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Die Geister des Schicksals
Marion Wolf
„An der Westküste Afrikas, wo die Savanne in Wüste übergeht,
liegt eine einsame Bucht, wohin sich keine Menschenseele verirrt. Eine schmale
Landzunge erstreckt sich dort in den Atlantik und mündet in einen runden Platz,
der von Felsterrassen umrundet ist wie ein Amphitheater. Zwischen den Steinen,
die dort zum Sitzen einladen, wuchert der Ginster und außen herum fallen
zerfurchte Klippen jäh ab in die wilde Brandung des Meeres. Kein Laut, der hier
gesprochen wird, dringt je an ein menschliches Ohr. Nur der Wind trägt die
Geheimnisse um den Erdball − und ihm hab’ ich die Geschichte in einer langen
Sturmnacht abgelauscht:
Im Schicksalsjahr der Ewigkeit trafen sich an dem geheimen Ort
die Geister der Bestimmung um unter sich auszuhandeln, wer wann wo die Geschicke
der Menschheit lenken dürfe. Vor der Neumondnacht, in der das Gespräch
stattfinden sollte, zogen riesige Gewitterwolken auf, verdeckten die Sonne und
ein Sandsturm tobte die Küste entlang.
Die Nacht schien hereingebrochen und so fanden sich einige Geister vorzeitig
ein: Als Erste tauchte die Zuverlässigkeit auf und richtete ihrer Schwester
Wahrheit einen Thron aus duftenden Dünengräsern. Bald erschien die
Himmelskönigin mit ihrem Kind, der Unschuld, im Arm und wunderte sich, wo denn
die anderen Geister blieben. Sie wünschte Freunde zu finden, um die Welt zu
retten...
Kaum hatten sich die Tugenden an den Klippen des Weltenrates
niedergelassen, rauschte die Pracht heran und rollte einen roten Teppich aus für
ihre Hoheit, die Macht. Diese stolzierte in einem Orden behängten Staatsgewand
daher und trug eine goldene Maske − zum Schutz vor dem Sand wie sie
behauptete...
Die bescheidene Wahrheit staunte über die Größe der Macht und so
hatte diese ein leichtes Spiel, die Schöne für sich zu gewinnen. Geblendet von
der Pracht reichte die Wahrheit der Macht ihre Hand. Feierlich verknüpften sie
ihre Bande –– noch ehe Muhme Weisheit kam und die Tochter hätte warnen können...
Die Wahrheit stellte sich vor, welch guten Einfluss sie mit der
Macht gepaart auf die Welt haben würde, während die Macht sich darauf freute,
die Wahrheit mit der Unschuld ins Schlepptau zu bekommen – schließlich hatte sie
einen zweifelhaften Ruf in der Welt: Man kannte sie nur mit der Habgier und der
Gewalt im Bunde. Doch von diesen bösen Schwestern ahnte die Wahrheit noch
nichts. Voll Freude über ihre glückliche Vereinigung wollte das Paar die Ankunft
der übrigen Geister nicht mehr abwarten und bat die Zuverlässigkeit, sie vor dem
Rate zu entschuldigen. Bevor die entsetzte Schwester diesem Treiben Einhalt
gebot, gesellte sich die Euphorie dazu, lud das ungleiche Paar auf ihren
Siebenmeilenschlitten und schon glitten sie im Siegeszug hinauf zum Gipfel des
Erfolges. Dort hielt der Zweifel ewige Wacht und äußerte seine Befürchtung, die
Macht wolle der Wahrheit nicht dienen, sondern sie für ihre Zwecke benutzen.
Irritiert verließ die hehre Königin den Schlitten und die
Euphorie machte sich schnell aus dem Staub. Nun schleppte die Macht ihre
Gefährtin auf die Schattenseite des Berges, wo schon ihre Sippe lauerte: Die
Gewalt knebelte die Wahrheit und band sie der Macht auf den Geschäftsbuckel. Die
Habgier ergriff die weinende Unschuld und verschleppte sie zu ihrem Mann, dem
Betrug.
Inzwischen hatten die übrigen guten Geister von dieser unseligen Verbindung
erfahren und stellten schlimme Befürchtungen an. Nichts Gutes ahnend, jagte die
Entrüstung der Macht hinterher und schoss blindwütig ihre Giftpfeile ab. Dabei
traf sie jedoch nur die sprachlose Wahrheit und verwundete sie schwer. Zum Glück
ereilte sie bald die Vernunft, bat um Waffenstillstand und befreite die
verletzte Wahrheit von den Stricken der Macht. Ohne Rückendeckung war die Macht
jedoch den Giftpfeilen der Entrüstung ausgeliefert und floh hinter den
Schutzschild der Heuchelei.
