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Das Kind, das mit den Feen ging
Märchen aus Irland


Östlich der alten Stadt Limerick, ungefähr zehn irische Meilen unterhalb des Gebirgszuges, der unter der Bezeichnung »Die Slieveelim Hügel« bekannt ist, verläuft eine sehr alte und enge Straße. Sie verbindet Limerick und die Straße nach Tipperary mit der Straße nach Dublin und führt durch Sumpf und Weide, über Berg und Tal, an mit Stroh gedeckten Hütten und dachlosen Schlössern vorbei, an die zwanzig Meilen.

Am Fuß jenes Gebirges., das ich schon erwähnte, gibt es ein Wegstück, das besonders einsam ist. Für mehr als drei irische Meilen kommt man durch eine völlig verlassene Landschaft. Ein weites schwarzes Moor, flach wie ein See, eingefasst von Unterholz, breitet sich zur Linken aus, wenn man nordwärts reist., und die ungleichmäßige Linie der Gebirgskette, die man zur Rechten sieht, Hügel mit Heide überwuchert und graue Felsen., die den Überresten einer Befestigung ähnlich sind, wird häufig unterbrochen durch Schluchten., die sich hier und dort zu felsigen und bewaldeten Tälern ausweiten. Eine dürftige Weide, auf der ein paar verstreute Schafe grasen, rahmt die einsame Wegstrecke über ein paar Meilen hin ein, und unter einem schlitzenden Hügel und zwei oder drei großen Eschen stand vor gar nicht langer Zeit die mit Stroh gedeckte Hütte der Witwe Mary Ryan.

Arm war die Frau in einem armen Land. Das Strohdach hatte schon eine graue Färbung und hier und da Vertiefungen, die auf die Einwirkungen der Witterung hindeuteten. .Aber welch andere Gefahren auch drohen mochten, man war dagegen in diesem Haus wohlgeschützt. Rund um die Hütte stand ein halbes Dutzend Bergeschen, die die Hexen nicht mögen. An den abgeschabten Türbalken waren zwei Hufeisen genagelt, und über dem Türsturz wuchs Lauch, ein altes Heilmittel gegen viele Übel, mit dem man auch die Machenschaften des Bösen vorbeugend bekämpfen kann. War man durch die Tür eingetreten und hatten sich die Augen an das verschwommene Licht gewöhnt, so entdeckte man über dem mit einem Holzhimmel versehenen Bett der Witwe ihren Rosenkranz und ein Fläschchen mit Weihwasser. Hier gab es Schutz, und hier waren Bollwerke gegen das Vordringen außerirdischer und böser Mächte, an die man in der Familie ständig durch die Silhouette des Lisnavoura erinnert wurde, eines einsamen Hügels, den das »gute Volk«, wie die Feen nicht ganz zu Recht genannt werden, bewohnte.

Der seltsame, kuppelartige Hügel erhob sich etwa eine halbe Meile vom Haus entfernt und wirkte wie eine Festung in der Gebirgslinie. Es war im Herbst. Mit der untergehenden Sonne fielen die Schatten des Hügels über die Hänge des Slieveelim bis in die Nähe der kleinen einsamen Hütte.

Die Vögel sangen in den Zweigen der melancholischen Eschenbäume, deren Blattwerk schon dünn wurde. Die drei jüngeren Kinder der Witwe spielten auf der Straße, und ihre Stimmen vermischten sich mit dem Abendlied der Vögel. Nell, das älteste Mädchen, war im Haus, um sich um die Kartoffeln zu kümmern, die für das Abendessen gekocht wurden. Die Mutter war hinaus aufs Moor gegangen, um dort eine Last Torf zu holen. Es ist oder war jedenfalls eine menschenfreundliche Sitte unter den wohlhabenderen Leuten, beim Torfstechen immer einen kleinen Stapel für einen Armen mit aufzusetzen, der so Brennmaterial hatte, um seine Kartoffeln zu kochen und gut durch den Winter zu kommen.

