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Das Märchen von der Klapperschlange und von der Ente
Märchen aus Amerika
Einmal saß
eine Klapperschlange
unter einem Felsen fest und konnte sich nicht mehr bewegen. Eine Ente kam daher,
und die Klapperschlange rief ihr zu:
»Bruder
Ente,
schieb doch
bitte den Stein beiseite, damit
ich wieder frei komme.« »Gern«,
sagte die Ente und drückte den Stein mit
ihrer starken
Brust
fort.
Kaum war die Klapperschlange frei, da sprach sie:
»Ich habe hier so lange gefangen gesessen. Jetzt habe ich
Hunger. Ich werde dich auffressen.«
Sie schlängelte sich auf die Ente zu,
bereit zuzubeißen,
und die Ente hatte keine Kraft mehr,
um fortzuwatscheln.
»Du darfst mich nicht fressen«,
jammerte die Ente,
»das wäre nicht
gerecht.«
»Warum
nicht gerecht?«
fragte die Klapperschlange.
»Ich habe eine gute Tat getan, die muss vergolten werden.«
»Weißt
du denn nicht«,
erwiderte die Klapperschlange,
»dass gute Taten immer mit bösen vergolten werden auf dieser Welt?«
»Nein«,
sagte die Ente,
»das
ist mir neu.
Komm, wir wollen für unseren Streit einen Richter suchen.«
»Meine
Ansicht wird von aller Welt geteilt«, sagte die Klapperschlange, »es macht mir
nichts aus, zu diesem Fall auch noch
einen Richter
zu hören.«
Die beiden Tiere brachen
also auf; die Schlange
immer dicht hinter der Ente.
Es dauerte nicht lange,
da begegneten sie einem alten Maultier.
»Hier
kommt ein weises Geschöpf«,
sagte die Schlange,
»frag
es nur, ob auf dieser Welt gute Taten mit bösen vergolten werden oder nicht!«
Die Ente erklärte dem Maultier,
was sich
zugetragen hatte, und das Maultier meinte:
.
»Die
Klapperschlange hat recht.
Eine gute Tat bringt hierzulande immer nur bösen Lohn. Ein Leben
lang habe ich für meinen Herrn geschuftet.
Ich arbeitete, ob ich nun etwas zu fressen bekam oder nicht.
Ich arbeitete in Hitze und Kälte, bei Dürre und Nässe. Ich
arbeitete,
ohne
zu
klagen,
immer stetig,
manchmal
sogar hurtig. Und wie ist es
mir
vergolten
worden? Jetzt, da ich alt und schwach bin, da mein Rücken wund gescheuert ist von den Satteltaschen
und den Säcken,
hat mein Herr mich
ausgesetzt,
und ich muss
verhungern.
Es ist schon so: Böses
ist des Guten Lohn.«
»Ein
Richter
ist nicht genug«,
sagte die Ente,
»wir
wollen noch
einen zweiten Richter
fragen.«
»Mir
recht«,
antwortete die Klapperschlange,
»du wirst auch von ihm nichts anderes zu hören bekommen.«
Die beiden Tiere liefen weiter. Bald darauf begegneten sie einem
Ochsen. Er lag da und überall stachen aus seinem Fell die Knochen
her- vor.
»Dort
ist ein ruhiger und erfahrener Richter«, sprach die Klapperschlange,
»ihm wollen wir unseren Fall vortragen.«
Die Ente fragte also den Ochsen, was sie zuvor auch schon das Maultier gefragt
hatte.
»Wir
urteilen nach
unseren Erfahrungen«,
erwiderte der Ochse,
»sieh
mich an. Viele Jahre habe ich
meinem Herrn den Pflug gezogen, seinen Karren und den Schlitten,
mit dem er Wasser holte. Immer gab es nur Arbeit, Arbeit und noch
einmal Arbeit.
Manchmal war ich müde, meist war ich geduldig und immer zog ich schließlich
an,
wenn er es befahl. Und jetzt? Ich
habe keine Kraft mehr. Meine Beine zittern unter meinem eigenen Gewicht. Ich
wurde auf die Weide getrieben. Nicht, dass mir mein Herr die Freiheit geschenkt
hätte.
Er wird mich
bald schlachten,
um noch
ein paar Pfund Fleisch von meinen Knochen zu schneiden. Es ist schon so, wie die Klapperschlange
behauptet:
Das Gute wird
auf dieser Welt übel belohnt.«
»Diese
Richter waren voreingenommen«, sagte die Ente,
»ich will Berufung einlegen bei dem Coyoten, der dort
gerade
des Weges kommt.«
»Gut«,
sprach
die Klapperschlange,
»hören
wir,
wie der Weiseste der Weisen über unseren Fall denkt.«
Als der Coyote gehört hatte,
um was
es ging,
kratzte er sich hinter den Ohren.
»Ehe
ich einen Spruch fälle«,
erklärte er dann,
»muss ich mich zunächst über den Tatbestand informieren. Ich muss
genau sehen, wie und wo die Klapperschlange festsaß, als die Ente sie befreite.«
Also gingen die drei Tiere zu der Stelle, wo der Stein lag,
unter dem die Klapperschlange eingeklemmt gewesen war.
»Erlaube
mir, dass ich den Stein so hinlege, wie er lag,
bevor die Ente ihn bewegte.«
Die Schlange klapperte Zustimmung. Da rollte der Coyote den Stein auf
ihren Rücken.
»
War es so?«
fragte er dann.
»Genau so«, bestätigte die Klapperschlange. »Dann bleibt es so«,
sagte der Coyote lachend,
»wenn
Gutes mit Bösem vergolten wird auf dieser Welt, bringt diesmal das Böse der Ente
Glück.«
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