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Der Hirtenjunge am Brunnen
Christian Tobias Krug
Es war einmal ein kleiner, armer Junge, dem waren Vater und Mutter gestorben,
und er war so arm, dass er kein Bett hatte, um darin zu schlafen, und noch nicht
einmal mehr ein Stück Brot, um sich satt essen zu können.
Da er aber trotz allem fleißig und freundlich war, fand er Arbeit bei einem
Bauern, wo er die Schafe hütete. Jeden Morgen in der Frühe, wenn die Sonne noch
nicht ganz aufgegangen war und frischer Tau auf den Gräsern lag, machte er sich
auf und führte die Herde hinaus auf die grüne Wiese. Zufrieden blökten die
Schafe und machten sich über das gute, saftige Gras her. Der Junge selber pfiff
ein Liedchen, kraulte die Lämmer hinter den Ohren, und wenn es mittags heiß
wurde, setzte er sich in den Schatten eines Baumes.
Als er gegen Abend dann nach Hause kam, teilte der Bauer sein Essen mit ihm und
gab ihm einen Platz in der Scheune, wo er sich aus dem weichen Heu ein Lager für
die Nacht herrichten konnte.
So ging es denn eine ganze Zeit lang so und der Bauer war recht glücklich mit
seinem Hirtenjungen, denn die Schafe gaben stets schöne, weiche Wolle ab, die
sich auf dem Markt ganz prächtig verkaufen ließ.
Jedoch war der Bauer bereits ein alter Mann, dessen Haare schon lange grau
geworden waren, und er merkte, dass es bald mit ihm zu Ende ging. Und als er
schließlich die Augen schloss und starb, da wurden der Hof und die Herde
verkauft und der Junge konnte nicht länger dort bleiben.
Da nahm er einen Krug mit Wasser und ein Stückchen Brot und ging sonst mit
nichts als den Kleidern, die er am Leibe trug, hinaus in die Welt. Nicht lange,
da kam er in eine Stadt und bat dort um Arbeit, aber niemand wollte ihn haben.
In jedem Dorf und jeder Stadt, die er durchquerte, klopfte er an die Türen,
fragte Bäcker und Bauern, Mägde und Schneider, doch nie hatte er Glück und sie
alle jagten ihn wieder davon.
Als er nun schon eine ganze Weile so umhergewandert war, kam er eines Tages in
einen tiefen Wald, in dem die Bäume so dicht standen, dass kaum ein Sonnenstrahl
zwischen den Ästen hindurchlangte. Da entdeckte er eine große, dunkle Höhle und
weil er müde von seiner Reise war, dachte er bei sich: Ich will mich hineinlegen
und eine Zeit lang schlafen. Wenn ich wieder aufwache, wird die Welt gleich viel
freundlicher aussehen.
Und er kroch in die Höhle, legte seinen Kopf auf die weiche Erde und schlief ein
– und schlief für eine sehr, sehr lange Zeit.
Er erwachte erst wieder, als sich ein Käfer, der in der Höhle wohnte, auf seine
Nase setzte, und wie er die Augen aufschlug, fühlte er sich erholt und munter.
Als er aber die Höhle verließ, merkte er, dass die Erde währenddessen von einem
Krieg zerstört worden war. Wiesen und Felder waren verheert, die Wälder
niedergebrannt, die Tiere getötet, die Städte lagen in Trümmern und die Dörfer
waren verwüstet.
Da ging der Junge und suchte die Menschen und suchte Tag und Nacht, doch es ließ
sich weit und breit kein anderes Gesicht blicken. Alles war tot und es lebte
niemand mehr auf der Welt. Und weil auf der Erde niemand mehr war, ging der
Junge hinauf in den Himmel und kam schließlich zur Sonne. Doch diese war so heiß
und fürchterlich und sengte ihm die Kleider an, dass er rasch wieder davonlief.
Da sah er von Weitem, wie ihm der Mond so freundlich entgegensah. Als er aber
näher kam, war der Mond kalt und grausig, und wie er den Jungen bemerkte, sprach
er mit böser Stimme: „Wer mich in meiner Ruhe stört, den fresse ich mit Haut und
Haaren!“
Darauf rannte der Junge flink davon und machte sich auf den Weg zu den Sternen,
denn er hoffte, diese seien ihm freundlich gesonnen. Die Sterne aber waren viel
zu sehr mit sich selbst beschäftigt, leuchteten stumm vor sich hin und
antworteten ihm nicht.
Da kehrte er auf die Erde zurück und kam letztendlich an einen großen Brunnen
aus grauem Stein. Der Brunnen war so groß wie ein Mühlrad, seine Steine kalt und
leblos und wenn man in den Brunnen hineinsah, so war er so dunkel und tief, dass
er weder Grund noch Boden zu haben schien.
Der Junge setzte sich an den Brunnenrand, legte den Kopf in den Schoß und
weinte. Und dort sitzt er noch heute und ist ganz allein wie noch so viele
andere Kinder auf der Welt.
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