte, kam ein Adler, nahm sie mit seinen Fängen und flog davon. Alle standen und sahen, wie die Königstochter zum Himmel flog; sie war ihnen verloren. Die Mutter schloss den Palast, alles wurde in Schwarz gehüllt; die ganze Stadt trug Trauer. Selbst die Reittiere färbte der König schwarz.

Das Mädchen trug der Adler und warf sie in eine Wüste. Er gab ihr ein Tischtuch, ein Paar Holzschuhe und sagte zu ihr: »Breite das Tischtuch aus und verlange, welche Speise du willst, dass es sie dir gebe zum Essen und Wasser zum Trinken.« Der Adler flog davon und ließ sie allein. Sie sah nur den Himmel und die Erde. Sie weinte und schlug sich Tag und Nacht. Eine Prinzessin, und muss solche Qual in der Wüste erdulden! - Acht Jahre wanderte sie in der Wüste umher.

Nach acht Jahren sah sie eines Nachts ein Licht, sehr weit ab. Sie wanderte Tag und Nacht und näherte sich jenem Licht: es war ein Stall; sie kam zu Leuten, in ein anderes Land, nicht in der Nähe ihres eigenen. Es war ein Hirt, er hatte eines Königs Stall. Er hatte eine Frau und eine Tochter. jene bat den Hirten, dort bleiben zu dürfen. Sagte der Hirt: »Was soll ich mit dir machen? Ich bin arm, ich kann dich nicht ernähren.« Da sagte jene zu ihm: »Ich will nicht, dass du mich ernährst, ich habe zu leben; ich will kein Essen von dir.« Da sagte der Hirt: »Bleib!« Sie blieb mit der Frau des Hirten im Stall. Sie ging immer hinter den Stall, breitete das Tischtuch aus und aß. Der Hirt, seine Frau, seine Tochter wussten nicht, wie sie lebte, wo sie doch nicht mit ihnen aß; denn der Hirt ernährte sie nicht.

Die Tochter des Hirten brachte jeden Tag die Lieferungen für den König. Da erkrankte sie, und der Hirt meinte: »Wer soll die Lieferungen bringen?« jene sagte zu ihm: »Weine nicht, lass mich sie bringen!« Sagt der Hirt: »Weißt du sie hinzubringen?« Sprach Jene: »Ich weiß es nicht, aber weiß es nicht das Eselchen? Wo das Eselchen hingeht, da werde ich es abgeben, die Milch, die Käse und den Quark.« Sie nahm das Eselchen, das ging und blieb an der Tür der ältesten Tochter des Königs stehen. Man kam heraus, um die Waren abzunehmen. Sie fragten: »Hat der Hirt noch eine zweite Tochter?« Sie antwortete: »Er hat noch mich; ich war in der Schule, meine Schwester erkrankte, da habe ich die Sachen gebracht. « Die Prinzessin stand auf, um sie abzunehmen und die Gefäße zu leeren. jene ging an den Stickrahmen und stickte. Die Prinzessin sah sie und sagte zu ihr: »Verdirb es mir nicht!« Sie antwortete: »Sei getrost, ich verderbe es nicht.« Als die Prinzessin ihre Stickerei sah, war sie ganz närrisch vor Erstaunen und sagte zu der vermeintlichen Hirtentochter: »Du verstehst so etwas zu sticken? Deine Schwester wird gesund werden und in einem Monat wiederkommen; dann sollst du für mich sticken, und ich werde dir Geld dafür zahlen. « Sie schenkte ihr vielerlei, auch Geld. jene brachte es dem Hirten. Der Hirt freute sich und war erstaunt, wie sie das zustande gebracht hatte.

Am andern Morgen nahm sie die zweite Lieferung und brachte sie zu der jüngsten Tochter des Königs. Das Eselchen blieb vor der Tür stehen, und sie kamen heraus und nahmen die Sachen hinein. Sie sagten zur ihr: »Hat der Hirt noch eine zweite Tochter?« Sie antwortete ihnen: »Er hat noch mich und hatte mich bisher in der Schule.« Sie gingen, die Gefäße zu leeren. Die Prinzessin, die mit der Maschine nähte, stand auf. Da setzte sich jene hin und nähte an der Maschine der Prinzessin, und sie machte es besser als die Prinzessin. Sagte die Prinzessin: »Verdirb es mir nicht! « In diesem Augenblick vollendete sie das Kleid und sagte: »Ich verderbe es nicht.« Als die Prinzessin es sah, erstaunte sie: so gut hatte jene es gemacht, und sie sagte zu ihr: »Lass deine Schwester gesund werden, dann will ich dich zum Nähen nehmen. Es wäre schade, wenn ein so begabtes Mädchen im Stalle säße.« Sie antwortete: »Sehr gut, ich werde es meinem Vater sagen.«

