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Die Jungfrau auf dem gläsernen Berg
Märchen aus Österreich - Theodor Vernaleken



Es war einmal ein armes Weib, das hatte einen Sohn, der hieß Hans. Dieser ging einst in den Wald, und als er eine Weile gegangen war, kam er zu einem Teich. Kaum näherte er sich dem Ufer, so sprangen drei wunderschöne Frauen aus dem Wasser, warfen die Hemden über und flogen, in Enten verwandelt, schreiend davon.

Die mittlere der drei Frauen hatte dem Hans besonders gut gefallen. Er ging nach Hause und erzählte das Gesehene seiner Mutter.

Diese sagte: »Geh wieder in den Wald, und bau dir in der Nähe des Teiches eine Hütte.«

Und das geschah. Zur Zeit des Neumonds suchte er fleißig morgens und abends das Ufer des Teiches ab.

Als er eines Abends wieder das Ufer untersuchte, lagen drei Hemden dort. Schnell bemächtigte er sich des mittleren Hemdes, lief damit in seine Hütte und legte es in eine Truhe.

Kaum war er fertig, so wurde an die Tür geklopft. Eine Stimme rief: »Ich bitte Euch, lasst mich ein, ich habe mein Hemd verloren.«

Hans sprang schnell auf, öffnete die Tür und stellte sich dann hinter diese. Das Mädchen trat herein, und durchsuchte schnell den Mantel von Hans, den dieser auf dem Bett hatte liegen lassen. Dann bat es den Hans um sein Hemd. Allein er gab es ihr nicht, sondern ging fort, um seine Mutter zu holen.

Kaum hatte er die Hälfte des Weges zurückgelegt, so fiel ihm ein, dass er die Truhe, in welcher das Hemd lag, nicht zugesperrt hatte. Schnell kehrte er um, aber als er zur Hütte kam, waren Tür und Truhe offen, und das Mädchen war fort. Auf dem Tische lag ein Zettel, darauf stand mit goldenen Buchstaben geschrieben: »Meine Heimat ist auf dem gläsernen Berg.«

Da machte sich Hans sogleich auf den Weg, um den gläsernen Berg zu suchen. Kam er in eine Stadt so rief er laut: »Wisst ihr nicht, wo der gläserne Berg ist?« Allein niemand konnte ihm Auskunft geben.

Einst kam er zu einem großen Haus, aus dessen Eckfenster schaute ein Herr heraus. Hans sagte: »Wisst Ihr nicht, wo der gläserne Berg ist?«

»Ich weiß es nicht, aber vielleicht weiß es einer meiner Knechte«, antwortete der Herr. Er zog eine silberne Pfeife hervor und tat darauf einen lauten Pfiff. Da kamen Bären, Wölfe und nach und nach allerlei Tiere daher. Zuletzt hinkte ein alter Hase auf drei Füßen herbei. »Weißt du, wo der gläserne Berg ist?« fragte ihn sein Herr.

»Freilich weiß ich es«, antwortete der Hase.

»So führe diesen Mann dahin«, sagte der Herr.

Hans ging nun mit dem Hasen fort.

Als sie in einen großen Wald kamen, sagte der Hase: »Geh nur geradeaus, du wirst den Berg schon finden.« Und nach diesen Worten sprang er auf und davon.

Hans musste nun allein wandern. Als er eine Weile gegangen war, sah er ein totes Pferd am Weg liegen. Bei dem Pferd befanden sich ein Bär, ein Wolf, ein Rabe und eine Ameise. Diese Tiere stritten sich um den Leichnam.

Als Hans näher kam, sprach der Rabe: »Lieber Hans, teile das Pferd unter uns.«

Hans machte sich sogleich an die Arbeit. Zuerst schnitt er den Kopf des Pferdes ab und warf ihn der Ameise vor, indem er sagte: »Du kriechst gern in Höhlungen umher, da, nimm den Kopf.« Darauf öffnete er den Leichnam und gab dem Raben die Eingeweide, dem Wolf die Knochen und dem Bären das Fleisch.

Die Tiere waren mit der Teilung zufrieden. Darauf gaben der Bär und der Wolf Hans jeder ein Haar, die Ameise einen Fuß und der Rabe eine Feder.

Die Tiere sprachen: » Wenn du in Not bist, so lege das Geschenk unter die Zunge, und du kannst dich dann in dasjenige Tier verwandeln, von dem das Geschenk herrührt.« Dann entfernten sie sich.

Hans aber ging auf der Straße fort. Als er eine Weile gegangen war, bemerkte er in der Ferne ein Leuchten und Blitzen. Das war der gläserne Berg. Fröhlich ging Hans bis an den Fuß des Berges. Auf dem Gipfel desselben stand ein schönes Schloss. Hans versuchte, den Berg zu ersteigen, aber es war vergebens; er glitt immer wieder ab, denn der Berg war spiegelglatt.