Moll Ryan kam einen steilen Pfad herauf, dessen Ränder mit Dornenbüschen überwuchert waren. Gebeugt von der Last kam sie durch die Tür herein und wurde von Nell begrüßt, die ihr auch dabei half, den Torf abzusetzen. Moll Ryan sah sich mit einem Aufatmen um, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stieß dann hervor: »Ich bin froh, dass es geschafft ist. Gott sei Dank! Wo sind denn die Kleinen, Nell?«

»Die spielen auf der Straße, Mutter. Hast du sie nicht gesehen, als du hereingekommen bist ? «
»Nein. Es war niemand vor mir auf der Straße«, sagte sie beunruhigt, »nicht eine Seele, Nell, warum hast du nicht mal ein Auge auf sie gehabt?«
»Ach, sie werden auf dem Hof sein, oder hinter dem Haus. Soll ich sie hereinrufen ? «
»Tu das, Mädchen, in Gottes Namen. Die Hennen kommen heim. Die Sonne geht gerade hinter dem Knockdoulan unter, und ich bin jetzt ja auch da.«
Also sprang das dunkelhaarige Mädchen nach draußen, lief zur Straße, schaute in diese und in die andere Richtung, aber ihre zwei kleinen Brüder, Con und Bill, und ihre kleine Schwester Peg waren nirgends zu sehen. Sie rief alle, aber aus dem Hof kam keine Antwort. Sie horchte, aber sie hörte auch nirgends ihre Stimmen. Über den Zauntritt stieg sie, schaute hinter das Haus überall war es still, und keines der Kinder zeigte sich.

Sie schaute aufs Moor hinaus. Auch dort keine Kinder . Wieder horchte sie. Nichts. Sie wurde zornig, aber gleich darauf überkam sie ein anderes Gefühl, und sie wurde bleich im Gesicht. Sie schaute zu der mit Heidekraut überwucherten Kuppe des Lisnavoura, die nun in tiefem Purpurrot gegen den flammenden Himmel stand, an dem gerade die Sonne unterging.

Wieder horchte sie, härte aber nichts als das Gezwitscher der Vögel in den Bäumen. Wie oft hatte sie am Feuer während des Winters Geschichten von Kindern gehört, die bei Einbruch der Nacht an abgelegenen Orten von Feen gestohlen worden waren! Sie wusste auch, daß diese Furcht ihre Mutter immer wieder plagte.
Niemand weit und breit rief seine kleine Herde so früh ins Haus wie die ängstliche Witwe, nirgends in den sieben Kirchspielen wurde die Haustür so früh verriegelt wie hier. Bei alledem ist es kein Wunder, daß sich auch Nell besonders vor den Feen fürchtete. Sie starrte zum Lisnavoura wie in Trance hinüber, bekreuzigte sich immer wieder und flüsterte Gebete.

Dann rief die Mutter von der Straße her. Sie antwortete und rannte vor die Hütte, wo sie die Mutter antraf. »Und wo in aller Welt sind die Kinder? Hast du sie irgendwo entdeckt?« rief Mrs. Ryan, während das Mädchen über den Zauntritt stieg.

»Ach, Mutter. Sie sind gewiss nur ein Stück die Straße entlanggegangen. In ein paar Minuten werden sie zurück sein. Es ist wie mit den Ziegen. Sie springen hierhin und springen dahin. «

»Mag der Herr dir vergeben, Nell! Die Kinder sind fort. Entführt und keine Seele in unserer Nähe. Vater Tom gar drei Meilen fort. Was soll ich jetzt tun, wer wird uns, da es nun dunkel wird, helfen? Ist es zu fassen? Die Kinder sind fort! «
»Still, Mutter, beruhige dich. Siehst du nicht. ..da kommen sie ja.«
Und dann begann sie in drohendem Ton zu schreien und winkte den Kindern zu, die auf der Straße daherkamen, die in einiger Entfernung durch eine Senke verlief, weshalb man sie wohl eine Weile nicht hatte sehen können. Sie kamen jetzt aus westlicher Richtung näher, von dort her, wo der gefürchtete Hügel von Lisnavoura lag.
Aber es waren nur zwei Kinder, und eines von ihnen, das kleine Mädchen, weinte. Mutter und große Schwester liefen ihnen entgegen, jetzt noch mehr erschrocken als zuvor.
»Wo ist Bill. ..wo ist er hin ?« fragte die Mutter atemlos, als sie nahe genug heran war.

