|
Maimärchen
Manfred Kyber
Es war einmal ein Maikäfer, der war wie alle Maikäfer im Mai auf die Welt
gekommen – und die Sonne hatte dazu geschienen, so hell und so goldlicht, wie
sie nur einmal im Jahre scheint, wenn die Maikäfer auf die Welt kommen. Dem
Maikäfer aber war's einerlei. »Das Sonnengold kann man nicht fressen«, sagte er
sich, »also was geht's mich an.« Dann zählte er seine Beine, erst links und dann
rechts und addierte sie zusammen.
Das schien ihn befriedigt zu haben, und nun überlegte er, ob er einen Versuch
machen solle, sich fortzubewegen, oder ob das zu anstrengend wäre. Er dachte
drei Stunden darüber nach, dann zählte er noch einmal seine Beine und fing an,
sich langsam vorwärts zu schieben, möglichst langsam natürlich, um sich nicht zu
überanstrengen. Bequemlichkeit war ihm die Hauptsache!
Da stieß er plötzlich an was Weiches, an etwas, was so weich war, dass er sich's
unbedingt ansehen musste. Es lag im Grase und sah aus wie eine schwarze
Samtweste, hatte vier kleine Schaufeln und keine Augen. Den Maikäfer, der noch
keinen Maulwurf gesehen hatte, interessierte das fabelhaft, er überzählte noch
schnell einmal seine Beine und dann ging's mit wütendem Eifer mitten in die
schwarze Samtweste hinein. Der Maulwurf fuhr empört auf. »Sind Sie verrückt?«,
schrie er den Maikäfer an. »So eine Rücksichtslosigkeit!« Der Maikäfer lachte.
Es war zu komisch, wie sich die Samtweste aufregte.
»Wissen Sie«, sagte er vorlaut, »wenn man aus nichts weiter besteht, als aus
einer Samtweste und vier kleinen Schaufeln und auch keine Augen hat, soll man
lieber ruhig sein.« – »Reden Sie nicht so blödes Zeug«, kreischte der Maulwurf,
atemlos vor Wut. »Sie sind ein ganz verrohtes Subjekt!« Und damit kroch er in
die Erde, der Maikäfer aber setzte angenehm angeregt und erheitert seinen Weg
fort. Schließlich, als es Abend wurde, kam er an einen Teich, da saß ein großer
alter Frosch auf einem Stein, ganz grün und ganz feucht, der las beim Mondlicht
die Zeitung, das »Allgemeine Sumpfblatt«.
Den frechen Maikäfer reizte der breite Rücken des vertieften Lesers und er
kitzelte ihn ganz leise und boshaft mit den Fühlhörnern. Der Frosch fuhr mit
seinen langen Fingern herum und kratzte sich, ohne von der Zeitung aufzusehen,
denn das »Allgemeine Sumpfblatt« ist sehr lehrreich und sehr schön geschrieben –
und dabei lässt man sich nicht gerne stören. Aber der Maikäfer kitzelte
beharrlich weiter, bis der Frosch sich schließlich geärgert umdrehte und den
Störenfried vorwurfsvoll betrachtete. Da er aber alle Tage das »Allgemeine
Sumpfblatt« las und also sehr gebildet war, so erkannte er in dem respektlosen
Wesen sofort einen Maikäfer.
»Heut ist der erste Mai«, sagte er ruhig, »es steht in der Zeitung, da kommen
diese merkwürdigen Geschöpfe. Dagegen lässt sich nichts machen.« Und dann las er
weiter und kratzte sich geduldig, wenn ihn der Käfer kitzelte. Der arme Frosch
hätte sich noch lange kratzen müssen, wenn der Maikäfer nicht plötzlich was
gehört hätte, was ihm noch übers Kitzeln ging; es klang, als ob's mit vielen
feinen Stimmchen singt, und das war ein Elfenreigen: viele kleine Elfchen in
weißen Hemdchen und mit goldenen Krone im goldenen Haar hatten sich bei den
Händen gefasst und schlangen den Ringelreih'n und sangen dazu. Der Frosch sah
gar nicht hin, das stand ja alles im »Allgemeinen Sumpfblatt« unter »Lokales«,
aber der Maikäfer kannte so was nicht und kroch, so schnell er konnte, um sich
das Seltsame zu betrachten, was so seltsam mit vielen feinen Stimmchen sang.
