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Der Kirschblütenzug


Es war im Jahre 1432, da belagerte Prokop, der Feldherr der Hussiten, die Stadt Naumburg. Lange hatten die Naumburger Widerstand geleistet, doch war ihre Kraft endlich vom Hunger geschwächt, und sie mussten sich dem Feind ergeben. Eine Gesandtschaft wurde zu Prokop geschickt, die ihn bitten sollte, gnädig mit der Stadt zu verfahren und dem Kampf nicht die Plünderung folgen zu lassen.

Prokop, ein finsterer Mann, dessen Handwerk das Kriegführen war, ließ die verängstigten Bürger nicht ausreden. Der Zorn brannte in ihm, dass er so lange untätig vor der Stadt hatte verweilen müssen, er schlug ihre Bitten höhnisch ab und rief sie würden noch vor dem Abenddämmern kommen, keinen Stein auf dem anderen lassen und niemand verschonen. Er würde mit den Seinen kommen wie Teufel aus der Hölle und allem Leben ein Ende setzen.

Verstört, weinend und klagend kehrten die Boten nach Naumburg zurück und verkündeten dort das Ungeheuerliche. Schon wollte sich die Verzweiflung ausbreiten wie eine graue Wolke, da sprach der Schulmeister, es gäbe vielleicht noch eine Rettung, doch müsse man sehr mutig sein, wenn man sie wagen wolle. Und er sagte weiter, es sollten sich alle Naumburger Kinder, Jungen wie Mädchen, auf dem Marktplatz versammeln, blühende Kirschbaumzweige in den Händen, und so sollten sie dem Herrn entgegenziehen. Denn was Worte nicht vermöchten, brächte wohl dieser Anblick der unschuldigen Kinder zustande.

Lange wurde beraten, doch endlich hieß man den Vorschlag des Schulmeisters gut. Die Männer plünderten die blühenden Kirschbäume, die Mütter kleideten die Kinder in die Festtagsgewänder, und also geschmückt zogen sie singend dem anrückenden Herr der Hussiten entgegen.

Wie erstaunte Prokop, als er die Kinder sah! Sein Herz wurde berührt von ihrer Lieblichkeit und Unschuld, sein Zorn zerstob. Die Kinder mussten ihm vorsingen und vortanzen, und endlich schickte er sie in die Stadt zurück mit dem Versprechen, es sollte keinem Bürger auch nur ein Haar gekrümmt werden. Eine Summe Lösegeld nannte er die zahlte ihm die Bürgerschaft, und dann zog er mit seinem Haufen davon.

Wohl trugen die Kirschbäume in Naumburg in diesem Jahr keine Früchte, aber die Menschen lebten und freuten sich der Sonne und ihrer tapferen Kinder.