»Er ist fort. ..sie haben ihn mitgenommen. Aber sie haben gesagt, er wird bald wieder zurück sein«, antwortete der kleine Con, der dunkelbraunes Haare hatte.
»Er ist fort mit den großen Damen«, plapperte des kleine Mädchen.
»Was denn für Damen. ..und wohin ? Ach mein Liebling, haben sie es doch geschafft. Wo ist er? Wer hat ihn mitgenommen? Von was für Damen sprecht ihr denn? In welche Richtung sind sie denn gefahren?« rief sie.
»Ich konnte nicht sehen, wo sie hinfuhren, Mutter. Aber es war mir, als ob sie gegen den Lisnavoura hin fuhren.« Unter wilden Ausrufen rannte die verängstigte Frau allein gegen den Hügel hin, klatschte in die Hände und rief laut den Namen des verlorengegangenen Kindes.

Erschreckt sah Nell, die es nicht wagte, der Mutter zu folgen, ihr nach. Sie brach in Tränen aus, und ihre Geschwister stimmten in ihr Wehklagen und Weinen ein. Es wurde dunkler. Es war längst über die Zeit, zu der sie sonst sicher unter dem Dach der Hütte saßen. Nell führte die beiden Geschwister ins Haus, hieß sie sich vor das Torffeuer setzen, während sie in der offenen Tür stehenblieb und voller Furcht die Heimkehr ihrer Mutter abwartete.

Nach langer Zeit kam die Mutter. Sie trat ein, setzte sich ans Feuer und weinte jämmerlich.
»Soll ich die Tür verriegeln, Mutter?« fragte Nell.
» Ja, tu das. ..habe ich nicht heute abend schon genug verloren, ohne dass die Tür offenstand. Aber zuvor bespreng dich mit Weihwasser und bring das Fläschchen her, damit ich für mich und die Kleinen auch einen Hauch davon nehmen kann. Ich frag' mich, ob all das passiert wäre, hättest du die Kleinen mit Weihwasser besprengt, bevor sie gegen Abend nach draußen liefen. Kommt alle her, Kinder, kommt zu mir. Ich will euch festhalten, so dass niemand euch mir fortnehmen kann. Und dann sollt ihr mir erzählen -der Herr sei zwischen uns und dem Unglück! -, was geschah, und wer es war, der unseren Billy mit fortnahm.«

Als die Tür verriegelt war, erzählten die Kinder, einander häufig unterbrechend, oft aber auch von einer Zwischenfrage der Mutter unterbrochen, jene seltsame Geschichte, die ich später zusammenhängend in meine Sprache brachte.

Die drei Kinder der Witwe Ryan spielten, wie ich schon sagte, auf der alten engen Straße vor der Tür. Der kleine Bill oder Leum, etwa fünf Jahre alt, mit hellblondem Haar und blauen Augen, war ein sehr hübscher Junge, gesund und mit jenem Blick ernster Einfachheit, den man bei Stadtkindern gleichen Alters nur selten finden wird. Seine Schwester Peg, ungefähr ein Jahr älter, und sein Bruder Con, wiederum ein Jahr älter als das Mädchen, waren gleich ihm mit auf der Straße.