Am andern Morgen war die Lieferung des Königs an der Reihe. Sie belud das Eselchen, nahm es und ließ es vorangehen; es ging und blieb vor der Tür des Königs stehen. Die Leute vom Schloss waren noch in der Kirche geblieben. Nur ein junges Dienstmädchen war da. Der Sohn des Königs war allein. Das Dienstmädchen sagte zu ihm: »Sag ihr, dass sie die Sachen ins Zimmer bringe.« Die war aber über die Maßen schön: sie leuchtete, wie die Sonne leuchtet. Als sie in das Zimmer gegangen war, verschloss der Sohn des Königs die Tür und hielt sie im Zimmer fest. Jene schaute sich im Zimmer um; sie sah zuerst nichts. Da sah sie Flinten und Degen; sie zog einen Degen, der an der Wand hing, und schlug dem Königssohn den Kopf ab. Sie warf ihn auf die Erde, nahm das Eselein, ging zu dem Hirten zurück und sagte zu ihm: »Da hast du das halbe Tischtuch, lege es nieder, so wird es Speisen geben zum Essen. « Sagte der Hirt: »Warum?« Sie antwortete: »Ich habe dem Sohn des Königs den Kopf abgeschlagen.« Sagte der Hirt: »Warum hast du das getan?« Sie antwortete: »Weil er mir die Ehre nehmen wollte. War sein Kopf besser als meine Ehre? Deshalb nahm ich seinen Kopf.«

Das Dienstmädchen ging und sagte es dem König. Der König kam und sah seinen Sohn getötet. Er nahm das ganze Heer und ging zu dem Hirten, und sie fesselten den Hirten und jene zugleich. Der König sagte zu ihr: »Warum hast du meinen Sohn getötet?« - »Warum ich ihn getötet habe? Weil er mir die Ehre nehmen wollte.« Sagt der Hirt: »Sie ist nicht meine Tochter. Vor anderthalb Jahren kam sie in meinen Stall. Ich gebe ihr weder zu essen noch zu trinken. Wie sie lebt, weiß ich nicht. Meine Tochter erkrankte, deshalb kam jene. Ich weiß nicht wer sie ist.« Sagt der König: »Sollen wir sie töten? So wird sie bald erlöst sein, so wird sie nicht gemartert. Sollen wir sie erwürgen? Wieder dasselbe. Sollen wir sie lebendig in den See werfen? Sollen wir sie in dem Grabe zusammen mit meinem Sohn einmauern?« Sie mauerten sie lebendig mit dem Toten im Grabe ein.

Nach drei Tagen kam eine Schlange, um die Augen des Toten zu fressen. Die Schlange ging wieder weg, nur ihre Jungen blieben zurück. jene zieht ihre Holzschuhe aus und tötet die jungen Schlangen, indem sie sagte: »Habe ich mich vor der Schlange gefürchtet, soll ich mich darum auch vor den jungen fürchten? Ich habe sie getötet.« Die Schlange kam, nahm ein Kraut und rieb die jungen, machte sie lebendig und ging mit ihnen davon. jene sammelte die Kräuter, die die Schlange hatte fallenlassen, brachte sie an den Kopf des Toten nahe dem Hals, rieb ihn mit jenem Kraut und machte ihn lebendig. Dann sagte sie zu ihm: »Wir wollen wie Geschwister leben.« Sie breitete das Tischtuch aus, und sie aßen, tranken und sangen. Sie lebten wie Geschwister

