zurück || Homepage

Prinz Guttu
Maltesisches Märchen

Es war einmal ein Prinz, der Guttu hieß. Einst ging er spazieren und kam, nachdem er immer weiter gewandert, in einen großen Wald. In diesem Walde sah er einen Zettel am Boden liegen, der rief ihn an: "Heb mich auf! Heb mich auf! Lies mich! Lies mich!" Zuerst hielt den Prinzen die Angst ab, der Bitte des Papiers zu folgen; als aber das Papier sich in die Höhe zu richten begann und wimmernde Töne ausstieß, da bückte er sich, hob das Papier auf und las es. Auf dem Zettel stand geschrieben: "Wer mich liest, muss am Galgen sterben!"

Da erschrak der Prinz sehr, und er weinte und zitterte, und die Haare seines Kopfes standen alle zu Berge. Und von jenem Tage an weinte er auch stets im Schlaf, wenn er in seinem prächtigen Bett lag, und sein Lager wurde allmählich von der Unzahl seiner Tränen ganz durchnässt. Er ging nie mehr spazieren; nur einmal verließ er die Stadt und kam nach einigem Wandern zu einer anderen großen Stadt, von der er noch nie etwas gewusst hatte. Aber es war schrecklich in jener Stadt: die Straßen lagen voller Toter und Sterbender! Aber Guttu machte sich ans Werk und begrub die Toten, dass auch nicht ein Finger über dem Erdboden blieb, und tat also ein gutes Werk. Dann kehrte er nach Hause zurück.

Später verheiratete sich Guttu. jetzt weinte er nicht mehr so viel des Nachts und hatte auch nicht mehr so große Angst wie früher; seiner Frau teilte er aber nichts mit von der seltsamen Drohung, die auf jenem Zettel gestanden hatte.

Einst wandte sich seine Frau an ihn und sprach: "Guttu, lieber Guttu, warum gehen wir denn nie zusammen spazieren? Ich hätte solche Lust dazu! Nimm mich doch einmal mit!" Da nahm er seine Frau mit, und sie wanderten ‑wandere du und hol einen, der es auch tut! ‑durch die Landschaft und gelangten schließlich zu jenem großen Wald. Da sie sich müde fühlten, setzten sie sich nieder; die Prinzessin nahm den Kopf ihres Gemahls auf ihren Schoß, und sie lachten und scherzten, da sie meinten, im ganzen Walde befände sich keine menschliche Seele außer ihnen. Dann schloss Guttu die Augen und schlummerte auf dem Schoß seiner Frau ein.

Nach kurzer Zeit hörte die Prinzessin ein Geräusch im Walde. Sie sah sich um und ‑ erblickte zwei Männer, die einen Galgen herbeischleppten! Da erschrak sie und dachte, ihr letztes Stündlein sei gekommen. Ihren Gemahl ließ sie jedoch weiterschlummern. Die beiden schrecklichen Männer brachten den Galgen ganz nahe heran, pflanzten ihn in die Erde, hoben den schlafenden Guttu empor und hingen ihn an den Galgen. Sie ließen ihn einige Zeit am Galgen hängen; dann nahmen sie den toten Körper herunter und legten ihn wieder auf den Schoß der Prinzessin ‑ dann verschwanden sie.

Die arme Prinzessin konnte die bösen Männer und ihren toten Gemahl gar nicht richtig sehen; ihre Augen sahen nichts mehr, sie waren blind vom Weinen. Ihr Guttu war tot, und die Arme begann zu jammern‑ "Ach, sie haben den Geliebten meines Herzens getötet! Auf meinem Schoße lag er, und sie hatten das Herz, ihn mir zu rauben! Wie soll ich mich trösten? Nun finde ich keinen Frieden mehr auf dieser Welt! Man hat mich meines Geliebten beraubt!"

Als sie so jammerte, schlug der Totgeglaubte die Augen auf und fragte erstaunt: "Wer hat dich deines Geliebten beraubt?" ‑ "Du lebst noch? Du lebst noch? Sieh, lieber Guttu: wie du eingeschlafen warst, kamen zwei fremde Männer herbei, die einen Galgen mitbrachten und dich an ihm aufhängten, so dass du starbst!" Und so erzählte sie ihm die ganze Begebenheit. Aber Guttu rief jetzt: "Gott sei Dank! Nun bin ich endlich erlöst!" ‑ "Erlöst? Wovon?" ‑ "Von der Furcht, am Galgen zu sterben!" Hierauf erzählte ihr Prinz Guttu, was er mit jenem Stück Papier hier im Walde erlebt habe, und sie wunderte sich sehr.

Die beiden Männer waren aber zwei Engel gewesen: Guttu musste am Galgen sterben, aber weil er damals ein so gutes Werk getan und die vielen Toten begraben hatte, machte Gott ihn wieder lebendig. Denn jene geschriebenen Worte mussten in Erfüllung gehen, und Guttu musste die Verwirklichung jener Drohung durchstehen; denn geschriebene Worte sind keine Flüchtlinge: sie bleiben!