Unter den großen Eschenbäumen, deren Blätter abzufallen begannen, und im Licht der Oktobersonne, die sich anschickte unterzugehen, spielten die Kinder ausgelassen und versunken, und manchmal blickten sie dabei nach Westen, zu dem Hügel von Lisnavoura hin. Plötzlich wurden sie von einer aufgeregten Stimme in schrillem Tonfall von hinten angerufen und ihnen befohlen, aus dem Weg zu gehen. Sie wandten sich um. Sie blickten auf etwas, das sie nie zuvor gesehen hatten. Es war ein Wagen, bespannt mit vier Pferden, die schnaubten und ungeduldig wieherten, während sie herankamen. Die Kinder, die schon fast unter ihren Hufen waren, sprangen eilig zur Seite, und zwar gegen die Tür der Hütte hin.

Die Kutsche war von altmodischer Art, reichverziert und prunkvoll, und die Kinder, die nie etwas anderes gesehen hatten als einen Torwagen oder eine alte Chaise, die auf dem Weg von Killaloe hier vorbeigekommen waren, kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Geschirre und das Zaumzeug waren scharlachrot mit Schnallen und Schließen aus Gold. Die Pferde waren gewaltig groß, schneeweiß, mit prächtigen Mähnen, und wenn sie sich schüttelten, dann war es, als ob Rauch durch die Luft wirbele. Auch die Kutsche selbst sprühte von Farben und vergoldeten Beschlägen und Ornamenten. Es gab Beifahrer in Livree mit dreieckigen Hüten, und der Kutscher trug eine große Perücke, so wie Richter sie aufsetzen.

All diese Diener wirkten sehr klein und irgendwie unpassend zu den riesigen Pferden der Equipage. Sie hatten scharfe Gesichtszüge, kleine, ruhelose, wild dreinblickende Augen, und um ihre Münder spielte ein schlaues, boshaftes Lächeln, vor dem die Kinder Angst bekamen.

Der kleine Kutscher schimpfte. Seine kleinen wütenden Perlaugen schienen aus ihren Höhlen herausspringen zu wollen, während er die Peitschenschnur um den Kopf der Pferde wirbeln ließ, bis es aussah, als sei da ein Feuerstrahl in der Luft .
»Weg frei für die Prinzessin! « brüllte der Kutscher mit bebender Stimme.
»Weg frei für die Prinzessin«, piepsten die Beifahrer gegen die Kinder hin und knirschten dann mit den Zähnen. Die Kinder waren so verschreckt, dass sie ganz bleich wurden. Aber eine süße Stimme, die aus dem offenen Fenster der Kutsche drang, beruhigte sie und gebot dem Schimpfen der Diener Einhalt. Eine schöne und sehr vornehm aussehende Dame lächelte den Kindern zu, und alle empfanden das Licht dieses Lächelns als angenehm.

»Diesen Jungen da, mit den goldenen Haaren, glaube ich«, sagte die Dame und sah Leum mit ihren großen Augen an.
Das Oberteil der Kutsche war fast völlig aus Glas, und so konnten die Kinder sehen, dass drinnen noch eine andere Frau mitfuhr, die ihnen nicht so gut gefiel.
Es war eine schwarze Frau, mit einem wundervollen langen Hals, um den sie viele Ketten aus Perlen verschiedener Farbe trug. Auf dem Kopf hatte sie einen Turban aus Seide, die in allen Farben des Regenbogens changierte, und zusammengehalten wurde dieser Kopfputz von einem goldenen Stern.