Ein Jahr verging, da veranstaltete der König eine Seelenmesse; und die Leute kamen von den Dörfern und gingen vorbei, um das Grab zu sehen, da hörten sie drinnen singen. Sie gingen zum König und sagten: »Erweist du seiner Seele oder seinem Leben den Liebesdienst?« Sagte der König zu ihnen: »Hört, Bauern, seid ihr gekommen, mich zu verspotten? Nehmt eure Köpfe in acht, die ich herunterwerfen werde!« - »Nein, o König, dein Sohn ist am Leben und hat die Frau drinnen, und sie singen. Wir gingen, sein Grab anzusehen, und hörten sie; er hat die Frau drinnen, und sie singen.« Als er von der Frau hörte, glaubte er es. Der König nahm Leute, und sie gingen und öffneten das Grab. Da sagte jene zum Königssohn: »Mich werden sie im Grabe lassen und wieder einmauern.« Antwortet der Königssohn: »Du wirst zuerst hinausgehen und ich danach. <~ Die Leute kamen und öffneten das Grab; und der Königssohn sagte: ,Werft keinen Stein herab, dass ihr mich nicht trefft! Ich bin am Leben.« Sagt der König: »Die wollen wir nicht herauslassen, sondern wieder im Grabe einmauern.« Sagt der Königssohn: »Die wird zuerst hinausgehen und dann ich: mein Leben und mein Tod ist sie.« Sie kamen heraus; alle Leute aber wunderten sich, ihn, den Getöteten, nach einem Jahr noch am Leben zu sehen.

Er ging mit ihr zum Schloss und verlobte sich mit ihr. Aber sie sagte zu ihm: »Hüte dich, auch nur mit dem Finger in üblem Sinne auf mich hinzuweisen!« Der wagte nicht ein einziges Mal, sie zu fragen, woher sie sei. Als sie ins Schloss gegangen war und dort blieb, sah sie viele Leute, die aus ihrer Heimat kamen. Einst sagte sie zu ihrem Verlobten: »Nimm einen kleinen Wagen, wir wollen ein Stück spazieren fahren, weil ich viel gelitten habe.« Er antwortete: »Nehmen wir einen!« Er nahm den Wagen zur Ausfahrt und fragte seine älteste Schwester: »Was willst du, dass ich dir vom Basar mitbringe?« Sie sagte: »Einige Pferdeäpfel bringe mir mit dem Eselchen, das die Milch trägt.« Er antwortete: »Zu Befehl.« Dasselbe fragte er seine jüngste Schwester: »Was soll ich dir mitbringen? Ich gehe einkaufen.« Sie antwortete: »Einige Pferdeäpfel.« Und er sagte wieder: »Zu Befehl. « Er fragte ihre Schwiegermutter: »Was soll ich dir mitbringen?« Sie antwortete: »Bringe mir das Taschentuch für die Verlobung.« Er sagte: »Zu Befehl.« Dann sagte er zu dem Schwiegervater: »Was soll ich dir mitbringen? Ich will einkaufen. « Der Schwiegervater antwortete: »Bringe mir den Verlobungsring.« Er antwortete: »Zu Befehl.«

Sie schickte den Kutscher weg und stieg mit ihrem Bräutigam in den Wagen und nahm den Weg nach ihrer Heimat. Ihr Bräutigam war sehr in Angst, weil er nicht wusste, wohin sie ihn führe. jenen Tag fuhr auch ihre Mutter aus und ihr Vater, der König, in der gläsernen Kutsche und fuhren spazieren. Sie waren aufs Feld gekommen. jene fuhr gerade auf die Kutsche los. Ihr Bräutigam schrie: »Du wirst mit der königlichen Kutsche zusammenstoßen, und sie werden uns vernichten. « jene sprach gar nichts; mit ihrer eigenen Kutsche zerbrach sie die ihrer Mutter mit den Glasscheiben. Ihr Bräutigam war außer sich, als er sah, dass sie den Wagen zerbrach, er fürchtete sich sehr; er wusste ja nicht, dass sie deren Tochter sei. Da rief die Mutter: »Meine Tochter! Wo warst du?« Die Tochter antwortete: »Ich war in der Wüste.« - »Wenn es regnete, wo hieltest du dich da auf?« »Unterm Felsen.« Da war er noch mehr außer sich, als er sah, dass sie eine so hohe Prinzessin sei, und sagte: »Es gehörte sich, dass du mir den Kopf nahmst, du warst ganz im Recht, da du eine solche Prinzessin warst; es gehörte sich, dass du so mit mir verfuhrst. Ich bitte dich um Verzeihung.«

Dann gingen sie zu dem König, dem Vater des Bräutigams, und ,brachten die Geschenke: dem König Krone und Ring, der Schwiegermutter ein Taschentuch mit Gold gestickt und ein Diadem mit Brillanten und mit kostbaren Steinen; den Schwägerinnen brachte sie Blumen und Armbänder aus Brillanten. Sie tat auch die Pferdeäpfel zugleich in den Korb. Dann holten sie die Schwäger und Schwägerinnen und feierten die Hochzeit.


Dieses Märchen wurde mir von Dieter [chax@wtal.de] zur Verfügung gestellt.