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Die Früchte des Birnbaums
Auf dem Marktplatz einer Kleinstadt stand ein alter Birnbaum, der trug sehr seltene und köstliche Früchte. Da sein Wipfel schon den Rathausfirst überragte, kraxelten nur noch die Mutigsten an seinem Stamme hoch, um die Birnen zu ernten. Damit machten sie ein gutes Geschäft. Der Baum war ungeheuer stolz, dass nur die Wagemutigsten ihn erklommen und nur die Reichsten seine Früchte genossen. Hochmütig streckte er sich immer höher, ließ seine niederen Äste verdorren und ward schier unerreichbar. Als ihn keiner mehr zu erklimmen wagte, versammelten sich die Menschen zur Reifezeit unter seinem glatten Stamme und beteten ihn an, doch einige seiner saftigen Birnen fallen zu lassen. Der Birnbaum war jedoch zu eingebildet, seine Köstlichkeiten preiszugeben. So blieben die reifen Früchte an den Ästen hängen, verschrumpelten und verfaulten. Als es winterte, jagte der Nordwind mit eisiger Sense vorbei und schnitt die leblosen Früchte ab. Als die Frühlingssonne den Schnee schmolz, kamen Fuhrwerke die Straße entlang und die Pferde ließen ihre Bollen neben die vergammelten Birnen fallen. An Walpurgis fegten die Anrainer die modrigen Birnen dann mitsamt den Pferdeäpfeln vom Pflaster und vergruben sie als Dung unter die Rosen. Der Birnbaum verging fast vor Schmach und beschloss, in diesem Jahr seine Birnen abzuwerfen, wenn die Menschen wieder kämen und ihn anbeteten. Doch diese Einsicht kam zu spät: In selbiger Nacht zogen Burschen voll des Starkbieres vom Wirtshaus heim und wussten vor Übermut nicht, was sie tun sollten: „Seht Euch den stolzen Birnbaum an“, rief einer, „sein Stamm ist glatt wie ein Aal und seine Krone streckt er hoch wie die Kirchturmspitz. Der braucht mal einen Denkzettel!“ „Stimmt“, rief ein andrer, „seine Früchte wirft er nicht mal ab, wenn sie überreif sind!“ Einer der Kumpane torkelte hinzu, sah am Stamme hoch und rief: „Dann lasst ihn uns doch einkerben! Ist Birnenholz nicht leicht zu schnitzen?“ „Hurra“, schrieen sie im Chore, zogen ihre Messer und hieben dem Baum so viele Kerben in den Stamm, dass man bis zur Krone hochsteigen konnte. Der Birnbaum ächzte gewaltig – doch was half es ihm? Die rohen Gesellen verstanden seine feine Sprache nicht und er musste die Marter ertragen. Als sich das Volk zum Maitanz traf, sah jeder, dass der Baum seine Unversehrtheit eingebüßt hatte. Die Leute lachten über den Schelmenstreich, zeigten mit Fingern auf ihn und meinten, das geschähe ihm recht. Da ließ der Birnbaum seine Zweige hängen und vergaß das Blühen. Abends schien die Sonne schräg auf den Stamm und warf lange Schatten. Die Kerben erschienen nun riesengroß und der Birnbaum glaubte, er sei für sein Lebtag geprägt. Verzweifelt weinte er all sein Harz in die klaffenden Wunden – doch nun kam es noch schlimmer: Ein Krämer kratzte das Harz heraus und kochte Lack davon. Dann kraxelten Buben die Baumtreppe hoch. So ging das Tag für Tag. In seiner Not zog der Baum allen Lebenssaft aus den Kerben, denn auf dem trockenen Holze spürte er die Tritte nicht. Zur goldenen Herbsteszeit begegneten die Leute dem Birnbaum wieder mit mehr Respekt, denn sie hofften auf eine gute Ernte und diesmal konnte ja jeder die Krone erreichen. Es dauerte jedoch nicht lang, bis sie merkten, dass es in diesem Jahr keine Birnen gab. Da gingen sie ihm enttäuscht aus dem Weg und manche munkelten, man solle ihn doch gleich zu Brennholz zerhacken. Im kommenden Winter schlichen die Katzen im Dunkeln an den Kerben hoch und fraßen schlafende Vögel, die sich in der Krone sicher wähnten. Der Baum schämte sich, den kleinen gefiederten Freunden keinen Schutz mehr bieten zu können. Bald hatte der Schnee die Welt in ein weißes Kleid gehüllt. Die besinnliche Zeit begann. Mädchen schritten mit Lichterkronen auf dem Haupt über den Marktplatz und steckten Kerzen in die Äste der Bäume. An dem geschändeten Birnbaum aber gingen sie achtlos vorbei. Nur das kleinste Mädchen blieb an seinem Stamm stehen, sah in die hohe Krone hinauf und sagte: „Lieber Birnbaum, wenn ich Deinen Kerben ein Licht aufsetze, brennst Du womöglich ab und das wäre schade. Vielleicht könntest Du hier unten ein Zweiglein treiben, damit ich Dir nächstes Jahr ein Licht aufstecken kann?“ Dann küsste sie den Birnbaum in die untersten Kerben und lief weiter. Den Baum durchströmte dabei ein so warmes Gefühl, dass in seinem Inneren ein Wunder geschah... Im Frühling tanzten die Menschen wieder in den Mai. Da kam das kleine Mädchen, um den Birnbaum zu begrüßen. Und siehe, dort wo sie ihn winters geküsst hatte, trieben kleine Zweige mit winzigen Blättchen. „Oh wie schön!“ rief die Kleine und küsste ihn in die nächst höheren Kerben. Dann tanzte sie vergnügt um den Baum herum und strahlte zur Krone hinauf. Da platzten 1000 Knospen und 1000 weiße Blüten luden die Bienen zum Hochzeitsmahle. Alles Volk strömte herbei, um den Blütentraum zu bestaunen und der Bürgermeister ließ sogleich einen Zaun um den Birnbaum ziehen, damit die viel versprechende Blütenpracht nicht beschädigt würde – schließlich wollte man im Herbst wieder die köstlichen Früchte ernten...
Als der Oktober
die Blätter rotgold färbte, kam die Feuerwehr und pflückte 990 Birnen. Die
Kinder strömten herbei, jedes bekam eine Birne und weil die so süß schmeckten,
tanzten sie vor Freude um den Baum herum. Welch fröhlicher Erntedank! Nie war
der Birnbaum so froh gewesen... Im Schlosspark bekam der alte Birnbaum einen Ehrenplatz und übers Jahr heiratete der König seine Gärtnerin. Warum er das tat? Nun, sie hat ihm all seine Sorgen einfach weggeküsst... |
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Dieses und weitere Märchen von Marion Wolf im neuen Buch, erschienen bei ShakerMedia: Märchen im Spiegel der Zeit - 51 Fabeln, Parabeln, Allegorien, Mythen, Utopien siehe: http://bit.ly/dkbFHH Dieses Märchen wurde mir von Marion Wolf zur Verfügung gestellt. Das Copyright dieses Märchens liegt bei der Autorin: http://dichterseele.beepworld.de Das Kopieren in andre Webseiten oder Foren ist nicht gestattet.
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