Die Elfen flohen entsetzt auseinander, nur eine blieb stehen und sah sich den
komischen Gesellen an. »Du hast ja sechs Beine!«, rief sie, »Du bist gewiss ein
verwunschener Prinz – und ich warte schon so lange auf einen, um ihm mein
Krönlein zu schenken.« Der Maikäfer sah auf seine sechs Beine, bewegte verlegen
die Fühlhörner und sagte nichts. »Es ist ganz gewiss ein verwunschener Prinz«,
dachte das Elfchen, »er hat doch sechs Beine und sagt nichts!« Und dann fragte
es ihn: »Willst du mich heiraten?« Der Maikäfer verstand nur, dass er gefragt
wurde, ob er was wolle, und da sagte er: »Fressen will ich«, und legte sich auf
den Rücken. »Er muss sehr stark verwunschen sein!«, dachte das Elfchen und gab
ihm zu essen, lauter schöne Sachen, wie man sie nur im Elfenreich hat.
Als er satt war, setzte sich das Elfchen neben ihn und beschloss, geduldig zu
warten, bis sich der verwunschene Prinz entpuppt. Und als die Glockenblumen
Mitternacht läuteten, da dachte das Elfchen, jetzt müsste es sein, und wollte
ihm sein Krönlein schenken. Aber der Maikäfer hörte weder die blauen
Glockenblumen noch sah er das goldene Krönlein, er lag auf dem Rücken und
schlief. Das war so schrecklich langweilig – und so ging's alle Tage und Nächte
weiter, er fraß grässlich viel; und wenn die Glockenblumen läuteten, schlief er
ein. Und das arme Elfchen wartete und wartete.
Da, eines Nachts, geschah etwas Wunderbares: Der Maikäfer rührte sich, streckte
seine sechs Beine, bewegte die Fühlhörner und bekam plötzlich Flügel. »Jetzt
entpuppt sich der verwunschene Prinz«, dachte das Elfchen und freute sich
furchtbar. Und grad wie es sich so furchtbar freute – flog der Maikäfer davon
und zerbrach noch dabei mit seinen plumpen Beinen das goldene Krönlein, dass es
in tausend Scherben ging. Die Elfenkrönlein sind ja so zerbrechlich!
Da saß nun das arme Elfchen und hatte keinen verwunschenen Prinzen bekommen und
hatte auch kein Krönlein mehr, es ihm zu schenken. Und so stützte es das
Gesichtchen in die Hände und weinte bitterlich. Das klang so traurig, dass der
Frosch vom »Allgemeinen Sumpfblatt« aufsah und sich das Elfchen mitleidig
betrachtete. »Ja, ja«, sagte er seufzend, »heute ist der letzte Mai, es steht in
der Zeitung, da gehen diese merkwürdigen Geschöpfe wieder. Dagegen lässt sich
nichts machen.« Und dann schlug er nachdenklich eine Seite um – das Umblättern
ist für einen Frosch sehr leicht, weil er so feuchte Finger hat – und las
weiter.
Auch der Maulwurf kam aus der Erde heraus und sagte: »Es war ein ganz verrohtes
Subjekt!« In Wirklichkeit aber war der Maikäfer weder ein verrohtes Subjekt,
noch ein verwunschener Prinz, sondern eben nur ein ganz gewöhnlicher Maikäfer.
Und von dem soll ein Elfenkind keine Märchen erwarten und soll ihm sein Krönlein
nicht schenken.
Und was aus dem Elfchen wurde? Das hat der liebe Gott in den Himmel geholt und
hat ein Englein draus gemacht mit zwei kleinen Flügeln und hat ihm einen
Heiligenschein für das zerbrochene Krönlein gegeben.
|