Nun verwandelte er sich in einen Bären und grub mit seinen Tatzen Stufen in den Berg. Allein die scharfen Glassplitter verwundeten ihn, und bald konnte er die Arbeit nicht mehr fortsetzen.

Da verwandelte Hans sich in einen Wolf, um sich mit den Zähnen festzuhalten. Allein auch das ging nicht. Er verwandelte sich daher in einen Raben und flog den Berg hinan.

Als er oben war, sah er das ihm bekannte Mädchen an einem offenen Fenster stehen. Schnell flog er zum Fenster hinein. Das Mädchen sagte: »Meine Mutter ist eine Hexe. Peinige sie auf alle mögliche Weise so lange, bis sie dir erlaubt, mich zu heiraten.« Und als sie das gesagt hatte, ging sie aus dem Zimmer.

Hans aber verwandelte sich in eine Ameise und kroch unter das Bett, in dem die Alte zu schlafen pflegte. Als es dunkel wurde, kam die Hexe und legte sich zu Bett. Und als sie eingeschlafen war, kroch Hans, in eine Ameise verwandelt, ins Bett und biß und kneipte die Alte am ganzen Körper.

So machte er es drei Nächte. Als aber der dritte Tag anbrach, erwischte ihn die Hexe, als er eben aus dem Bett kriechen wollte.

»Ich weiß, dass du keine gewöhnliche Ameise bist«, sagte sie und verwandelte ihn in einen Menschen. »Was willst du?« sprach sie weiter.

»Ich will deine mittlere Tochter heiraten«, antwortete Hans. »Ich will sie dir geben, aber du musst dir das Mädchen auch verdienen«, sagte die Hexe. »Erstens musst du ein Ei austrinken, ohne es zu durchlöchern.« Und sie gab ihm ein Ei und entfernte sich.

Hans verwandelte sich in eine Ameise, biss eine kleine Öffnung in die Eischale und trank den Inhalt des Eis aus. Dann verstopfte er die Öffnung mit Kalk, verwandelte sich in einen Menschen und trug das leere Ei zur alten Hexe.

»Gut«, sagte diese. »Eine Viertelstunde von hier befindet sich ein großer Wald. Diesen musst du binnen drei Tagen umhauen, die Stämme in Stücke zerschlagen und dann aufschichten.«

Hans ging hin und besah sich den Wald. Vom Ansehen war er schon so müde, dass er sich unter einen Baum legte und einschlief. Als er erwachte, sprang er auf, rieb sich die Augen, sah um sich, aber kein Wald war zu sehen. Dagegen lagen etliche tausend Klafter Kleinholz an der Stelle des Waldes.

Da rief die Stimme seiner Braut: »Während du schliefst, habe ich die Arbeit vollbracht. Ich werde dir auch bei der dritten Aufgabe helfen.«

Hans ging nun zur Hexe und sagte ihr, dass er die Arbeit getan habe.

»Gut«, sagte sie. »Trag das Holz morgen auf einen Haufen zusammen. Ich werde dann hinaus kommen, um es anzuzünden. Steht der Holzstoß in lichten Flammen, so musst du mitten ins Feuer springen. Tust du das nicht, so darfst du meine Tochter nicht heiraten.«

Hans ging traurig ins Bett.

Am anderen Tag begab er sich auf den Holzplatz. Emsig schichtete er die Holzscheiter übereinander auf. Kaum war er damit fertig, so kam die Hexe daher, und zündete das Holz an. Als der Scheiterhaufen über und über brannte, nahm Hans einen Anlauf, um ins Feuer zu springen. Allein sobald er in die Nähe der Flammen kam, blieb er stehen. So machte er es mehrmals.

Da hörte er plötzlich die Stimme seiner Braut, welche rief: »Spring! Spring!«

Nun nahm sich Hans zusammen und sprang mitten in die Flammen. Die glühenden Kohlen flogen auseinander, und Hans blieb unversehrt. Wo eine Kohle hinfiel, erhob sich ein Haus. Und so entstand eine große, schöne Stadt. In der Mitte derselben, dort, wo der Scheiterhaufen gestanden hatte, befand sich ein großes, schönes Schloss. Dieses war aus Karfunkel erbaut.

Am Tor des Schlosses stand Hans' Braut. Hans heiratete nun und wurde Herr des Schlosses und König der Stadt. Er nahm seine arme Mutter zu sich und pflegte sie in ihrem Alter.

Wer war glücklicher als Hans! Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er gewiss noch heute.