Das Gesicht diese schwarzen Frau sah fast aus wie bei einem Totenkopf, hohe Wangenknochen, große starre Augen, bei denen das Weiße, gleich der Farbe ihrer Zähne, einen strahlenden Kontrast zu ihrer Haut bildete. Sie lehnte sich zu der schönen Frau hinüber und schien ihr etwas zuzuflüstern .
» Ja, den Jungen mit dem goldenen Haar, würde ich meinen«, wiederholte die Dame.
Und ihre Stimme kam den Kindern süß wie der Klang einer Silberglocke vor, ihr Lächeln luckte sie an wie das Licht einer Zauberlampe, während sie sich aus dem Fenster lehnte und ihre blauen Augen mit einem Blick bewundernden Wohlgefallens auf dem blonden Jungen ruhten. Der kleine Billy lächelte zurück, und als sie sich noch weiter vorbeugte und ihre mit Juwelen geschmückten Arme zu ihm ausstreckte, hielt er ihr seine kleinen Hände entgegen. Wie sie einander berührten, wussten die anderen Kinder nicht zu beschreiben, wohl aber erzählten sie, dass sie ausgerufen habe: »Komm und gib mir einen Kuss, mein Liebling! « Dann hob sie ihn hoch, und er schien an ihrem kleinen Finger zu hängen, leicht wie eine Feder, und sie setzte ihn auf ihrem Schoß ab und bedeckte ihn mit Küssen.

Jetzt waren die Kinder furchtlos, ein jedes wäre nur zu gern wie ihr kleiner Bruder bei der schönen Dame im Wagen gewesen.

Nur eines war ihnen etwas unheimlich und machte ihnen angst, und das war die schwarze Frau. Sie führte ein Seidentaschentuch an die Lippen, und dann stopfte sie sich Lage um Lage dieses Taschentuchs, das scheinbar endlos war, in den Mund, um das Lachen zu dämpfen, in das sie verfallen war, und von dem sie geschüttelt wurde. Dabei schauten aber ihre Augen unheimlicher und bösartiger denn je zuvor drein.

Aber dann blickten die Kinder alle wieder zu der Dame hin, weil sie eben so schön war. Sie fuhr fort, den kleinen Jungen auf ihren Knien zu küssen und zu streicheln. Sie lächelte den Kindern zu und hielt dabei einen großen braunen Apfel zwischen den Fingern. Die Kutsche fuhr jetzt wieder langsam an, und mit einem Nicken, das wohl dazu einladen sollte, die Frucht zu holen, ließ sie den Apfel auf die Straße rollen. Er rollte neben die Räder. Die Kinder liefen dem Apfel nach. Die Dame warf einen zweiten Apfel und dann noch einen und noch einen.

Immer wenn eines der Kinder gerade glaubte, einen der Äpfel greifen zu können, fiel er in ein Loch oder in einen Graben. Dann sahen sich die Kinder um, und immer noch warf die vornehme Dame Äpfel aus dem Fenster, die über die Straße rollten. Diese Jagd nach den Äpfeln setzte sich fort, bis sie, ohne sich dies jedoch recht bewußt zu machen, an eine Straßenkreuzung kamen, wo der Weg nach Owney abzweigt.

Es hatte den Anschein, dass dort die Pferdehufe und das Gefährt einen wunderbaren Staub aufwirbelten, und eine Staubwolke, wie sie auch an ruhigen Tagen manchmal entsteht, schien sich zu bilden. Sie hüllte die Kinder für einen Moment ein und trieb dann wirbelnd gegen den Lisnavoura hin. Inmitten dieses Wirbels aber fuhr die Kutsche. Plötzlich aber war statt ihrer nur noch Stroh in der Luft, und einige welke Blätter segelten über das Straßenpflaster. Im selben Augenblick verschwand der obere Rand des untergehenden Sonnenballs hinter dem Hügel von Knockdoula, und es wurde Zwielicht. Die Kinder spürten die Veränderung wie einen Schock -und der Anblick des runden Gipfels des Lisnavoura, der jetzt aus der Nähe auf sie niedersah, verstärkte dieses Gefühl noch. Sie riefen den Namen des Bruders, aber ihre Schreie verhallten ohne Antwort. Gleichzeitig meinten sie eine tiefe Stimme sagen hören: »Geht heim! «

Sie schauten sich um, aber da war niemand. Sie fürchteten sich, und Hand in Hand -das kleine Mädchen wild weinend und der Junge grau wie Asche im Gesicht -, liefen sie heim, so rasch sie konnten, um, wie wir gehört haben, ihre seltsame Geschichte zu erzählen.