Die Wahrheit schleppte sich zurück auf den Pfad der Tugend, wo sie erschöpft
zusammenbrach. Da kam der Mut des Wegs, reichte ihr eine Stärkung und hob sie
auf sein Pferd. Sieben Tage ritten sie durch einen dunklen Tann und wenn
er sie abends ins weiche Moos bettete, verband der Mut ihre Wunden mit Kräutern
und brachte frisches Quellwasser. Morgens teilte er sein Brot mit ihr und als
die Wahrheit genesen war, wandelten sie durch das Tal der Harmonie. An dessen
Ende lag ein lichter Eichenhain, über dem eine trutzige
Burg wachte. „Dies ist mein Reich“, erklärte Meister
Mut der Himmelskönigin, „darf ich für immer Dein Beschützer sein?“ Die Wahrheit
reichte ihrem Retter lächelnd die Hand und versprach ihm ewige Treue. Da führte
er sie heim und sie feierten Hochzeit. Glücklich residierten sie auf der Burg
und bekamen zwei Kinder: den Glauben und die Zuversicht. Am siebten Geburtstag
des jüngsten Kindes erschien Schwester Sehnsucht und erinnerte die Wahrheit an
ihr verlorenes Kind, die Unschuld. Dem Mut aber überbrachte sie eine Botschaft
der Entrüstung, die um Hilfe bat. So trennte sich das Paar für unbestimmte Zeit:
Ritter Mut zog aus, um mit der Entrüstung gegen Macht, Gewalt und Habgier zu
kämpfen. Die Wahrheit nahm den Glauben und die Zuversicht bei der Hand und
wanderte, von der Sehnsucht getrieben, in die Welt, um ihre Unschuld zu suchen.
Diese war den Fängen der Habgier entkommen,
als der Betrug das Himmelskind für einen Batzen Gold verkaufte. Die Käuferin
behielt das göttliche Mädchen jedoch auch nicht lange − denn wer glaubt einem
Laster, dass es die Unschuld geboren hätte? So wurde das gestohlene Kind in der
Schattenwelt herum gereicht, bis es keiner mehr haben wollte. Schließlich packte
die Hinterlist die Geisel und brachte sie an die Grenze. Dort wohnte ihre Tante,
die Gerechtigkeit. Diese tauschte das Kind nur zu gern gegen die Eitelkeit,
welche sich ins Reich der Tugend geschlichen hatte.
Nachdem die Unschuld im Bade den Gestank des Schattenlandes abgewaschen hatte,
brachte ihr die Gerechtigkeit ein weißes Kleid aus chinesischer Seide und
bereitete ihr eine süße Speise.
Elf Tage weilte das Kind im Haus an der Grenze, am zwölften fuhren sie in einem
silbernen Wagen über den Fluss des Vergessens zur Muhme Weisheit. Diese reichte
der Enkelin einen Granatapfel zum Willkomm und schickte sie in ihren Garten. Bei
einer Tasse Tee besprach sie dann mit der Gerechtigkeit die Weltlage:
„Die Zeiten sind schrecklich“, sagte die
Weisheit, „die Ideologen belagern mein Haus und stehlen meine Teller.“
„Wozu brauchen sie die denn?“ wollte die Gerechtigkeit wissen. „Um der
Menschheit darauf ihr Selbstgebackenes zu servieren.“ „Und wie kommen die
Gelehrten auf so eine dämliche Idee?“
„Die Eitelkeit, jene aufgeputzte Hure aus dem Schattenreich, hat sie geküsst.
Seither verlangen sie nicht mehr nach meinen Gaben, sondern nur noch nach meinem
Geschirr! Von der Fassade meines Hauses brechen sie auch schon Teile ab, um
damit ihre Elfenbeintürme zu schmücken!“ Die Gerechtigkeit dachte über diese
Zustände nach: „Dann öffne ihnen doch das Tor zu Deinem Garten. Wenn sie Früchte
von den Bäumen der Erkenntnis essen, sehen sie ein, wie unsinnig ihr Begehr
ist.“ Die Weisheit nickte: „Das habe ich mir auch schon überlegt, doch so viele
Erkenntnisse auf einmal kann keiner recht verdauen. Und wenn sie nun die
Unschuld sehen, bevor sie verstanden haben, worauf es im Leben wirklich ankommt,
wäre das Kind erneut in Gefahr! Diesen eingebildeten Klugscheißern traue ich
inzwischen alles zu!“
Die Gerechtigkeit verstand: Die Unschuld durfte nicht noch mal
missbraucht werden... Also schlug sie Folgendes vor: „So reise denn Du, liebe
Mutter, mit dem Kind zur Urahne Gnade ins Land des Friedens. Ich werde derweilen
die Gelehrten von ihren Hirngespinsten heilen. Denen bereite ich Cocktails aus
Deinen Früchten, dass ihnen die Augen übergehen!“ Die Gerechtigkeit rieb sich
schon voll Vorfreude die Hände...
Muhme Weisheit nickte, wiegte ihr Enkelkind in Schlaf, nahm ihre
Zauberkugel aus Opal und wünschte sich mit der Unschuld im Arm ins Haus der
Gnade. Am nächsten Tag erwachte das Kind im sicheren Hort auf der Insel des
Friedens.