Mollv Ryan sah ihren Sohn nie wieder. Aber seine früheren Spielgefährten bekamen ihn wieder zu Gesicht.
Manchmal, wenn die Mutter fort war, um bei der Heuernte eine Kleinigkeit zu verdienen und Nelly Kartoffeln für das Mittagessen wusch oder an dem kleinen Bach, der durch die Senke in der Nähe des Hauses fließt, Kleidungsstücke säuberte, schaute Billys hübsches Gesicht zur Tür herein und lächelte sie schweigend an. Und wenn sie dann hinrannten und ihn mit einem Freudenschrei umarmen wollten, zog er sich vorsichtig nach draußen zurück; folgten sie ihm aber dorthin, dann war nirgends eine Spur von ihm.

Dies geschah oft, und jedes Mal waren die Umstände seines Erscheinens ein wenig anders. Manchmal schaute er länger ins Haus, manchmal kürzer, manchmal streckte er die Hand aus, bewegte den Finger zu einer lockenden Geste und winkte den Geschwistern, ihm zu folgen. Aber immer lächelte er, und nie sagte er ein Wort. Und immer war er verschwunden, wenn die anderen die Tür erreichten. Allmählich wurden die Besuche seltener, und nach etwa acht Monaten hörten sie ganz auf, und der kleine Billy, den man nun ganz verloren gab, galt als Toter.

An einem Wintermorgen, anderthalb Jahre nach seinem Verschwinden, machte sich seine Mutter bald nach dem ersten Hahnenschrei nach Limerick auf, um dort Geflügel auf dem Markt zu verkaufen. Das kleine Mädchen lag neben ihrer älteren Schwester, die noch fest schlief . Plötzlich, im grauen Morgenlicht, sah die Kleine, wie sich die Tür öffnete. Billy kam herein und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Es war immerhin hell genug, um zu erkennen, dass er barfuss war, abgerissen aussah, bleich und abgemagert. Er ging geradewegs auf das Feuer zu, beugte sich über die Glut und schien sich wärmen zu wollen.

Die Kleine stieß ihre große Schwester voller Schrecken an und flüsterte: »Wach auf, Nelly, Billy ist heimgekommen! «
Nelly schlief fest weiter, aber der kleine Junge, dessen Hände fast die Glut berührten, wandte sich um und schaute, so schien es der Kleinen jedenfalls, sich ängstlich um. Dann schlich er sich auf Zehenspitzen wieder zur Tür zurück und ging fast lautlos nach draußen. Danach wurde der kleine Junge nie mehr gesehen.

Feendoktoren, wie man die Leute nennt, die in solchen Fällen probate Gegenmittel verkaufen, taten, was sie konnten - vergebens. Pater Tom kam und versuchte es mit jenen Mitteln, die die Kirche zu Gebote hat. Auch das blieb erfolglos.
Für Mutter, Bruder und Schwestern war der kleine Billy tot.
Andere, die von Menschen geliebt worden waren, lagen in geweihter Erde, auf dem alten Kirchhof von Abington, mit einem Stein an der Stelle, an der die Überlebenden niederknien und ein Gebet für den Frieden der Seele des Toten sprechen können. Für den kleinen Billy gab es keine solche Stelle, es sei denn, man hätte den alten Hügel von Lisnavoura dafür genommen, der bei Sonnenuntergang einen langen Schatten bis vor die Tür der Hütte wirft, oder das weiße Mondlicht, das in späteren Jahren seinen Bruder an ihn erinnerte, wenn dieser von der Messe oder dem Markt zurückkam, seufzte und ein Gebet für den kleinen Billy sprach, verlorengegangen vor so langer Zeit und nie mehr gesehen seither.


Dieses Märchen wurde mir von der Geschichtenkiste im Internet zur Verfügung gestellt.