Unterdessen servierte die Gerechtigkeit im Haus der Weisheit den Gelehrten
Salate aus den Früchten der Erkenntnis, um sie gegen die Verlockungen der
Eitelkeit zu feien. Als dies vollbracht war und sie gerade das Tor zusperren
wollte, klopfte die Wahrheit in Begleitung von Sehnsucht, Glauben und Zuversicht
ans Tor. Zu ihrer Verwunderung öffnete Schwester Gerechtigkeit die Pforte und
berichtete vom Verbleib der Unschuld. Nachdem sich die vier Reisenden ausgeruht
und gestärkt hatten, mussten sie den langen Weg der Glaubwürdigkeit ins Land des
Friedens pilgern. Wie viel Mühsal hatte die Wahrheit nun auf sich zu nehmen,
weil sie sich einst leichtfertig der Macht versprochen hatte! Die Pilgerfahrt
steckte voller Gefahren: Sieben Tage wanderte die Gesellschaft durch die Wüste
der Verdammnis und in sieben Wüstennächten tanzten die Gespenster der
Verzweiflung um die Reisenden. Doch was konnten sie der Wahrheit anhaben, da sie
den Glauben und die Zuversicht bei sich hatte? Fehlte ihr der Mut, bewahrte sie
Schwester Sehnsucht davor, aufzugeben.
Als die Wüste hinter ihnen lag, hieß es den See des Vergessens zu überqueren,
ohne seine Wasser zu berühren, sonst würden sie dort für ewig herum irren.
Vorsichtig nahm die Wahrheit das Ruder in die Hand, kam aber kaum voran. Da
hielt der Glauben seinen Wanderstab in die Höhe, die Zuversicht band ihre
Schürze daran und die Sehnsucht blies ins Segel, was die Puste hergab. Wie von
Zauberhand glitt nun das Boot über die Wellen. Bald hatte es das abgründige
Gewässer überquert und landete sicher im Hafen der Erlösung auf der Insel des
Friedens. Hier galt es noch eine weitere Prüfung im Tal der Wiederkehr zu
bestehen:
Sie mussten hindurch wandern, ohne die Blumen am Wegrand zu
pflücken oder von den Früchten an den Bäumen zu essen, sonst würden sie ihr Ziel
nie erreichen. Also nahm die Wahrheit ihren Glauben und ihre Zuversicht bei der
Hand und schritt vorwärts, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Die Sehnsucht
erlaubte ihnen keine Rast und bald kamen sie zur Quelle der Hoffnung. Dort
spielte die Unschuld in den Strahlen der Abendsonne. Als sie die verschollene
Mutter gewahrte, stürzte sie mit einem, Freudenschrei in ihre Arme und begrüßte
sodann erstaunt ihre jüngeren Geschwister. Voller Freude liefen sie dann zum
Haus der Gnade.
Diese nahm die Wahrheit mit dem Glauben und der Zuversicht herzlich bei sich auf
und reichte ihr den Trunk der Vergebung. Da ihre Mission nun erfüllt war,
verabschiedete sich die Sehnsucht und flog zurück ins Reich der Liebe. „Danke“,
rief ihr die Wahrheit hinterher, „ohne Dich hätte ich meine Unschuld niemals
wiedergefunden!“
Nun trat die Weisheit zur Tür herein, begrüßte die Tochter mit den beiden
jüngeren Enkeln und verteilte das Brot der Erkenntnis. Was hatten sie sich alles
zu erzählen...
Als die Unschuld mit dem Glauben und der Zuversicht in seligem Schlummer lag,
trat die Wahrheit hinaus in die Sommernacht und gelobte feierlich unterm
Sternenhimmel, die Macht und deren hinterhältige Gefolgsleute für alle Zeit zu
meiden. Nie mehr wollte sie ihre Unschuld verlieren oder sich von bösen Mächten
knebeln und auf deren Geschäftsbuckel fesseln lassen. Nach dem Gelöbnis hatte
sie ihren inneren Frieden wiedergefunden.
Einen Monat erholten sie sich im Land des Friedens, dann bat die
Wahrheit Mutter Weisheit, mit ihr in die weite Welt zu ziehen. Diese sagte gern
zu, damit die Wahrheit nicht mehr vom rechten Weg abkam. Zum Abschied schenkte
ihnen die Gnade noch einen Krug, in dem das Wasser der Hoffnung nie versiegt.
So machten sich die fünf auf den Weg, um den Mut zu suchen: Der Glauben und die
Zuversicht schritten Hand in Hand voran, die Wahrheit trug das Wasser der
Hoffnung auf dem Kopf und ließ ihre Unschuld nicht mehr aus den Augen. Die
Weisheit hatte einen Korb mit dem Brot der Erkenntnis am Arm.
Ob die Wahrheit
ihren Mut noch findet,
bevor die Menschheit völlig
von der Macht besessen,
von der Habgier zerfressen
und von der Gewalt
unterjocht ist?
Es heißt, die Weisheit verteile das Brot der Erkenntnis unter
den Leuten und die Wahrheit sprenge das Wasser der Hoffnung auf die
Verzweifelten.
Doch die verführerische Bequemlichkeit
lockt allüberall mit den Brause-Bonbons der Illusion.
Mir ist schon ganz schlecht von dem süßen Gift...
Habt ihr nicht auch Lust auf ein herzhaftes Stück Brot? |